Noch vor der Pandemie
reisten Bettina
Sengling (r.) und
Fotografin Tamina-
Florentine Zuch mehrere Wochen
durch Kasachstan. Chinesen sahen
sie überraschenderweise selten
Nur-Sultan wird auch „Steppen-
Manhattan“ genannt, doch wie
bizarr die Stadt wirklich ist, spiegelt
dieser Ausdruck nicht. Der offizielle
Name trifft den Geist wesent-
lich besser. Erst im vergangenen
Jahr nannte der neue Präsident die
Stadt um, zu Ehren des ehemaligen
Präsidenten Nursultan Nasarbajew.
Mit der Stadt setzte sich Nasar-
bajew selbst ein Denkmal, ei ne
protzige Oase mitten in einer
Wüste aus trostlosen Sowjetsied-
lungen. In Nur-Sultan stehen eine
Nasarbajew-Bibliothek, ein Nasar-
bajew-Museum und die Nasar-
bajew-Universität, in der der chine-
sische Präsident 2013 zum ersten
Mal von der Neuen Seidenstraße
sprach.
Nach Willen Nasarbajews soll die
Stadt einmal logistischer Knoten-
punkt und finanzielles Zentrum der
Neuen Seidenstraße werden. Doch
seit vergangenem Frühjahr ist in
Nur-Sultan auch ein Denkmal der
Korruption zu besichtigen. Hun-
derte Betonpfeiler ziehen sich durch
die Straßen, auf denen eine moderne
Stadtbahn Passagiere vom Flug-
hafen bis zum Bahnhof bringen
sollte. 2,6 Milliarden Dollar sollte
das Projekt kosten, China gewährte
einen Kredit über 1,5 Milliarden.
Doch der Bau steht still. Der Direktor
des Unternehmens wird per Inter-
pol gesucht – angeblich unterschlug
er Millionen.
Kasachstan schuldet China in-
zwischen mehr als zwölf Milliar-
den Dollar. Die Finanzhilfe ist alles
andere als selbstlos. So schreibt ein
neuer Kredit der chinesischen
Staatsbank über 300 Millionen Euro
für zehn neue Grenzterminals vor,
dafür neue chinesische Ausrüstung
zu verbauen.
Vor allem aber nutzen die Kredite
Nasarbajew und seiner Elite, die
mit dem Geld oft Korruptions-
skandale oder Missmanagement
ausglichen. Die Familienangehöri-
gen des Ex-Präsidenten gehören
laut der US-Zeitschrift „Forbes“ zu
den reichsten Menschen der Welt.
„China diktiert uns niemals Be-
dingungen“, behauptete Nasarbajew.
Doch das stimmt nicht.
viele ethnische Kasachen heute in
chinesischen Lagern inhaftiert sind,
ist nicht bekannt. In Kasachstan
haben Hunderte den Kontakt zu An-
gehörigen im Nachbarland verloren.
„Unsere Regierung ist abhängig
von China“, sagt Serikschan Bilasch,
der für die Lageropfer die Hilf s-
organi sation „Atajurt“ gründete.
Hunderte Zeugenaussagen ehe-
maliger Insassen trug er zusammen.
Dafür wurde er selbst zum Opfer:
Behörden warfen dem Kasachen, der
sich in Kasachstan für die Rechte
von Kasachen einsetzt, „Anstache-
lung zum ethnischen Hass“ vor.
Sieben Jahre Haft drohten ihm. Nur
durch einen Kompromiss kam er
frei: Er darf heute nicht mehr
politisch tätig sein. Wenn Sicher-
heitskräfte das Büro der Orga-
nisation durchsuchen, sagt Bilasch,
er sei Reinigungskraft.
Um Völkerfreundschaft ging es
nie, glaubt er. Chinesische Be-
hörden verhafteten Kasachen in
China, weil sie Verwandte in
Kasachstan besucht oder mit ihnen
telefoniert hatten. Auch dem alten
Ehepaar ging es so. „Kasachstan gilt
in China als gefährliches Land“,
sagt Bilasch. „In Wirklichkeit
hassen sie uns.“ 2
Verlässt man das Zentrum aus
besenreinen Prachstraßen und
blank geputzten Spiegelfassaden,
werden die Wege holprig. Muchtaran
empfängt auf der Straße vor seinem
Haus, das nicht fertig gebaut ist,
ein alter, nervöser, trauriger Mann.
Muchtarans Familie lebte in der
Grenzregion Xinjiang, der Heimat
muslimischer Minderheiten in
China. Das Leben dort veränderte
sich, und das ist auch eine Folge
der Neuen Seidenstraße. Xinjiang,
so beschloss die Führung in Peking,
sollte genauso werden wie der Rest
des Landes: chinesisch.
Jahrzehntelang dümpelte die
Provinz wie in einer Sackgasse an
der Grenze zur Sowjetunion herum.
Heute verbinden Hochgeschwin-
digkeitszüge und moderne Auto-
bahnen sie mit dem restlichen Land.
Strategisch günstig liegt das Gebiet
auf dem Weg in den Westen.
Brutal begann Peking, gegen die
muslimischen Minderheiten vorzu-
gehen. Etwa eine Million Uiguren,
Kasachen und andere Turkvölker
sind nach Schätzungen heute in so-
genannten Umerziehungslagern
interniert. Auch Muchtaran und
seine Frau, beide über 70 Jahre alt,
saßen monatelang dort ein.
Beide müssen weinen, wenn sie
sich an die Zeit erinnern: an sinn-
lose Tage in überfüllten Schlafsälen,
an die Lieder zum Ruhm der
Kommunistischen Partei, an Krank-
heit und Angst. „Man behandelte
uns wie Verbrecher“, sagt Muchtaran.
„Aber ich weiß nicht, wieso.“ Wie
Bevor wegen
des Coronavirus
die Tore schlossen,
standen jeden
Tag Hunderte
Kasachen vor der
Freihandelszone
an der Grenze
zu China an
100 8.4.2020
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