Der Stern - 08.04.2020

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FOTOS: FILIPPO ATTILI/EPA/SHUTTERSTOCK; MARIO HOMMES/DEFODI IMAGES

Das Coronavirus treibt die EU


auseinander. Der größte


Streit steht noch bevor: Wer zahlt


für die enormen Schäden?


ARRIVEDERCI,


EUROPA


Von Andreas Hoffmann


Ein Dienstagabend im März, kurz vor halb neun. In
Millionen deutscher Haushalte taucht ein honoriger
Herr im Fernsehen auf. Er trägt einen blauen Anzug, ein
weißes Hemd, dezent gemusterte Krawatte. Neben ihm
stehen die europäische und die italienische Flagge.
Giuseppe Conte, Ministerpräsident von Italien, soll von
der ARD interviewt werden, doch der gelernte Jurapro-
fessor hält eine staatsmännische Ansprache. Spricht
über die Toten in den Militärlastern, über die „Wunde“,
die das Virus seinem Land zufügt, und dass „Europa
zeigen muss, ob es ein gemeinsames Haus ist“.
Ein gemeinsames Haus, Europa? In Zeiten von Covid-19
geben die EU-Staaten ein anderes Bild ab. Das Haus steht
noch, aber die Mieter haben sich in ihren Wohnungen
verrammelt. Es regieren Kleinstaaterei und Abschottung.
Dabei wollten die Staats- und Regierungschefs die Krise
gemeinsam bekämpfen, versprachen sie noch auf einem
Gipfel Mitte März. Tags darauf schloss Österreich die
Grenzen, danach Tschechien und Polen. Zeitweise ließen
österreichische Grenzer Deutsche am Brenner nur rein,
wenn der Tank für die Nonstop-Durchfahrt nach hause
reichte, von anderen verlangten sie Atteste.
Nach ein paar Tagen sperrte selbst Deutschland die
Grenzen, obwohl Kanzlerin Merkel lange dagegen war.
Unsere Regierung wollte Schutzkleidung im Land
behalten und verhängte einen Exportstopp, eigentlich
ein Tabu im Binnenmarkt. Die Freiheit zu reisen, zu han-
deln und zu arbeiten, von Athen bis Dublin, wurde über
Nacht Geschichte. Ob die Freiheit zurückkehrt, ist
unklar. Die Lage sei „ernst wie noch nie und gefährlich“
für die Europäische Union, sagte Außenexperte Norbert
Röttgen (CDU).
Dabei galt die EU als Anker in einer krisengeschüt-
telten Welt. „Die Welt ruft nach mehr Europa“, sagte
Ursula von der Leyen, nachdem sie im vergangenen
Sommer zur Kommissionschefin gewählt wurde. Was
schützt gegen einen unberechenbaren US-Präsidenten?
Mehr Europa. Was hilft gegen den Aufstieg von China

und Indien? Mehr Europa. Mehr Europa galt als politi-
sches Breitband-Antibiotikum.
Nur nicht gegen Covid-19. Das Virus bekämpft jeder
anders. In Spanien gelten scharfe Ausgangssperren, wo-
bei Polizisten sogar Taschen durchstöbern. Sie wollen
sehen, ob die Leute tatsächlich eingekauft haben. In
Tschechien darf nur raus, wer eine Maske trägt, und
Schweden erlaubte bis Anfang April Ansammlungen
von bis zu 50 Menschen. Dass die Länder so verschie-
den handeln, ist kein Versagen von Brüssel. Gesund-
heitspolitik ist Sache der Länder. Doch im Kampf gegen
das Virus entdecken viele den Nationalstaat neu. In
Italien glaubt nach Umfragen nur noch ein Drittel, dass
Europa hilft, in Frankreich werben Supermärkte für 100
Prozent französisches Gemüse, und in Ungarn entmach-
tet Viktor Orbán das Parlament.
Tschüs, Europa? Die EU war eine Erfolgsgeschichte.
Schaffte Frieden, brachte Wohlstand für abgehängte
Länder. Dank EU-Verordnungen telefonieren wir überall
billig und werden für einen ausgefallenen Urlaub
entschädigt. Wenn Apple, Facebook oder Google Be-
schränkungen erhalten, liegt das an EU-Wettbewerbs-
kommissarinnen wie Margrethe Vestager.
Doch die Erfolgsstory hat dunkle Kapitel. Griechen-
landhilfe, Eurokrise, Masseneinwanderung, Brexit. Mal
kämpfte der Osten gegen den Westen, weil er keine
Flüchtlinge aufnehmen wollte. Mal der Norden gegen
den Süden, weil der Süden, wie der frühere niederländi-
sche Finanzminister Jeroen Dijsselbleom meinte, nicht
„Geld für Schnaps und Frauen“ ausgeben und dann die
Hand aufhalten könne. Europa, eine zerrissene Union.

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POLITIK


42 8.4.2020

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