Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1
FOTOS: MATTHIAS HASLAUER; ANDREAS EUCKER/STERN

D


ie Giraffe nervt jetzt schon. Sie hängt
gegenüber von meinem Esstisch,
eine Fotografie, frontal aufgenom-
mener Tierkopf vor schwarzem Hin-
tergrund, gold gerahmt. Die Giraffe
glotzt mich an; vorher hat sie das nie
getan, vorher war sie aber auch nur ein Bild im Esszim-
mer, also dem Raum der Wohnung, in dem ich mich
lediglich aufhalte, wenn ich Besuch herumführe: „Und
hier kann man halt essen.“ Aber auch das bloß in der
Theorie, Besuch isst bei mir für gewöhnlich auf der
Couch. Nun aber ist das Esszimmer ein Arbeitszimmer,
seit zehn Tagen gilt für die gesamte stern-Redaktion
coronabedingtes Zwangshomeoffice, und der Verdruss
meinerseits könnte größer kaum sein.
Natürlich weiß ich, wie wichtig es ist, dass wir alle das
Haus nur in Notfällen verlassen. Auch ist mir klar, dass
jede physische Konferenz gerade einer dieser asozialen
Parkpartys gleichkommen würde, über die ich mich
selbst so aufrege. Und überhaupt sollte ich froh sein,
parallel zu meiner Arbeit keine Kinder bespaßen zu müs-
sen. Wo also liegt mein Problem? Kann ich erklären:
Natürlich haben wir technisch längst alle Möglichkei-
ten, uns ganz ohne persönliche Begegnung zu treffen. In
Chaträumen, „Teams“- und „Skype“-Konferenzen, mit
Video, ohne Video. Seit gestern weiß ich sogar, wie man
seinen Kollegen den eigenen Computerbildschirm frei-
gibt (und obwohl mir klar ist, dass sich das auf den digi-
talen Schreibtisch beschränkt, habe ich vorsichtshalber
sofort auch den echten aufgeräumt). Es ist alles ganz
prima organisiert. Und trotzdem: Ich vermisse das Büro.

Ich vermisse es schrecklich, es geht schon los mit der
Anfahrt. Mir ist überhaupt nicht mehr klar, was man
gegen Berufsverkehr haben kann. Am allerbesten denkt
der Mensch doch während stupider Fortbewegung. Man
bremst und rollt an Baustellen vorbei, schaut ziellos aus
dem Busfenster, tagträumt in der U-Bahn vor sich hin,
und plötzlich geht der Kopf auf unerwarteten Wegen
spazieren. Die besten Ideen für Geschichten hatte ich
stets im Auto – auch dieser Text wäre gewiss originel-
ler geworden, hätte ich in den vergangenen Tagen nur
eine Fahrbahnverengung gefunden, vor der ich einige
Minuten sinnlos hätte herumstehen können. Stattdes-
sen: acht Meter zwischen Bett und Bad, drei zwischen
Bad und Schreibtisch, zwei bis zum Kühlschrank – die
Gedanken halten Sicherheitsabstand.
Dabei schwante mir schon vor Corona, wie schön, ja
sinnstiftend, allein das Passieren des Eingangsbereichs
der Firma, des Verlags oder sonstigen Bürogebäudes sein
kann, in dem man aktuell arbeitet.
Anfang 2014 war ich für ein paar Monate arbeitslos,
bis ich für ein befristetes Projekt bei einem anderen
Nachrichtenmagazin in Hamburg anheuern durfte.
Der vielleicht schönste Moment dieser Zeit: Montag-
morgen, eher -früh, ich war erst seit zwei, drei Wochen
in der Redaktion und hatte immer noch Bange, das
Tagespensum nicht zu schaffen, war überhaupt sehr
aufgeregt, hielt ich an der Tiefgaragenschranke und
hörte den Pförtner einen der schönsten Sätze sagen,
die quasi fremde Menschen so füreinander übrig ha-
ben: „Schön, dass Sie da sind!“ Für den Rest des Tages
lief ich wie auf Wolken.

Büromance


Giraffen haben in der Wildbahn keine natürlichen Feinde. Im Homeoffice schon

Homeoffice galt lange als Privileg.


Nun dürfen gerade fast alle zu Hause


arbeiten. Unsere Autorin zieht nach


zehn Tagen Bilanz: Es ist schrecklich!


Lena Steeg
arbeitet erst seit
einem halben Jahr
beim stern. Den
Trennungsschmerz
schmälert das nicht


50 8.4.2020

GESELLSCHAFT

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