Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1

F


rau Merkel, Ihr Wohlergehen freute
uns in Idlib.“ Das Wandgemälde der
Kanzlerin mit der Grußbotschaft
aus der kriegszerstörten syrischen
Stadt hat es zu einiger Berühmtheit
gebracht. Im coronazerstörten Ber-
gamo ist Ähnliches unvorstellbar. Wie sehr
würde man sich wünschen, dass es dafür
wenigstens Anlass gäbe. Gibt es aber nicht.
Es sieht so aus, als läge Syrien entschieden
näher bei Deutschland als Italien.
Die überaus bittere, die maßlos enttäu-
schende Erfahrung der Italiener mit Euro-
pa in der großen Seuche, der verheerends-
ten Katastrophe ihrer jüngeren Geschich-
te, hat eben einen deutschen Kern. Das
Gründungsmitglied der europäischen
Bewegung, das Land, in dem 1957 die Römi-
schen Verträge unterzeichnet wurden,
fühlt sich in historischer Finsternis von
den Europäern verlassen und von den
Deutschen selbstsüchtig verraten. Zu
Recht. Als Deutscher schämt man sich.
Denn es sind zwei Deutsche, die in die-
ser Tragödie die Hauptrollen spielen:
Angela Merkel, die sich dem Ruf nach Co-
rona-Bonds routiniert schnoddrig wider-
setzte, und Ursula von der Leyen, die an der
Spitze der EU-Kommission gar nicht da-
ran dachte, medizinische Hilfe in die Todes-
zonen Italiens und Spaniens zu schicken.

Nordeuropa hat die Seuche bislang ja weit-
gehend verschont. Ärzte wären verfügbar.
Selbst in Berlin meldeten sich 550 Medizi-
ner für einen Corona-Einsatz.
Und wenn man schon den europäischen
Traum träumt, dann sieht man natürlich
auch Konvois von Hilfsfahrzeugen mit
medizinischer Ausrüstung aus Frankreich
über die Grenzen rollen, in die erschöpf-
ten Nachbarländer. Die Nato tut das – nicht
die EU. Im Brüsseler Hauptquartier des
Militärbündnisses wurden Notlieferungen
an diverse Staaten zusammengestellt. Als
Italien aber Ende Februar die EU-Partner
um Schutzmasken bat, antwortete kein
einziger. Dafür erließen mehrere Ausfuhr-
beschränkungen, auch Deutschland.
„Wir merken uns das“, schrieb die links-
liberale, dezidiert europafreundliche Tages-
zeitung „La Repubblica“ in einem Leitarti-
kel. So wird es sein. Denn ins Gedächtnis der
Italiener – und nicht minder: der Spanier –
hat sich zudem die schnöde Verweigerung
eines großen, historisch einmaligen Fonds
für Finanzhilfen eingegraben, der unter
dem Schlagwort Corona-Bonds durch die
politische Debatte pflügt. „Sei nicht so kri-
tisch. Wenn du auf Corona-Bonds wartest,
so werden sie nie kommen“, soll Angela
Merkel ihren italienischen Amtskollegen
abgefertigt haben.
Bleibt sie dabei, könnte sich das als his-
torischer Fehler erweisen. Denn neun
EU-Staaten unter Führung Frankreichs
plädieren dafür. Nicht aber die Große Ko-
alition in Berlin, die bei ihrer Gründung
turboeuropäisch die Backen aufgeblasen
hatte. „Ein neuer Aufbruch für Europa“, be-
gann der Koalitionsvertrag. „Deutschland
hat Europa unendlich viel zu verdanken.
Auch deshalb sind wir seinem Erfolg ver-
pflichtet.“ Mit den Altschulden Italiens
hätten die Bonds ja nichts zu tun. Sie sol-
len nur den Schäden der Seuche gelten, ein
einmaliges Instrument bleiben und die
Zinslast der Empfänger drücken. Sieben
deutsche Ökonomen, rechte wie linke,
empfehlen eine gemeinsame Anleihe über
eine Billion Euro. Sie wäre ein ungemein
starkes Zeichen. Wann, wenn nicht jetzt?
Der Kreditbaukasten des Euro-Rettungs-
fonds ESM und der Europäischen Investi-
tionsbank (EIB), an dem ersatzweise gebas-
telt wird, bringt diese Kraft nicht auf. Selbst
wenn der ESM von drückenden Auflagen
befreit wird, fühlen sich die Italiener ge-
demütigt – von den geizigen Deutschen.
Vielleicht wird dem einen oder anderen,
wenn Urlaub wieder möglich ist, dafür in
Palermo in die Pasta gespuckt. 2

Russland, China und Kuba organisierten
spektakuläre Solidaritätsaktionen, mit
Ärzten, Pflegern, Beatmungsgeräten und
Schutzmasken. Auch Deutschland sandte
zwei Flugzeuge mit medizinischem Gerät.
Doch auf die große europäische Hilfsak-
tion warteten Italiener und Spanier verge-
bens. Es ist nicht schwer, sich ein solches
Programm vorzustellen. Ein Corona-Corps
von Ärzten und Pflegern, angeworben und
bezahlt von der EU, aus Brüssel eingeflogen.

ITALIENISCHE FINSTERNIS


Von der EU verlassen, von den Deutschen verraten:


Im Süden Europas hinterlässt die große


Seuche politische Schäden von historischem Ausmaß


18 8.4.

KOLUMNE


JÖRGES


Hans-Ulrich Jörges
Der stern-Kolumnist schreibt
jede Woche an dieser Stelle

ZWISCHENRUF AUS BERLIN


ILLUSTRATION: JAN STÖWE/STERN
Free download pdf