Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1

DEUTSCHLAND


SCHWEIZ


Straßburg

Saarbrücken

Bern


Basel


Stuttgart


Rems-Murr-Kreis

Bad Bellingen

BURKINA FASO

FRANZÖSISCH-
GUAYANA

AFRIKA

SÜDAMERIKA


FRANKREICH
Grand Est

Département
Haut-Rhin

Am Fastentreffen der Freikirche „Porte Mulhouse
Ouverte“ nehmen rund 2500 Gläubige
aus Frankreich und dem Ausland teil.
In Frankreich sind zu diesem Zeitpunkt
12 Corona-Fälle registriert

Freikirche „Porte Ouverte“,
Mulhouse, 17. bis 21. Februar 2020

Pastor Karambiri, Hauptredner in
Mulhouse, ist der erste Corona-Fall in
Burkina Faso, zwei Wochen später
steht die offizielle Fallzahl bei 100.
Fünf Mulhouse-Rückkehrer in Franzö-
sisch-Guayana werden positiv getestet

Burkina Faso, 9. März,
Französisch-Guayana, 5. März

2500 Corona-Infektionen, ein Viertel
der nationalen Statistik, sind für die
Region dokumentiert. Die große
Mehrheit bringen die Behörden mit
dem Kirchentreffen in Verbindung.
Hotspot ist das Departement
Haut-Rhin, zu dem Mulhouse gehört

Grand Est, 20. März

Offizielle Bestätigung des Freikirchen-
Treffens als Infektionsherd durch die
französischen Gesundheitsbehörden.
Der Versuch, Infektionsketten nach-
zuverfolgen, scheitert, auch weil es
keine Teilnehmerlisten gibt. In der
Folgezeit werden Dutzende Teilneh-
mer überall im Land positiv getestet

Frankreich, 3. März

Zwei Elsass-Reisende werden
positiv auf Corona getestet

Luxemburg, 10. März

Ein 67-jähriger Deutscher, der an
dem Treffen in Mulhouse teilgenom-
men hatte, stirbt, seine 70-jährige
Frau liegt auf der Intensivstation

Rems-Murr-Kreis, 4. März 2020

Ein 54-jähriger Teilnehmer des
Evangelikalen-Treffens stirbt.
16 von ca. 30 Teilnehmern aus
der Schweiz haben sich infiziert

Basel, 11. März

Eine Kurklinik mit 110 Betten wird geräumt,
nachdem ein Teilnehmer des Mulhouser
Treffens fünf Patienten und vier Angestellte
mit Corona angesteckt hat

Bad Bellingen, 19. März

Zwei Mulhouse-Reisende
werden positiv auf
Corona getestet

Bern, 3. März

Rhein

VON MULHOUSE IN DIE WELT


Chronik der Ausbreitung des Virus im Dreiländereck. Und darüber hinaus


päischer Begegnung“ sagt Dietz. „Wir ha-
ben hier erlebt, wie wunderbar es sein
kann, wenn die Grenzen nicht da sind. Das
hat uns alle bereichert, wirtschaftlich und
kulturell.“ Täglich pendeln 3500 Weiler zur
Arbeit in die nahe Schweiz, 500 Elsässer
kommen als Arbeitspendler nach Deutsch-
land. Das große Hallen-Freizeitbad, das
weitläufige Einkaufszentrum, das Vitra De-
sign Museum: Undenkbar ohne die Kund-
schaft von jenseits der nahen Grenzen. Nun
haben sie alle geschlossen. Drei der sieben
Grenzübergänge im Stadtgebiet von Weil
am Rhein sind gesperrt – darunter zwei
nach Frankreich. An den anderen gelten
strenge Kontrollen. Dafür hat auch Wolf-
gang Dietz gesorgt.
Es war am Samstagabend vor vier Wo-
chen, Dietz saß auf seinem Sofa und sah die
Nachrichten, da entschied der Oberbürger-

meister, sich in die große Politik einzu-
mischen. Von seinem französischen Amts-
kollegen in Weils Partnergemeinde jenseits
des Rheins hatte er sich über die Infek-
tionswelle informieren lassen, die das Dé-
partement Haut-Rhin in den Wochen nach
dem Freikirchen-Treffen von Mulhouse er-
fasst hatte. Auf Schweizer Seite der Grenze
galten schon seit Wochen Versammlungs-
beschränkungen, nun hatte auch Frank-
reich eine Ausgangssperre verhängt. Doch
der Grenzverkehr von und nach Deutsch-
land ging weiter wie gewohnt.
Dietz klappte seinen Laptop auf und
schrieb an Bundesinnenminister Horst
Seehofer. „Unter dem Gesichtspunkt der
Durchbrechung von Ansteckungsketten
ist die gegebene Beurteilung durch die
deutschen Behörden der örtlichen Bevöl-
kerung nicht mehr zu vermitteln“, heißt es

in dem Brief. Die Menschen in Weil am
Rhein verglichen „ihre Situation mit der
des Tessin im Verhältnis zur Lombardei
oder Österreichs zu Südtirol“ und erwar-
teten „von den deutschen Behörden ver-
gleichbares Verhalten, um das Eintragen
von Viren aus Risikogebieten zu vermei-
den“. Ein befreundeter Bundestagsab-
geordneter sorgte noch in der Nacht dafür,
dass Dietz’ Brandbrief den Leiter von See-
hofers Corona-Krisenstab erreichte. Tags
darauf kam der Beschluss zur weitgehen-
den Grenzschließung aus Berlin.
Man merkt Wolfgang Dietz auch Wochen
später noch an, wie sehr ihm als überzeug-
tem Europäer dieser Ruf nach Schutz durch
Abschottung widerstrebt. „Ich bin nicht der
König der Grenzschließung“, sagt er. „Aber
wenn das notwendig ist, um die Krise in
den Griff zu kriegen, dann ist das so.“

40 8.4.2020
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