Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1

W


er den Wust an Doku-
menten sieht, den
die Kinderkranken-
schwester Luitgard
Beierlein dieser Tage
bei sich führen muss,
der könnte den Ein-
druck bekommen, sie
bewege sich zwischen

zwei verfeindeten Staaten. Dabei will sie


nur von ihrer Wohnung im französischen


Straßburg an ihren Arbeitsplatz im zehn


Kilometer entfernten Kehl auf der deut-


schen Rheinseite gelangen.


Da ist zuerst eine „Dienstverpflichtung“,

zweisprachig ausgefertigt. „Hiermit weise


ich an“, schreibt ihr Arbeitgeber darin, „dass


Frau Luitgard Beierlein trotz möglicher Ein-


reisebeschränkungen täglich in der Pflege


tätig sein muss. Daher muss Frau Luitgard


Beierlein täglich die französisch-deutsche


Grenze passieren.“ Es folgen die „Bestäti-


gung über einen Arbeitsplatz in Deutsch-


land“ sowie ein „Berechtigungsschein zur


Einreise in die Bundesrepublik Deutsch-


land zum Zwecke der Berufsausübung“.


Dazu kommen zwei Formulare auf Fran-


zösisch, erstens ein „Nachweis der Reise


zu Berufszwecken“ und eine „Bestätigung


der Reise gemäß Ausnahmebestimmung“,


Letztere täglich aufs Neue mit aktuellem


Datum auszufüllen.


Meist, sagt die Krankenschwester, kon-

trolliere niemand, ob sie die Passierschei-


ne dabeihabe. „Trotzdem steige ich nie


ohne sie aufs Fahrrad. Ich muss sicher sein,


dass ich pünktlich zum Dienst komme.“


Genau auf halbem Weg, an der „Europa-

brücke“ – der letzten von vier Rheinbrü-


cken zwischen Kehl und Straßburg, die


noch für den Individualverkehr geöffnet


ist –, blockieren Polizeifahrzeuge Fahr-


bahn und Bürgersteig. Beamte beider Staa-


ten kontrollieren jeden, der passieren will.


Luitgard Beierlein erkennen die Polizisten


schon von Weitem. Kein Wunder: Es


kommt kaum noch jemand vorbei.


Keine vier Wochen ist es her, da pulsier-

te hier das Leben. 5000 Menschen pendel-


ten täglich allein aus Straßburg hinüber


nach Deutschland zum Arbeiten und Ein-


kaufen. Im gesamten deutsch-franzö-


sischen Grenzgebiet entlang des Rheins


waren es um die 50 000, Tag für Tag. Die Ge-


gend am Oberrhein ist eine Herzkammer


Europas. Dank Straßburg als Sitz von Eu-


ropäischem Parlament, Europäischem Ge-


richtshof für Menschenrechte und des
deutsch-französischen Fernsehkanals Arte.
Dank Tausender Arbeitsplätze bei Vorzeige-
unternehmen des deutschen Mittelstands
wie dem Tunnelbohrspezialisten Herren-
knecht oder dem Autozulieferer Schaeff-
ler. Die deutsch-französische Grenze: Hier
ist sie vom Sperrwerk zum Katalysator für
Integration und Wohlstand geworden.
„Es ist alles so selbstverständlich“, sagt
Luitgard Beierlein, die mit einem Franzo-
sen verheiratet ist und drei Söhne hat. „Ich
spreche mal Deutsch, mal Französisch. Ich
bin Deutsche, aber ich fühle mich auch als
Europäerin. Der Pass ist für mich gar nicht
so wichtig. Und so soll es auch sein. Dass
man gar keinen Unterschied mehr merkt.“
Doch die Leichtigkeit ist dahin. Denn seit
dem 11. März zählt das Robert Koch-Insti-
tut (RKI) die Stadt Straßburg, das umliegen-
de Elsass und die Großregion Grand Est of-
fiziell als Corona-Risikogebiet. Ein großes
Freikirchentreffen im nahen Mulhouse
Mitte Februar hat sich als Infektionsherd
gigantischen Ausmaßes entpuppt. Im ge-
samten südlichen Elsass explodiert seither

die Zahl der Infizierten. Fünf Tage nach der
Einstufung durch das RKI führte Deutsch-
land einseitig und ohne Abstimmung mit
Frankreich Grenzkontrollen ein – zum ers-
ten Mal seit 25 Jahren.

E


s war der Versuch, die Ausbreitung des
Virus einzudämmen. Doch die weitge-
hende Schließung der Grenze hat die
Region am Rhein in eine Art künstliches
Koma versetzt. Mit unabsehbaren Folgen
für das zukünftige Zusammenleben der
Menschen hier.
Straßburgs vierspurige Ausfallstraße
Richtung Deutschland liegt so still und
leer, dass Luitgard Beierlein vom Radweg
aus die Vögel singen hört. Die transnatio-
nale Tram fährt nicht mehr. Der interna-
tionale Flughafen der Stadt, sonst Dreh-
kreuz für Urlauber und EU-Parlamentarier,
hat den regulären Betrieb eingestellt. In
17 Jahren als Pendlerin zwischen Straßburg
und Kehl hat die Krankenschwester nichts
Vergleichbares erlebt.
„Was soll das?“, fragt Luitgard Beierlein.
„Wir sind doch in Europa. Gerade in einer

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