Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1
Mathias Schneider schrieb den Text.
Rolf-Herbert Peters recherchierte
in Gangelt und Bad Salzuflen,
Anika Geisler befragte Cornelius
Knabbe. Mitarbeit: Bernhard Albrecht,
Andreas Hoidn-Borchers, Stephan Maus,
Claudia Minner, Frank Ochmann

FOTOS: NINA SIBER; MARINA ROSA WEIGL/STERN

Modelle.“ Solch eine Studie gebe es derzeit


nirgends auf der Welt. Schon Ende nächs-


ter Woche will Streeck erste Ergebnisse


vorlegen.


Seit Ausbruch der Epidemie hat der


Kreis insgesamt 8000 Tests ausgeführt


und 1406 Corona-Kranke gefunden. Der


Heinsberger Landrat Stephan Pusch


glaubt nun: „Wir können davon ausgehen,


dass vielleicht fünf- oder zehnmal mehr


Menschen die Infektion bereits hatten.“


Das wäre eine gute Nachricht, zwischen


7000 und 14 000 Kreisbewohner hätten


Corona dann bereits hinter sich. „In Gan-


gelt sind es vielleicht sogar 30, 40 Prozent


der Einwohner“, sagt Pusch. „So langsam


kommt die Durchseuchung der Bevölke-


rung zur Geltung.“


Wenn die Zahl der nachgewiesenen Infi-

zierten stabil bei 700 bliebe, würde Pusch


seine Schulen nach den Osterferien wieder


öffnen. Zunächst in Gangelt und Heins-


berg, wo die Durchseuchung und vermut-


lich damit die Immunisierung am höchs-


ten ist. Dann binnen ein, zwei Wochen alle


Schule übernehmen als die eigenen, wenn
es nur den Lehrbetrieb sicherstellt. Zum
Zahnarzt ist sie bereits gegangen, „die
meisten sagen ja ab“. Die Theaterregisseu-
rin Tanja Krone aus Berlin denkt darüber
nach, demnächst in Bestattungsunter-
nehmen auszuhelfen, sie darf ja ab sofort
mit älteren Angehörigen in Kontakt kom-
men, ohne diese zu gefährden. Es gibt vie-
le solcher Vorsätze.
Der Politiker Cem Özdemir spricht
deshalb für viele der frisch Gesundeten.
Er hält es für wichtig, dass es einen Über-
blick über die Zahl der Geheilten gibt:
„Wir werden in den nächsten Wochen
und Monaten jeden brauchen, der helfen

kann.“ (^2)
anderen Schulen. Er würde Restaurants
und Geschäfte wieder öffnen: „Ob ich im
Supermarkt mit Abstand einkaufe oder im
Bekleidungsgeschäft, ist doch gleich. Aber
öffentliche Veranstaltungen wie Schützen-
feste, wo Gläser rumgehen oder Leute eng
miteinander feiern, würde ich mindestens
bis zum Herbst nicht erlauben.“
Die Geheilten werden gebraucht
Noch bleiben derlei Pläne Wunschszena-
rien. Die Infektion schreitet fort – die Im-
munisierung der Bevölkerung tut es al-
lerdings ebenfalls. Man darf das bei aller
gebotenen Vorsicht als ermutigend emp-
finden, zumindest ein bisschen.
Zumal viele der Geheilten ihren neu
gewonnenen Schutz nicht nur zum ei-
genen Wohl einsetzen werden. Sie wol-
len es nicht bei einer Blutspende belas-
sen. Die Pflegerin Claudia Geraets geht
bereits wieder ihrer Arbeit in einem Heim
für geistig und körperlich behinderte
Menschen nach. Die Lehrerin Kathrin
Becker will auch andere Aufgaben in ihrer
NINA MAREWSKI, 53,
SCHRIFTSTELLERIN,
FRANKFURT AM MAIN
Als die ersten Symptome kamen, wusste
ich sofort: „Das ist keine Grippe.“ Es war,
als hätte man mir den Boden unter den
Füßen weggezogen: Schwächeanfall,
Schüttelfrost, ein Druck auf der Brust, als
stünde jemand auf meinem Solarplexus.
Ein befreundeter Arzt hat einen Abstrich
gemacht. Den habe ich dann selbst in ein
Labor geschickt und bezahlt. Einen Tag
später bekam ich einen Anruf. Sie sagten, ich
sei positiv und hätte eine außergewöhnlich
hohe Konzentration von Viren im Rachen.
Das war ein Schock. Als es schlimmer wurde,
ging ich für zwei Nächte ins Krankenhaus.
Dort lag ich mit Atemmaske im Isolierzimmer.
Einerseits war ich erleichtert, dass ich
einen roten Alarmknopf hatte. Andererseits
immer diese Ungewissheit. Niemand hat
mir irgendwas erklärt. Mir schien es, als
wüsste niemand, was als Nächstes kommt.
Jeder ist in dieser Krankheit sehr alleine.
Jetzt ist es ein tolles Gefühl, immun zu sein.
Ich habe Anfragen von Unikliniken
bekommen, ob ich Antikörper spenden
möchte. Sehr gerne! Ich hoffe, dass die Welt
irgendwann wieder normal wird. Aber noch
sind es zu wenige, die es hinter sich haben.
HEIDRUN SCHÖSSLER, 53,
ÄRZTIN UND LEITERIN
DES GESUNDHEITSAMTS
HEINSBERG
Am Montag, dem 13. März, ging es los. Mich
überfielen rasende Kopfschmerzen und ein
starkes Hitzegefühl. Mir war sofort klar: Corona.
Ich habe mich gleich getestet – positiv. Und
dann abgewartet und viel Tee getrunken.
Gegen den Kopfschmerz half Aspirin. Am
zweiten Tag war ich schlapp, am dritten
schon wieder fit. 14 Tage lange habe ich aus
dem Homeoffice gearbeitet. Jeden Morgen
Krisenstab per Videokonferenz und dann
Dauergespräche. Auch meine 24-jährige Toch-
ter war erkrankt – viel schwerer als ich. Sie
hatte anfangs starke Halsschmerzen und – bis
heute – heftige Kopfschmerzen. Uns beiden
ging der Geschmackssinn verloren, bei mir
fünf Tage, bei ihr hält es die dritte Woche an.
Ich fürchte, sie durchlebt gerade eine zweite
Welle der Erkrankung. Mein Mann ist dagegen
gesund – kaum zu glauben in unserem ver-
seuchten Haushalt. All das beweist, wie unty-
pisch diese Krankheit ist. Ich bin anscheinend
durch, aber noch sehr unsicher, besuche
meine 88-jährige Mutter auch Ostern nicht.
Wir wissen noch zu wenig darüber, wie man sich
infiziert, ob 14 Tage Quarantäne ausreichen.
32 8.4.2020

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