Handelsblatt - 07.04.2020

(Elle) #1
Ruth Berschens Brüssel

U


rsula von der Leyen verbreitet Zuver-
sicht: „Nach holprigem Start geht nun
eine Welle von Mitgefühl und Solidari-
tät durch Europa“, twitterte die EU-
Kommissionspräsidentin am Sonntag.
Die Welle hat auch die politische Führung der EU
erfasst: An diesem Dienstag wollen die EU-Finanz-
minister ein gemeinsames Hilfspaket für die vom
staatlich verordneten Stillstand schwer getroffene
Wirtschaft beschließen. Es handelt sich um Darle-
hen und Kreditbürgschaften mit einem Gesamtvo-
lumen von bis zu 540 Milliarden Euro, bereitgestellt
vom Euro-Rettungsfonds ESM, von der EU-Kommis-
sion und von der Europäischen Investitionsbank.
Der Beschluss kommt gerade rechtzeitig. Die Co-
ronakrise hat schwelende Konflikte zwischen Nord
und Süd, zwischen finanziell gesunden und hoch-
verschuldeten Staaten in den vergangenen Wochen
derart befeuert, dass es die EU zu zerreißen drohte.
Ein Signal der Gemeinsamkeit ist dringend geboten


  • auch um neue Spekulationswellen an den Finanz-
    märkten gegen schwache Euro-Staaten zu verhin-
    dern und die Glaubwürdigkeit der Europäischen
    Zentralbank zu stärken.


Die Euro-Gruppe will jetzt eine Brücke bauen,
doch das bedeutet nicht, dass die tiefen Gräben
quer durch die EU damit überwunden wären. Der
Streit über Euro-Bonds, der die europäische Staa-
tengemeinschaft seit Wochen erschüttert, wird wei-
tergehen. „Eine überwältigende Mehrheit der Mit-
gliedstaaten ist dafür, einen Wiederaufbaufonds für
die europäische Wirtschaft einzurichten und ihn
mit gemeinsamen Staatsanleihen zu finanzieren“,
sagte ein EU-Diplomat dem Handelsblatt.
Zu den Befürwortern gehört der Euro-Gruppen-
Vorsitzende Mario Centeno. Der portugiesische Fi-
nanzminister hat zwar eingesehen, dass Euro-
Bonds kurzfristig nicht durchsetzbar sind. Deutsch-
land, die Niederlande, Österreich und Finnland
stemmen sich mit aller Macht dagegen. Das erste
EU-Hilfspaket für die Wirtschaft werde deshalb
nicht mit gemeinsamen Staatsanleihen finanziert,
hieß es in Brüssel. Doch aufgeschoben ist nicht auf-
gehoben: Frankreich, Italien und die anderen Be-
fürworter haben ihre Forderung nach Euro-Bonds
zwar zurückgestellt, aber nicht aufgegeben. Italiens
Ministerpräsident Giuseppe Conte verlangt „euro-
päische Wiederaufbauanleihen“ für die Zeit nach
der Krise. Der französische EU-Industriekommissar
Thierry Breton fordert, einen „europäischen Fonds
für die Erholung der Industrie“ mit langlaufenden
europäischen Anleihen zu finanzieren.
Centeno will es deshalb am Dienstag nicht bei
dem ersten EU-Notpaket für die Wirtschaft allein
belassen. Die Euro-Gruppe müsse sich auch darauf
verständigen, die Option für ein mit Euro-Bonds fi-
nanziertes Konjunkturprogramm für die Zeit nach
der Krise zumindest offenzuhalten, hieß es in Brüs-
sel. Ein Hinweis darauf müsse in die schriftliche Er-
klärung der Euro-Gruppe aufgenommen werden.
Italien habe dies zur Bedingung gemacht für seine
Zustimmung zum EU-Hilfspaket für die Wirtschaft
an diesem Dienstag.
Das Paket besteht aus drei Elementen:
Erstens: Beim ESM wird eine vorsorgliche Kredit-
linie eingerichtet für Staaten, die mit der Bewälti-
gung der Krise finanziell überfordert sind. Theore-
tisch kann jeder EU-Staat bis zu zwei Prozent seiner

Milliarden für


Rettung und


Wiederaufbau


Nach langen Verhandlungen wird die EU wohl alsbald ein


umfassendes Notprogramm für die Wirtschaft beschließen. Es


geht dabei auch schon um Konjunkturhilfen für die Zeit nach der


Krise. Damit bleiben auch Euro-Bonds auf der politischen Agenda.


EU: Ein Signal der Gemeinsamkeit
war geboten – auch um neue
Spekulationswellen an den
Finanzmärkten gegen schwache
Euro-Staaten zu verhindern.

Michael Trippel/laif

Corona-Notprogramm

540


MILLIARDEN
Euro umfasst das Gesamtvolumen aus Darlehen
und Kreditbürgschaften, die vom Euro-Rettungs-
fonds ESM, von der EU-Kommission und Euro-
päischen Investitionsbank bereitgestellt werden.

Quelle: EU-Kommission

Titelthema


Ein Plan für Europa


DIENSTAG, 7. APRIL 2020, NR. 69
4

E


uropas Regierungschefs haben eine
gesundheitspolitische Antwort auf die
Covid-19-Pandemie gefunden. Unter
anderem finanzieren sie gemeinsam
die Suche nach Impfstoffen und orga-
nisieren den Einkauf medizinischer Güter. Eine
gemeinsame wirtschaftspolitische Antwort aller-
dings steht noch aus.
Das ist bedauerlich, denn wir haben keine Zeit
für Schuldzuweisungen und Verzögerungstaktik.
Die Europäische Union steht auf dem Spiel, und
mit ihr das Versprechen von Frieden, Wohlstand
und Solidarität für alle EU-Bürger. Wir müssen
schnell handeln, um die europäische Wirtschaft
zu retten. Das sage ich nicht nur als Präsident der
Europäischen Investitionsbank, sondern als je-
mand, der sich seit mehr als 30 Jahren in der Eu-
ropapolitik engagiert. Der wirtschaftliche Schock
durch die Pandemie ist extrem: Laut Ifo-Institut
könnte die europäische Wirtschaft, je nach Szena-
rio, um sieben bis 20 Prozent schrumpfen. Unter-
nehmen drohen massenhaft zu scheitern, Millio-
nen Arbeitsplätze verloren zu gehen.
Die Antwort auf diese schwere Krise war in
Europa bisher weitgehend national geprägt. Zwar
hat die Europäische Zentralbank ein Rettungspa-
ket von 750 Milliarden Euro aufgelegt und zuge-
sagt, dass sie alles tun wird, um den Euro zu be-
wahren. Sie hat aber auch darauf hingewiesen,
dass die Fiskalpolitik einen erheblichen Beitrag zu
leisten hat. Die Kommission hat die Fiskalregeln
der Euro-Zone ausgesetzt, um jedem Mitgliedstaat
freie Hand für die nötigen Ausgaben zu geben.
Aber nicht jeder Staat hat den nötigen fiskalischen
Spielraum.
Wenn der Ansatz „Italy first“, „France first“
oder „Germany first“ lautet, dann wird Europa an
letzter Stelle kommen. Wir sind wirtschaftlich zu
eng miteinander verflochten, als dass wir diese
Krise als Einzelkämpfer bewältigen könnten.
Deutschland leistet, gemessen an der Wirtschafts-
leistung, doppelt so viel Hilfe für die Realwirt-
schaft wie Italien, Frankreich oder Spanien. Diese
enormen Unterschiede verstärken die ökonomi-
schen Fliehkräfte und bringen den Binnenmarkt
in Gefahr. Die politischen Kosten einer zu späten
und mutlosen europäischen Antwort kommen
hinzu. Die Wut breitet sich schneller aus als das
Virus. In einer Meinungsumfrage beklagten im
März 88 Prozent der Italiener mangelnde Unter-
stützung Europas, und 67 Prozent bezeichneten

die EU-Mitgliedschaft als nachteilig – manche ha-
ben das Gefühl, dass ihnen China und Russland
eher zu Hilfe eilen als die EU-Partner.
Um weiteren Schaden zu verhindern, muss die
EU jetzt drei Dinge tun: Erstens muss sie den Mit-
gliedstaaten helfen, die Gesundheitsausgaben zu
tätigen, die nötig sind, um die Pandemie zu besie-
gen. Zweitens brauchen wir eine europaweite Auf-
fanglösung, vor allem für kleine und mittelständi-
sche Unternehmen. Und drittens brauchen wir
ein Programm, um so viele Arbeitsplätze wie mög-
lich zu erhalten. Zugleich müssen wir einen ge-
meinsamen Plan für die wirtschaftliche Erholung
entwickeln, damit von der Schumpeter’schen
kreativen Zerstörung nicht nur die Zerstörung üb-
rig bleibt. Europa darf in Sachen Innovation,
Technologie und Wettbewerbsfähigkeit nicht
noch weiter zurückfallen. Wir müssen sicherstel-
len, dass unsere besten Unternehmen mit ihrem
Know-how in Europa bleiben.
Die Maßnahmen auf EU-Ebene müssen komple-
mentär sein. Ich begrüße den Vorschlag der EU-
Kommission, ein Instrument zur temporären Be-
kämpfung von Arbeitsplatzverlusten zu schaffen,
das „Sure“-Programm. Auch der Europäische Sta-
bilitätsmechanismus (ESM) kann eine wichtige
Rolle dabei spielen, den wirtschaftlichen Schock
abzufedern. Die EIB-Gruppe hat einen eigenen
Vorschlag für einen paneuropäischen Garantie-
fonds von 25 Milliarden Euro vorgelegt. Durch ihn
können Mittel im dreistelligen Milliardenbereich
bereitgestellt werden, um europäische Unterneh-
men zu finanzieren, die wirtschaftlich solide sind,
aber in der Coronakrise Liquiditätsengpässe ha-
ben.
Der frühere belgische Ministerpräsident Paul-
Henri Spaak hat einmal gesagt: „In Europa gibt es
nur zwei Typen von Staaten: kleine Staaten ... und
kleine Staaten, die noch nicht verstanden haben,
dass sie klein sind.“ Wir haben viele Krisen ge-
meinsam überstanden: die Euro-Schuldenkrise,
die Flüchtlingswelle und den Brexit. Wir haben
gelernt, dass wir gemeinsam stärker sind. Ich hof-
fe, dass wir dies auch im Kampf gegen das Coro-
navirus beherzigen und eine mutige, solidarische
europäische Lösung finden. Nur so können wir
das Europa bewahren, das wir gemeinsam aufge-
baut haben. Das Europa, das wir lieben.

„Die EU steht


auf dem Spiel“


Europa darf seine Bürger in der Coronakrise


nicht enttäuschen, meint Werner Hoyer.


Der Autor ist Präsident der Europäischen
Investitionsbank.

dpa [M]

Wir sind


wirtschaft -


lich zu eng


miteinander


verflochten,


als dass wir


diese Krise als


Einzelkämpfer


bewältigen


könnten.


jährlichen Wirtschaftsleistung aus dieser sogenann-
ten Enhanced conditions credit line (ECCL) bean-
tragen. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass alle
19 Euro-Staaten dies tun, würde sich die gesamte
ECCL-Kreditsumme auf 240 Milliarden Euro belau-
fen.
Die mit ESM-Darlehen normalerweise verbunde-
nen Bedingungen werden in der Coronakrise deut-
lich abgeschwächt. Vorgeschrieben wird jetzt nur,
dass der Kredit auf coronabedingte Ausgaben be-
schränkt bleibt. Empfängerstaaten müssen sich au-
ßerdem verpflichten, die europäischen Fiskalregeln
zu respektieren – was momentan jedoch bedeu-
tungslos ist: Der Stabilitätspakt ist wegen der Krise
ausgesetzt, die Limits für Gesamtverschuldung (
Prozent vom Bruttoinlandsprodukt) und Defizit
(drei Prozent vom BIP) gelten nicht.
Ein Wirtschaftsreformprogramm, wie im ESM-Re-
gelbuch eigentlich vorgesehen, will die Euro-Zone
den Empfängern von Corona-Hilfskrediten nicht
vorschreiben. Auch die sonst übliche Troika zur
Überwachung der Haushaltssanierung im jeweili-
gen Land soll es nicht geben.
Zweitens: Die EU-Kommission bietet den EU-Staa-
ten Kredite an, um bei der Finanzierung der explo-
dierenden Kosten für Kurzarbeitergeld zu helfen.
Dafür will die Kommission bis zu 100 Milliarden
Euro an den Finanzmärkten aufnehmen. Für ein
Viertel dieser Summe sollen die EU-Staaten bürgen.
Drittens: Die Europäische Investitionsbank (EIB)
will eine Garantie für Unternehmenskredite abge-
ben – und zwar bis zu einer Gesamtsumme von 200
Milliarden Euro. Die EU-Mitgliedstaaten müssten
dafür eine Bürgschaft abgeben, damit die EIB ihr
Spitzenrating an den Finanzmärkten nicht verliert.
Gegen das von EIB-Präsident Werner Hoyer (siehe
Interview) vorgeschlagene Programm regt sich in
Berlin noch Widerstand.
Das Bundesfinanzministerium hält die Summe
von 200 Milliarden Euro für überhöht. Deutschland
verlange, das EIB-Kreditpaket „deutlich“ zu verrin-
gern. Zur Begründung hieß es, Deutschland habe
bei der eigenen staatlichen Förderbank Kfw bereits
ein großes Kreditprogramm für Unternehmen auf-
gelegt und deshalb kein Interesse an einem zusätz-
lichen großen EIB-Programm.
Der Zwist um das Bürgschaftsvolumen bei der
EU-Hausbank werde in der Sitzung der Euro-Grup-
pe am Dienstag voraussichtlich beigelegt, hieß es in
Brüssel. Es wird nicht erwartet, dass am Ende das
ganze EU-Kreditprogramm für die Wirtschaft daran
scheitert.
Wenn die Euro-Gruppe sich wie erwartet auf das
dreigliedrige Programm einigt, dann sind die EU-
Regierungschefs wieder an der Reihe. Voraussicht-
lich wird EU-Ratspräsident Charles Michel wieder
eine Videokonferenz der Chefs einberufen – es wä-
re die zweite seit Ausbruch der Coronakrise. Cente-
no werde über die Beschlüsse der Euro-Gruppe be-
richten – und auch über den Wunsch vieler EU-Fi-
nanzminister, ein mit Euro-Bonds finanziertes
Wiederaufbauprogramm für die Wirtschaft aufzule-
gen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Ita-
liens Premier Giuseppe Conte und der spanische
Ministerpräsident Pedro Sanchez werden das The-
ma Euro-Bonds wohl auch wieder aufgreifen.
Für die Bundeskanzlerin keine angenehme Situa-
tion: Im Streit über die Euro-Bonds vertritt Angela
Merkel eine Minderheitsposition in der EU und ge-
rät zusehends in die Defensive. Indirekte Unterstüt-
zung kommt von der EU-Kommissionschefin. Ursu-
la von der Leyen tritt nicht für Euro-Bonds ein.
Stattdessen verlangt sie, dass die Mitgliedstaaten
den neuen EU-Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis
2027 mehr als bisher geplant aufstocken. Die zu-
sätzlichen Mittel würden in Länder fließen, die
stark unter den Folgen der Coronakrise leiden.
Das würde für Nettozahler wie Deutschland aller-
dings auch höhere Überweisungen aus dem Bun-
deshaushalt nach Brüssel bedeuten. Die Bundesre-
gierung ließ offen, ob sie dazu bereit ist.
Spätestens im zweiten Halbjahr 2020 muss der
mehrjährige EU-Haushalt beschlossen werden – und
im Juli übernimmt Deutschland die halbjährlich ro-
tierende EU-Präsidentschaft. Die wirtschaftlichen
Folgen der Coronakrise werden sich dann mit voller
Wucht bemerkbar machen. Die Frage nach der So-
lidarität in Europa bleibt auf der politischen Agenda


  • und damit auch das Thema Euro-Bonds. Und der
    Druck auf Deutschland wird weiter wachsen.


Ein Plan für Europa


DIENSTAG, 7. APRIL 2020, NR. 69
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