Handelsblatt - 07.04.2020

(Elle) #1

Catherine Calderwood: Die Gesundheitsexper-
tin hat ihren eigenen Ratschlag nicht befolgt.


dpa

Catherine Calderwood


Rücktritt nach


Corona-Fauxpas


EDINBURGH Die
oberste Gesundheits-
expertin der schotti-
schen Regierung, Ca-
therine Calderwood,
ist nach Verstößen ge-
gen die eigenen Aus-
gangsbeschränkungen
in der Coronakrise zu-
rückgetreten. Nach-
dem ihr Fehlverhalten
am Wochenende auf
große Empörung in
Großbritannien gesto-
ßen war, zog Calder-
wood die Konsequen-
zen. Die Expertin gab
zu, an zwei aufeinan-
derfolgenden Wochen-
enden zu einem Land-
haus ihrer Familie ge-
fahren zu sein. Zuvor
hatte die Zeitung
„Scottish Sun“ Fotos
der Expertin von ei-
nem beliebten Aus-
flugsziel an der Küste


veröffentlicht. „Ich ha-
be den Ratschlag nicht
befolgt, den ich ande-
ren gegeben habe“,
sagte Calderwood bei
einer Pressekonfe-
renz. Die Medizinerin
hatte die wegen der
Coronavirus-Pande-
mie angeordneten Auf-
lagen immer wieder
verteidigt und zu de-
ren Einhaltung aufge-
rufen. Die schottische
Polizei teilte mit, Cal-
derwood sei von Be-
amten ermahnt wor-
den, die Auflagen ein-
zuhalten. Regierungs-
chefin Nicola Sturgeon
hatte sich zunächst ge-
gen einen Rücktritt
von Calderwood als
Chief Medical Adviser
wegen deren Fach-
kenntnissen ausge-
sprochen. dpa

Christof Kerkmann Düsseldorf

D


as Wochenende ist für Hans-
Christian Boos abgeschafft. Er
arbeitet derzeit durch, oft bis
spät in den Abend. „Ein Tag
fühlt sich an wie eine ganze
Woche“, berichtet er. Doch darauf nimmt er
keine Rücksicht, das Projekt muss fertig wer-
den: Bei der Bekämpfung der Corona-Pande-
mie ist Zeit ein entscheidender Faktor.
Boos ist Gründer der IT-Firma Arago, der-
zeit beschäftigt ihn aber ein anderes Projekt:
Auf seine Initiative entwickeln 130 Program-
mierer und Wissenschaftler eine Technolo-
gie, die es ermöglicht, die Infektionswege des
Coronavirus zu verfolgen – und zwar ohne
dass die Bürger sich gegenüber den Behör-
den offenbaren müssen, wie es Datenschüt-
zer bei solchen Lösungen befürchten.
Pepp-PT – so der Name – könnte ein ent-
scheidender Faktor sein, um die Pandemie
einzudämmen und so in den nächsten Wo-
chen wieder eine Art Normalität zu ermögli-
chen, zumindest wenn sich ausreichend Bür-
ger darauf einlassen. Voraussichtlich an die-
sem Dienstag oder am Mittwoch wird die
technische Plattform veröffentlicht, auf der
Initiativen in den verschiedenen EU-Mitglied-
staaten die an die lokalen Gegebenheiten an-
gepassten Apps entwickeln können.
Boos, der sich Chris nennen lässt, ist in sei-
nem Element, der Informatiker vertieft sich
gern in komplexe technische Probleme. Da-
für hat er jetzt wieder mehr Zeit: Seit Anfang
März ist Boos nicht mehr Vorstandschef, son-
dern Technikchef von Arago – an die Spitze
ist Louise Öström getreten, die zuvor bei
VMWare das europäische Cloud-Geschäft ver-
antwortet hatte. Die erfahrene Managerin soll
für „Skalierung“ sorgen. „Das kam genau
rechtzeitig“, sagt der Gründer mit Blick auf
sein aktuelles Projekt.

Frühe Warnung dank Daten
Die Notwendigkeit für eine solche Software
erkannte Boos früh. In Deutschland gab es zu
dem Zeitpunkt zwar nur wenige Infektionen,
doch die Zahl wuchs exponentiell wie auch
anderswo schon. Seine Erkenntnis: „Es geht
nicht gut aus, wenn man nichts dagegen tut.“
Also initiierte er das Projekt, an dem sich
mittlerweile Wissenschaftler und Forschungs-
einrichtungen aus acht Ländern beteiligen,
darunter das Robert Koch-Institut (RKI).
Das System soll Kontaktpersonen von Co-
rona-Patienten frühzeitig warnen – und so da-
für sorgen, dass sie sich isolieren, selbst
wenn sie noch keine Symptome entwickeln.
„Die Frage war: Geht das auch, ohne die Pri-
vatsphäre aufzulösen?“, sagt Boos. Das The-
ma ist ihm wichtig. Die Antwort lautet: Ja, das
geht. Die Software weist den Nutzern eine zu-
fällige, pseudonyme Nummer zu, die keinen
Aufschluss über die Person gibt. Zudem wer-
den die Daten später automatisch gelöscht.
Dass solch eine Initiative auf Boos zurück-
geht, ist kein Zufall. Er ist ein Nerd, aber kei-
ner, der nur die Technik im Blick hat. Nach
dem Abitur studierte er Informatik, besuchte
indes nebenbei Vorlesungen in englischer Ro-
mantik. Seine T-Shirts, die er auch bei Termi-
nen mit Ministern und Professoren anzieht,
zieren Anspielungen auf das Gedankenexpe-
riment „Schrödingers Katze“ und die Kreis-
zahl Pi, aber auch Sprüche wie „Denken ist

wie Google, nur krasser“. Boos gründete Ara-
go 1995 mit seinem Onkel. Zunächst fokus-
sierte sich die Firma auf IT-Management und
Beratung. 2014 begann die Arbeit an der
Plattform Hiro. Diese ermöglicht Unterneh-
men mithilfe Künstlicher Intelligenz, Ge-
schäftsprozesse zu automatisieren, etwa in
der IT. Als der Hype um die Technologie be-
gann, konnte Boos sie eingängig und humor-
voll erklären. Seit 2018 tut er das im Digitalrat
der Bundesregierung, wo er auch die Initiati-
ve für Pepp-PT startete.
Wie das Geschäft von Arago läuft, legt Boos
nicht offen. Die Zahl der Aufgaben, die über
die Plattform abgewickelt werde, wachse „ex-
ponentiell“, sagt er lediglich. Zu den Kunden
zählt der Netzbetreiber Swisscom, der die
Technologie auch an seine Kunden verkauft,
zu den Investoren die Private-Equity-Gesell-
schaft KKR. Laut der letzten verfügbaren Bi-
lanz verzeichnete das Start-up 2017 einen Jah-
resfehlbetrag von 4,9 Millionen Euro, was in
der Wachstumsphase nicht ungewöhnlich ist.
Die neue Chefin Öström soll nun dafür sorgen,
dass sich die Arbeit von Boos bezahlt macht.

Hans-Christian Boos


Rechtzeitiger Wechsel


Der Gründer hat den Chefposten bei Arago abgegeben – nun kann


er Technologien zur Bekämpfung der Corona-Pandemie entwickeln.


Hans-Christian Boos:
Er gründete Arago
199 5 zusammen mit
seinem Onkel.

Lemrich für Handelsblatt

Es geht nicht


gut aus,


wenn man


nichts dagegen


tut.


Hans-Christian Boos
Gründer der
IT-Firma Arago

Samih Sawiris


Ägypter greift nach


FTI Touristik


MÜNCHEN Der ägypti-
sche Milliardär Samih
Sawiris, 63, plant,
Europas drittgrößten
Urlaubskonzern FTI
Touristik mehrheitlich
zu übernehmen. Das
geht aus einem Prüf-
antrag beim Bundes-
kartellamt hervor, den
Sawiris Luxemburger
Zwischenholding
SOSTNT am 31. März
gestellt hat. Der An-
trag dürfte mit den
Rettungsbemühungen
um den Münchener
Reiseveranstalter zu-
sammenhängen. Das
Hilfspaket, an dem
sich der Bund, das
Land Bayern und die
Hausbank Unicredit
beteiligen, sieht näm-
lich gleichzeitig ein fi-
nanzielles Engage-
ment der Gesellschaf-


ter vor. Bislang gehört
das Unternehmen zu
etwa zwei Dritteln der
Familie des Gründers
Dietmar Gunz, das
weitere Drittel liegt
bei Sawiris. Eine FTI-
Sprecherin wollte sich
nicht dazu äußern,
mit welchen Beträgen
sich die jeweiligen Ge-
sellschafter an der Fi-
nanzierung beteiligen.
Die Familie Gunz ist
mit dem Ehepaar Sa-
wiris eng befreundet.
Samih Sawiris, kopti-
scher Christ, der in
Berlin studierte und
perfekt Deutsch
spricht, steuert über
seine Orascom Deve-
lopment Touristikakti-
vitäten im Nahen Os-
ten, in Andermatt und
Montenegro. Chris-
toph Schlautmann

Namen


des Tages


DIENSTAG, 7. APRIL 2020, NR. 69
46


Deborah Birx

Dr. med. Klartext


A


m 27. Februar ernannte US-Vizeprä-
sident Mike Pence Deborah Birx zur
Koordinatorin der Corona-Taskforce
des Weißen Hauses. Anschließend dauerte
es nicht lange, bis eine Regionalzeitung ein
altes Zitat von Birx im Archiv gefunden hat-
te. „Ich mag Felsen, sie sind beständiger als
Menschen“, wird Birx im Jahr 1972 zitiert.
Da war Birx noch ein Teenager und hatte ge-
rade einen Preis für ihr Wissenschaftspro-
jekt über Fossilien erhalten.
Wenn die mittlerweile 64-jährige Birx
beim täglichen Briefing ihrer Taskforce hin-
ter dem Rednerpult steht, verkörpert sie tat-
sächlich so etwas wie den Fels der Bestän-
digkeit zwischen den anderen Protagonis-
ten. Da ist zum einen der sprunghafte
Trump selbst. Er nutzt das Briefing, das in
den USA von allen wichtigen Nachrichten-
sendern übertragen wird, vor allem als Fo-
rum für seine Monologe. Leitmotiv: wie er,
Trump, die Coronagefahr frühzeitig erkannt
und entschlossen bekämpft habe und wie
die US-Wirtschaft unter ihm schon bald zu
nie gekannter Blüte gelangen werde. Dann
ist da Pence, offizieller Leiter der Taskforce,
vor allem aber Trumps getreuer Eckhart.
Von seinem Chef lässt sich der Vize schon
mal gutmütig dafür verspotten, dass er im-
mer wieder die Tafel mit den Corona-Verhal-
tensregeln in die Kamera hält.

Düstere Vorhersage
Birx ist vor solchen Attacken des Präsiden-
ten sicher. Was zum einen an ihrer Kompe-
tenz als Medizinerin liegt. Und zum anderen
am Ernst der Lage. Für das Osterwochenen-
de erwartet Birx den Höhepunkt der Pande-
mie in den Metropolen New York, Detroit
und New Orleans, den derzeitigen Corona-
Epizentren in den USA. Tausende, wenn
nicht Zehntausende Amerikaner werden
über das Osterwochenende am Coronavirus
sterben. Trump weiß: Würde er angesichts
dieser Situation Birx attackieren, könnte er
damit keine Punkte sammeln.
Birx gehört im Weißen Haus zu den weni-
gen politischen Überlebenden aus der Ära
von Barack Obama. Trumps Vorgänger hat-
te die promovierte Internistin und Immuno-

login 2014 zur Koordinatorin der US-Regie-
rung für den weltweiten Kampf gegen Aids
ernannt. Zuvor hatte Birx als Wissenschaft-
lerin und Oberst der US-Armee viele Jahre
mit der Suche nach einem Impfstoff und
auch mit Aufklärungskampagnen gegen Aids
verbracht. Den Job als Corona-Koordinato-
rin hat sie nun zusätzlich übernommen.
Eine enge Beziehung verbindet Birx mit
einem anderen Mitglied der Corona-Taskfor-
ce: dem 79-jährigen Immunologen Anthony
Fauci, für den Birx in den 80er-Jahren gear-
beitet hat und den sie bis heute als ihren
Mentor bezeichnet.

Trump überzeugt
Ihr Meisterstück vollbrachten die beiden
laut Berichten von US-Medien, als sie Trump
am letzten Märzwochenende in dessen
Amtszimmer überzeugten, die Anti-Corona-
Empfehlungen bis Ende April aufrechtzuer-
halten. Ursprünglich hatte Trump bereits ab
Ostern zur Normalität zurück kehren wollen,
wozu ihn auch Wirtschaftsberater gedrängt
hatten. Doch die beiden Mediziner präsen-
tierten Trump eine Modellrechnung, wo-
nach dann mit über zwei Millionen Corona-
toten in den USA zu rechnen sei. Anschlie-
ßend schilderte Fauci den entscheidenden
Moment in einem Interview mit CNN: „Dr.
Birx und ich sind zusammen ins Oval Office
gegangen und haben uns über den Schreib-
tisch gelehnt und gesagt, hier sind die Da-
ten, wirf einen Blick darauf, und er hat
draufgeschaut und sie verstanden.“
Trump steht normalerweise nicht in dem
Ruf, allzu bereitwillig auf wissenschaftliche
Fakten zu hören oder abweichenden Mei-
nungen gegenüber besonders aufgeschlos-
sen zu sein. Dem Duo Birx und Fauci jedoch
gelingt es bislang überraschend gut, Trump
zu überzeugen. Umgekehrt achtet vor allem
Birx sorgfältig darauf, Trump nicht vor lau-
fender Kamera zu widersprechen, was ihr
auch öffentliche Kritik einbringt.
Wenn Birx nach einem turbulenten Tag
im Weißen Haus zu ihrer Familie zurück-
kehrt, kann sie nicht unbedingt auf einen
ruhigen Feierabend hoffen. Die Ärztin lebt
in einem Haushalt zusammen mit ihrem
Mann, ihrer erwachsenen Tochter, ihrem
Schwiegersohn, ihren Enkelkindern und ih-
ren hochbetagten Eltern. Entsprechend
sorgfältig achtet Birx nach eigener Aussage
bei sich auf kleinste Anzeichen einer mögli-
chen Corona-Infektion. Christian Rickens

Deborah Birx:
Überzeugte den Präsidenten,
nicht schon nach Ostern zur
Normalität zurückzukehren.

dpa

Dr. Birx und


ich sind


zusammen ins


Oval Office


gegangen


und haben uns


über den


Schreibtisch


gelehnt und


gesagt, hier sind


die Daten, wirf


einen Blick


darauf, und


er hat


draufgeschaut


und sie


verstanden.


Anthony Fauci
Mitglied der
Corona-Taskforce.

BusinessLounge


Flexibel: Niedersachsens Ministerpräsident
Stephan Weil (SPD) zieht sich vor seinem
Besuch des Textilherstellers Zender in Osnabrück
einen Mundschutz an. Die Firma hat ihre Produk-
tion ab sofort auf Schutzmasken umgestellt.

Spendabel: Der lang-
jährige Disney-Kon-
zernchef Bob Iger
läuft durch die Stra-
ßen von Los Ange-
les. Er hat angekün-
digt, rund zwei Mil-
lionen Dollar zur Be-
kämpfung des Coro-
navirus in den USA
zu spenden.

S

z

ß
le
d
li
k
n
z

Vorsichtig: schechiens Arbeits- und Sozialmi-T
nisterin Jana Malacova spricht – mit Mundschutz


  • bei einer Pressekonferenz in Prag über die Fol-
    gen der Pandemie. Auch bei unseren Nachbarn
    im Osten läuft der Alltag auf Sparflamme.


Vorsichtig:Tschechiens Arbeits und Sozialmi

Hilfreich: Christian Schophaus vom Deutschen
Roten Kreuz in Potsdam verteilt in der Coronakri-
se medizinische Schutzausrüstung an Ärzte in
ganz Brandenburg.

Hilfreich:ChristianSchophausvom Deutschen

imago images/CTK Photo, action press, imago images/Future Image, AFP

Die Ärztin organisiert im Weißen
Haus den Kampf gegen die
Pandemie – und konfrontiert ihren
Chef mit der grausamen Realität.

Namen des Tages


DIENSTAG, 7. APRIL 2020, NR. 69
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