Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1
Harald Welzer lehrt an der Univer-
sität Flensburg und leitet die Stiftung
Futurzwei in Berlin. Der 61-Jährige
erlebt Deutschland gerade als
„großartig funktionierendes Land mit guter
Politik und super Bürgerinnen und Bürgern“

Vorstellung geblieben, sondern hat sich in
höchst konkreter Weise in politisches Han-
deln umgesetzt.
Das ist, bei allem, was man heute noch
nicht über die Wirkungen der Corona-
Krise sagen kann, eine extrem wichtige
Botschaft: Alle Maßnahmen, die in den
meisten Gegenden der Welt zur Eindäm-
mung der Pandemie getroffen werden,
werden zugunsten von Minderheiten ge-
troffen. Denn hinsichtlich der Gefährlich-
keit unterscheidet das Virus ja deutlich
zwischen den Risikogruppen der Älteren
und Vorerkrankten und einer übergroßen
Mehrheit, die mit großer Sicherheit nicht
lebensgefährlich erkrankt. Dass man die-
ser Mehrheit fast überall auf der Welt er-
hebliche Einschränkungen auferlegt und
dafür sogar die Zivilreligion Wirtschafts-
wachstum von der ersten in die zweite
Reihe verschiebt, ist ein unglaublich

Auschwitz ermordet worden war. Bevor die
Corona-Krise richtig ausbrach, haben wir
einen Exzess des Inhumanen an der
türkisch-griechischen Grenze gesehen, wir
haben den Krieg in Syrien, die Verbrechen
an den Rohingya und an den Uiguren; noch
immer gibt es Gewalt gegen Frauen, gegen
Kinder, Menschenhandel und Stellvertre-
terkriege. Und es gibt eine Renaissance von
Rassismus und Nationalismus, leider auch
in Europa. Trotz solcher Rückfälle aber
zivilisiert sich die Menschheit weiter, der
globale Umgang mit der Seuche legt davon
Zeugnis ab.

Corona-Krise und Klima-Krise


Und wie ist es mit der Menschheitsbedro-
hung Klimawandel? Denn hinsichtlich der
Gefahr gibt es eigentlich nur einen Unter-
schied zwischen Corona-Krise und Kli-
ma-Krise: Die tödlichen Auswirkungen
des Virus werden schneller sichtbar. Die
Unmittelbarkeit der Bedrohung lässt alle
Arten von Maßnahmen gerechtfertigt
erscheinen, bei denen man im Fall des
Klimawandels sofort „Ökodiktatur“ oder
„Hysterie“ rufen würde. Aus nur einem
Grund: aus Solidarität.
Und genau an dieser Stelle bemerkt man
noch einen zweiten Unterschied zwischen
den beiden Krisen: Bei Corona sind vor al-
lem die Älteren direkt betroffen; bei ihnen
kann eine Infektion mit dem Virus lebens-
gefährlich sein. Beim Klimawandel ist es
genau umgekehrt: Da sind es vor allem die
Jungen, die die Folgen einer ungebrems-
ten Klimaerwärmung zu tragen haben.
Gesellschaften lernen, wie der Soziologe
Karl-Otto Hondrich gesagt hat, vor
allem wider Willen, aus Kriegen und aus
Krisen. Vielleicht kann man also den zivi-
lisatorischen Fortschritt, der sich jetzt als
Solidarität mit den Älteren ausdrückt, auch
für die junge Generation anwenden, wenn
die Corona-Krise überstanden ist. Dann
können sich alle dafür einsetzen, dass die
junge Generation dieselben Lebenschan-
cen hat wie ihre Vorgängergenerationen sie
für sich in Anspruch genommen haben.
Das wäre Klimaschutzpolitik als prakti-
zierte Solidarität, genau wie jetzt Gesund-
heitspolitik praktizierte Solidarität ist.
Eine Lerngeschichte des zivilisatorischen

Fortschritts. (^2)
großer zivilisatorischer Fortschritt. Vor
einer, zwei, drei Generationen hätten nicht
wenige Staaten keine Sekunde gezögert,
diese Minderheiten sterben zu lassen. Und
auf die Idee, Waisenkinder als Impfstoff-
reservoirs zu verwenden, würde heute
auch niemand mehr ernsthaft kommen.
Insofern offenbart die Corona-Krise, so
furchtbar sie ist, doch auch Einsichten da-
rüber, dass die Welt eben nicht permanent
schlechter wird, sondern in mancher Hin-
sicht permanent besser. Darauf hatten ja
in den vergangenen Jahren schon Wissen-
schaftler wie Hans Rosling oder Steven
Pinker hingewiesen, und zeit seines Lebens
hat solcher Fortschritt einen der wichtigs-
ten Denker des 20. Jahrhunderts beschäf-
tigt, Norbert Elias. Seine Theorie des
Zivilisationsprozesses hat eine Linie
absinkender Gewalt und wachsender
Lebenssicherheit nachgezeichnet, anders
gesagt: einen über die Jahrhunderte hin-
weg besser werdenden Umgang der Men-
schen miteinander.
Dass der Zivilisationsprozess nicht linear
verläuft und auch rückläufige Phasen der
Entzivilisierung bereithält, wusste nie-
mand besser als Elias, dessen Mutter in
DIE WELT WIRD
IN MANCHER
HINSICHT
PERMANENT
BESSER
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