Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1

V


or mehr als 200 Jahren,
genauer gesagt 1796,
wurde die moderne
Schutzimpfung gegen
Seuchen erfunden, als
der britische Arzt Ed-
ward Jenner entdeckte, dass man Menschen
gegen Pocken immunisieren konnte, indem
man sie mit harmlosen Kuhpocken infi-
zierte. Das Verfahren der „Vakzination“ lös-
te die davor angewendete „Inokulation“ ab,
bei der man Menschen zu immunisieren
versuchte, indem man Kranken Lymphe
aus den für Pocken typischen Pusteln ent-
nahm und sie anderen per Skalpell unter
die Haut brachte. Das senkte tatsächlich die
Sterblichkeit, war aber natürlich nicht
ungefährlich und barg die Gefahr heftiger
Epidemien, wenn frisch Infizierte andere
ansteckten.
Demgegenüber war Jenners Impfverfah-
ren ein wahrer Segen, warf aber doch auch
einige Probleme auf. Wie sollte man zum
Beispiel den Kuhpocken-Impfstoff auf
einen anderen Kontinent bringen, zu Zei-
ten, als an funktionierende Kühlketten
noch nicht zu denken war? Die Lösung:
Man nahm eine hinreichende Anzahl Wai-
senkinder an Bord und infizierte sie auf der
Reise eins nach dem anderen mit Lymphe
aus den Pusteln des jeweils zuvor infizier-
ten Kindes. Man musste dann nur darauf
achten, dass man so viele Kinder dabeihat-
te, dass bei der Ankunft im Zielhafen noch
mindestens eines virulent krank war.
Andere Zeiten, andere Maßnahmen. Da-
gegen sind Kontaktbeschränkungen, wie
sie gegenwärtig angeordnet sind, doch
eine eher milde Angelegenheit.
Diese kleine grausame Episode über die
Nutzung von Menschen als Reservoir für
Erreger ist aber nur ein kurzes Kapitel aus
der Geschichte der Seuchenbekämpfung.
In der sind vor allem zwei Aspekte bemer-
kenswert: Erstens, das zeigt schon der Fall
Jenner, wurde die Bekämpfung von Epide-
mien immer wissenschaftlicher. Statt Sün-
denböcke – Hexen, Ungläubige, Juden – für
ein Massensterben wie die Pest verant-
wortlich zu machen, entdeckte man die
mikroskopisch kleinen Verursacher und
die unhygienischen Bedingungen ihres Er-
folgs. Entsprechend wurden die Entdecker
von Mikroben wie Robert Koch und Louis
Pasteur Helden ihrer Zeit und weit darü-
ber hinaus; unsere täglichen Pande-
mie-Zahlen bekommen wir ja heute noch
vom Robert Koch-Institut.
Zweitens gilt die Pest als die Geburts-
stunde moderner Verwaltung, weil man
vielerorts versuchte, der Seuche Herr zu

werden, indem man Infizierte isolierte und
exakt Buch über Zahl, Alter und Adresse
der Betroffenen führte. Die Obrigkeit fing
an, gesundheitspolitisch aktiv zu werden,
sich um das Überleben der Untertanen und
Bürger zu kümmern – und sollte dies im
Laufe der folgenden Jahrhunderte nun im-
mer intensiver tun.
Das hat mit der Entstehung moderner
Staatlichkeit selbst zu tun. Während das
Leben der Menschen zu Zeiten von Feuda-
lismus und Absolutismus vom Willen der
Lehnsherren, Fürsten und Monarchen ab-
hing und niemand sich auf gleiche Rechte
berufen konnte, begann sich der moderne
Staat nicht nur als Kontroll-, sondern auch
als Schutzmacht für alle zu entfalten, die
zu ihm gehörten. Das war vorher nicht der
Fall: Das Verfahren für einen feudalen
Herrscher, seine Macht zu mehren, bestand
nicht nur in intensivster Ausbeutung sei-
ner Untergebenen, sondern auch darin, an-
dere Herrscher zu besiegen und ihr Land
dem eigenen Herrschaftsbereich einzuver-
leiben. Dass unter solchen Bedingungen
Menschenleben nicht allzu viel zählen,
leuchtet ein.

zunehmende Einfluss von Sozialrefor-
mern, die schimmelige Wohnungen, feh-
lende sanitäre Einrichtungen und Dreck in
den Straßen als ungesund und gefährlich
erkannten und jene Hygienestandards
durchsetzten, die heute in den reichen Ge-
sellschaften als völlig normal gelten.
Diese Zeitrafferaufnahme einer langen
historischen Entwicklung blendet aller-
dings aus, dass es auch nach dem 19. Jahr-
hundert noch dauerte, bis sich generell ein
Menschenbild durchzusetzen begann, wie
es der allgemeinen Erklärung der Men-
schenrechte zugrunde liegt. Das geht nicht
nur von der Gleichheit aller Menschen aus,
sondern auch davon, dass alle Menschen
die gleichen Rechte haben, zu überleben.
Wie schwer es ein solches Menschenbild
hatte, in der Wirklichkeit Fuß zu fassen,
zeigen schon ein paar Zahlen aus dem


  1. Jahrhundert. In dieses Jahrhundert fal-
    len nicht nur die größten Massenmorde
    der Geschichte, sondern auch zum Teil
    bewusst herbeigeführte Hungersnöte, so-
    genannte ethnische Säuberungen, Mas-
    senvergewaltigungen, Vernichtung durch
    Arbeit und andere Verbrechen gegen
    Schwache und Unterlegene, die man sich
    heute kaum noch vorstellen kann. Tat-
    sächlich ist es erst eine, zwei oder drei
    Generationen her, dass 60 bis 70 Millionen
    Menschen im Zweiten Weltkrieg gewalt-
    sam zu Tode kamen, dass das China Mao
    Tse Tungs 40 Millionen verhungern ließ,
    dass Stalin 20 Millionen umbrachte. Das
    größte aller Menschheitsverbrechen, der
    Holocaust, ist nicht länger als drei Gene-
    rationen her, die Millionen Opfer der Ro-
    ten Khmer in Kambodscha starben in den
    1970er Jahren, die Hunderttausende des
    Völkermords in Ruanda 1994.


Die Idee vom Recht auf Leben


Was will ich mit dieser Aufzählung sagen?
Dass es weltgeschichtlich noch nicht
lange her ist, dass Gesellschaften und ihre
Herrscher ohne Zögern und Skrupel bereit
waren, große Gruppen von Minderheiten
sterben zu lassen oder umzubringen. Na-
türlich ist so etwas auch heute noch nicht
gänzlich aus der Welt verschwunden, und
wie wir wissen, sind die Menschenrechte
keineswegs überall garantiert, aber die
Kriege sind erheblich weniger geworden,
die Völkermorde gleichfalls, und die Vor-
stellung, dass Menschen ganz unabhängig
von ihrem Geschlecht, ihrem Alter, ihrem
Glauben und ihrer Bildung das Recht auf
Leben haben, hat sich im Vergleich zum
vergangenen Jahrhundert in ganz enormer
Weise ausgebreitet. Und sie ist nicht nur 4

Das verändert sich aber, wenn die Meh-
rung von Reichtum und Macht nicht mehr
nur von Eroberungen, sondern auch von
Handel, Industrie und – wie man heute sa-
gen würde – Globalisierung abhängt. Dann
beginnen Menschenleben deshalb zu zäh-
len, weil es besser scheint, Arbeitskraft zu
qualifizieren und zu nutzen, als zu zerstö-
ren. Hinzu kommen Fortschritte in Wis-
senschaft und Technologie und Philoso-
phien wie die der Aufklärung, die Vernunft
und Bildung und nicht zuletzt auch die Idee
von der Gleichheit der Menschen unter die
Leute bringen. Diese kulturellen Verände-
rungen bringen im 19. Jahrhundert zusam-
men mit rasanten Fortschritten in der
Seuchenbekämpfung die Vorstellung in die
Welt, dass Staaten vorsorgend für das Wohl-
ergehen ihrer Bürgerinnen und Bürger
zuständig sind. Das Entstehen einer erfolg-
reichen Labormedizin vom Typ Koch oder
Pasteur war dafür ebenso hilfreich wie der

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GESELLSCHAFTEN


MINDERHEITEN


STERBEN ODER


BRACHTEN SIE UM


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