Das Virus verändert auch Brüssel. Wo früher Soldaten
und Panzersperren am Place de Schuman während der
EU-Gipfel standen, herrscht Leere. Die Mächtigen treffen
sich per Video. In den vergangenen Wochen hat Ursula
von der Leyen kaum die Stadt verlassen, ihre Familie
sieht sie per Skype. Sie schläft sogar im Berlaymont, dem
Sitz der Kommission, und verlässt es nur zum Joggen.
D
en Drang zum Nationalen will sie zurückdrehen. Sie
ließ Leitlinien für die Grenzkontrollen erarbeiten,
damit Laster und Pendler besser durchkommen. Sie
drohte den Ländern mit Klagen, wenn sie Exportverbo-
te aufrechterhalten, machte Milliarden aus Struktur-
fonds locker, will ein europaweites Kurzarbeitergeld
schaffen. „Als Europa füreinander da sein musste, haben
zu viele zunächst nur an sich selbst gedacht“, sagte sie
im EU-Parlament. Das müsse sich ändern.
Erschrocken über ihr Versagen ändern die Länder nun
vorsichtig den Kurs. Exportverbote werden gelockert.
Deutschland schickt Atemmasken nach Italien,
Bundeswehr-Maschinen schaffen Schwerkranke aus
Italien und Frankreich in deutsche Kliniken. Doch das
Misstrauen bleibt. Der portugiesische Ministerpräsi-
dent António Costa sagt: „Entweder die EU tut, was sie
tun muss, oder sie ist am Ende.“
Der entscheidende Streit steht noch aus. Wie werden
die Kosten gerecht verteilt? Italien und Spanien bekla-
gen nicht nur Tausende Tote, beide Länder werden sich
nur schwer erholen können. Bereits vor der Krise kämpf-
te Italien mit hohen Schulden. Spanien leidet unter
starker Arbeitslosigkeit, unter jungen Leute hat jeder
dritte keine Stelle, jeder vierte Job ist befristet. Hilfspa-
kete von 1,4 Billionen Euro, wie sie die Deutschen vor-
legen, können diese Länder nicht schnüren. Daher soll
die EU die Last stemmen. Italien, Spanien, Frankreich
und sechs weitere Länder kramen eine alte Idee hervor
- den Corona-Bond, der früher Euro-Bond hieß, aber im
Gegensatz dazu einmalig und zeitlich begrenzt sein soll.
Statt Anleihen einzelner Länder gäbe es einen gemein-
samen Schuldschein. Das Volumen: 1000 Milliarden
Euro. Italien, Spanien und Griechenland könnten sich
fast so günstig Geld leihen wie Deutschland. Für eine
zehnjährige Bundesanleihe wurde vorige Woche ein
Minuszins von 0,5 Prozent fällig, für italienische Staats-
papiere liegt der Pluszins bei 1,6 Prozent.
Die Niederlande und Deutschland sind dagegen. Eine
„gemeinsame Kreditkarte anzuschaffen kann nicht die
Lösung sein“, sagte CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak.
Helfen soll der europäische Rettungsschirm (ESM), der
bis zu 410 Milliarden Euro Kredite verteilen kann. Doch
dagegen sträubt sich der Süden, denn der ESM hat einen
Makel. Er hilft nur Pleite-Kandidaten und verlangt
Reformen, wie Renten und Sozialausgaben zu kürzen –
was derzeit keine gute Idee ist.
Erschwert wird die Sache dadurch, dass die Politiker
in der Heimat unter Druck stehen. Emmanuel Macron
fürchtet die französische Rechtsaußen-Politikerin
Marine Le Pen, Giuseppe Conte den Populisten Matteo
Salvini, der niederländische Ministerpräsident Mark
Rutte anstehende Wahlen und Angela Merkel ein
weiteres Erstarken der AfD. Die Rechtsextremen haben
ja als Anti-Euro-Partei begonnen. Andererseits wird sich
Deutschland nur erholen, wenn sich Europa erholt. Gut
60 Prozent unser Ausfuhren gehen in die EU. „Wenn wir
helfen, dass Italien schnell wieder auf die Beine kommt,
helfen wir uns selbst“, sagt Gabriel Felbermayr vom
Institut für Weltwirtschaft in Kiel.
Am Ende fließt das Geld vermutlich aus vielen Kanä-
len. Die EU-Kommission will sich 100 Milliarden Euro
leihen, damit alle Staaten Kurzarbeitergeld zahlen; die
Europäische Investitionsbank bis zu 200 Milliarden Dar-
lehen an Firmen verteilen; der ESM wveitere 100 bis 200
Milliarden Euro an Staaten geben, dann ohne große
Auflagen. Auf ihrem nächsten Gipfel im April wollen
die Staats- und Regierungschefs entscheiden. Und wo-
möglich wird es eines Tages auch Corona-Bonds geben.
Giuseppe Conte hat bereits versprochen, dass „Deutsch-
land keinen Euro für Italiens Schulden zahlen“ soll.
Er wolle nur „vorteilhafte Marktbedingungen“. 2
Italiens Premier
Giuseppe Conte im
Gespräch mit der
EU-Kommissions-
chefin Ursula von
der Leyen (links,
Mitte). Die EZB in
Frankfurt am Main
kauft schon seit
Jahren Anleihen,
um die Eurozone
stabil zu halten.
Doch wird
das reichen?
stern-Redakteur
Andreas Hoffmann
war häufig auf
EU-Gipfeln in
Brüssel. Und ärgert
sich, dass er nun
in Berlin festsitzt
8.4.2020 43