Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1
Grenzgebieten zum Elsass ist die Lage
angespannt.
Im Epilepsiezentrum, in dem Luitgard
Beierlein arbeitet, und in dem dazugehö-
rigen Krankenhaus wurden mittlerweile
22 Mitarbeiter positiv auf das Corona-Vi-
rus getestet; einer von ihnen arbeitete auf
der Nachbarstation. Nun sorgt sich die
Krankenschwester, sie könne das Virus aus
Deutschland zurück ins Risikogebiet El-
sass tragen – und ihren Mann und die drei

Söhne anstecken. Zwar gilt auf dem gesam-
ten Klinikgelände Mundschutzpflicht,
„aber wir haben nicht genug, nicht mal von
den einfachen“. Ihr Chefarzt erwartet für
die nächsten Tage einen großen Schub an
Neuinfektionen und Patienten.
Noch etwas anderes beunruhigt die
45-Jährige. Die Frage, ob Europa, so wie
sie es kennt, diese Krise überstehen wird.
„Ich hab keine Ahnung von der großen
Politik“, sagt Beierlein. Aber was sie dieser
Tage um sich herum beobachtet, stimmt
sie nicht hoffnungsvoll. „Ich kann nicht
verstehen, warum auf beiden Seiten der
Grenze unterschiedliche Ausgangsregeln
gelten. Und wenn ich höre: ‚Frankreich be-
stellt Mundschutze‘, ‚Deutschland bestellt
Mundschutze‘, dann frage ich mich: Wäre
es nicht besser, wir würden gemeinsam
handeln und gerecht verteilen? Warum soll
ein Krankenhaus in Deutschland mehr
oder weniger Mundschutze haben als eines
in Frankreich?“

Ä


hnliche Sorgen beschäftigen dieser Ta-
ge auch einen der wichtigsten Wegbe-
reiter der europäischen Integration, den
Franzosen Jacques Delors. „Die Stimmung,
die zwischen den europäischen Staats- und
Regierungschefs zu herrschen scheint, und
die fehlende europäische Solidarität sind
eine tödliche Gefahr für Europa“, erklärte
der ehemalige Chef der EU-Kommission,
der sich im hohen Alter von 94 Jahren nur
noch selten zu Wort meldet. Es war eine un-
heimliche Warnung an eine Union, in der
nun Gräben aufbrechen, gerade wo es dar-
an geht, wie die Lasten des Lockdowns zu
schultern sein werden (siehe hierzu auch
Seite 42, „Arrivederci, Europa“)
Eineinhalb Autostunden südlich von
Straßburg lebt im Dreiländereck zwischen
Deutschland, Frankreich und der Schweiz
ein Mann, der beides kennt: Das glatte Par-
kett der EU-Diplomatie und das Europa des
Alltags, wie er es nennt, die alltägliche
kommunale Zusammenarbeit über Gren-
zen hinweg. Seit bald 20 Jahren ist Wolfgang
Dietz Oberbürgermeister von Weil am
Rhein. Davor war der gebürtige Weiler 14
Jahre lang in Brüssel, wo er die Landesver-
tretung Baden-Württembergs aufbaute.
Auch für den US-Senat in Washington hat
er gearbeitet. Über sich sagt der 63-Jährige:
„Mein Elternhaus stand 15 Meter von der
Grenze entfernt. Als Kind war das faszinie-
rend für mich, mit je einem Fuß auf einer
Seite der Grenze zu stehen. Meine Kinder
sind auch hier aufgewachsen. Aber die hat-
ten von Grenzen keine Vorstellung mehr.“
Die 31 000-Einwohner-Stadt Weil am
Rhein sei heute ein „melting pot euro-

solchen Lage müssten wir zusammenhal-


ten. Warum kämpft nun wieder jedes Land


für sich? Das Virus macht doch auch an


keiner Grenze Halt.“


Tatsächlich ist unklar, wie wirksam die

Grenzschließung im Abwehrkampf gegen


Covid-19 ist. Zwar ist dem deutschen Grenz-


gebiet zum Elsass eine Katastrophe, wie sie


sich im Raum Mulhouse und Straßburg seit


Wochen abspielt, bisher erspart geblieben.


Dort und im restlichen Grand Est sind seit


Anfang März über 1700 Menschen an Covid-


19 gestorben, auch weil die Kapazitäten der


örtlichen Krankenhäuser nicht ausreichten,


um alle Corona-Patienten zu versorgen, die


eine künstliche Beatmung brauchten.


Seit Mitte März steigt auch die Zahl der


Infizierten auf der deutschen Seite des


Rheins unaufhörlich an. Mehr als 18 000


Sars-CoV-2-Infektionen und 363 Tote wies


die Statistik am vergangenen Samstag-


abend für Baden-Württemberg aus. Einer


der Landkreise mit den meisten Todes-


fällen und der schnellsten Verdoppe-


lungsrate: der Ortenaukreis rund um


Kehl. Auch in den anderen südbadischen 4


„WARUM


KÄMPFT JEDES


LAND


FÜR SICH?“


Luitgard Beierlein, 45, wohnt in Frankreich
und arbeitet in einem Epilepsiezentrum
auf deutscher Seite. Für ihren Arbeitsweg
braucht sie jetzt fünf Formulare

Auch bei Kehl
am Rhein kann
man nur mit
Sondergenehmi-
gung die Grenze
passieren. Hier
radelt Luitgard
Beierlein jeden Tag
zum Dienst nach
Deutschland

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