Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1
Doch auch er macht sich Sorgen über den
Schaden, den Europa davontragen könnte.
„Ich befürchte“, sagt Dietz, „dass manche
Leute auf die Idee kommen zu sagen: ‚Weil
die Grenzen offen waren, konnte das Virus
sich ausbreiten.‘ Trump redet schon vom
‚chinesischen Virus‘. Wir Deutsche neigen
auch dazu, immer Schuldige zu finden für
alles und jedes. Da könnte sehr viel zerstört
werden, was in vergangenen Jahrzehnten
mühsam aufgebaut worden ist.“

D


iese Tage und Wochen seien, sagt Dietz,
ein Charaktertest für die ganze Gesell-
schaft – und für Europa. „Wir müssen
alles daransetzen, nach der Krise wieder
dort anzusetzen, wo wir vorher waren.“ Mit
seinem Amtskollegen am anderen Rhein-
ufer in Huningue telefoniert er mehrmals
in der Woche. Bei einem der letzten Ge-
spräche erzählte der, dass der Bürgermeis-
ter eines Nachbarorts zur Behandlung
nach Bonn ausgeflogen wurde. „Spätestens
in solchen Momenten“, sagt Dietz, „bekom-
men die Zahlen Gesichter.“
Auch Brigitte Klinkert, die Präsidentin
des am stärksten betroffenen Départe-
ments Haut-Rhin, betonte im Interview:
„Diese Solidarität ist ein starkes Symbol
für die funktionierende Zusammenarbeit
in unserer Grenzregion und für Europa.
Unsere Art der Diplomatie und der Zusam-
menarbeit besteht vor allem aus persönli-
chen Kontakten und langjährigen Freund-
schaften.“ Es war Klinkerts Hilferuf nach
Baden-Württemberg und in die Nachbar-
kantone der Schweiz gewesen, der die Luft-
brücke für Elsässer Corona-Patienten ab

dem 20. März in Gang gebracht hatte, nach-
dem die Regierung in Paris dem krisen-
geschüttelten Mulhouse zunächst nur ein
Zeltlazarett der Armee mit 30 Intensiv-
betten zur Entlastung anbieten konnte.
Inzwischen sind mehr als 100 Corona-Pa-
tienten aus überlasteten Krankenhäusern
im Elsass nach Deutschland verlegt worden.
Auch im Kleinen funktioniert die
deutsch-französische Kooperation an
vielen Orten weiter. Am vergangenen
Wochenende etwa spendete der Inhaber
eines geschlossenen Freizeitparks auf
deutscher Rheinseite 25 000 Regenpon-
chos aus Plastik aus seinen Beständen nach
Frankreich. Die sollen nun an Pflegeheime
verteilt werden, denen die Schutzkittel
ausgegangen sind. Andernorts hatte schon
vor Wochen eine deutsche Kleinstadt
dem Altenheim der französischen Partner-
gemeinde kurzerhand mit einer Lieferung
Schutzmasken ausgeholfen.

Und immer schwingt die Hoffnung mit,
dass solch kleine und große Gesten den
Geist Europas trotz Lockdown über die
geschlossene Grenze hinweg am Leben
erhalten helfen.

A


nruf in Mulhouse bei Pastor Samuel
Peterschmitt von der evangelikalen
Gemeinde „La Porte Ouverte Chrétien-
ne“ – die geöffnete christliche Pforte –, die
nun wegen Corona geschlossen ist. Inner-
halb weniger Tage erlangte das schmuck-
lose Gebäude, ein umgebautes Shopping-
center mit 2200 Sitzplätzen, in Frankreich
traurige Berühmtheit. Die Nachbarn be-
schimpfen es als Seuchenherd.
Etwa 70 Teilnehmer des Fastentreffens
vom Februar seien noch im Krankenhaus,
sagte Peterschmitt. Mehrere lägen im
Koma. 17 sind bisher gestorben. Der 55-jäh-
rige Pastor muss selbst immer noch hus-
ten, auch ihn hat das Virus getroffen. „Sie
können sich nicht vorstellen, wie brutal
diese Krankheit ist“, sagt er. „Seit fünf Wo-
chen dauert das nun an. Ich musste in die
Klinik, bekam Sauerstoff. Auch jetzt geht
es nur in kleinen Schritten aufwärts.“ Sei-
ne Kinder und Enkelkinder haben sich
ebenfalls angesteckt, insgesamt 22 Fami-
lienmitglieder. „Was passiert ist, steckt uns
noch sehr in den Knochen“, sagt Peter-
schmitt. Damit meint er auch die Vorwür-
fe gegen seine Familie und die Gemeinde.
Sogar Morddrohungen habe es gegeben.
Bereut er, dass das Treffen stattgefunden
hat? Der Pastor seufzt. „Wissen Sie, wenn mir
vorher jemand diesen Film gezeigt hätte,
wenn ich nur etwas geahnt hätte – dann hät-
te ich diesen Gottesdienst niemals veran-
staltet!“ Die Versammlung fand statt, als es
noch keinerlei Beschränkungen wegen Co-
rona gab. „Doch das Virus war schon da. Und
wir haben es verkettet. Das ist furchtbar.“
Wie alle Franzosen verbringt er die
Tage nun in häuslicher Isolation. Die
Offenheit gegenüber der Welt, die seine
Kirche im Namen trägt, ist ausgesetzt. Die
Grenzen sind geschlossen. „Für die Hil-
fe durch deutsche Krankenhäuser sind
wir sehr dankbar. Wir hoffen, dass wir uns
eines Tages auch hilfsbereit zeigen
können. Deutschland ist nicht in einer
solchen Notsituation wie wir. Ich hoffe,

das bleibt so.“ (^2)
„WAS PASSIERT
IST, STECKT UNS
NOCH SEHR
IN DEN KNOCHEN“
Pastor Samuel Peterschmitt, 55, organisierte
das freikirchliche Fastentreffen in
Mulhouse, infolgedessen sich Tausende
in der Region mit dem Virus infizierten
8.4.2020 41
Recherche unter Corona-Bedingungen: Isabel
Stettin nutzte in Baden-Württemberg lokale
Kontakte. Steffen Gassel und Andrea Ritter
führten Telefoninterviews von Hamburg aus,
und Éric Vazzoler fotografierte mit Sohn Sören
auf beiden Seiten des Rheins, unter anderem
den Arbeitsweg seiner Frau Luitgard Beierlein

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