Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1

stern-Reporter Bernhard Albrecht hat Rüdiger Nehberg kennen und


außerordentlich schätzen gelernt. Ein Nachruf


Herz auf zwei Beinen


GESELLSCHAFT


FOTOS: MARIA FECK/LAIF; IMAGO

S


ein Beruf war es, Rüdiger Neh-
berg zu sein. Ein Beruf, den es
nur einmal gibt auf der Welt.
Er war Abenteurer, Überle-
bensspezialist, Würmerfres-
ser, Konditor, Bestsellerautor,
großer Entertainer, vor allem aber: Men-
schenrechtler. Wenn es einen einzigen
Satz gibt, den er der Welt hinterlassen
wollte, dann ist es wohl dieser: „Weibliche
Genitalverstümmelung ist Sünde.“ Vor
21 Jahren wurde die Idee für diesen Satz
in seinem Kopf geboren. Seitdem arbeite-
ten er und seine Frau Annette unermüd-
lich daran, dass dieser Satz in der ganzen
islamischen Welt bekannt wird.
Drei Wochen im Jahr 2009 waren der Do-
kumentarfilmer Karsten Scheuren und ich
mit Nehberg in Äthiopien für Dreharbei-
ten unterwegs. Danach blieben wir in Kon-
takt, sahen oder sprachen uns ein, zwei Mal
im Jahr. Ich lud ihn zu meiner Hochzeit ein
und war stolz, dass er kam. Ich schätzte den
Abenteurer, den Kämpfer, vor allem aber
den authentischen und herzlichen Men-

schen. Den Mann, der es sich zur Mission
gemacht hatte, gegen ein Unrecht zu
kämpfen, und der sich dabei durch nichts
entmutigen ließ.
Hätte irgendjemand das vorhersehen
können? Am allerwenigsten Rüdiger Neh-
berg selbst, der gern damit kokettierte,
dass er doch nur ein einfacher Bäcker sei.
„Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet ich
mal zu Großmuftis, Botschaftern, Politi-
kern und Gelehrten vorgelassen werde?“,
sagte er gern. „Der Bäcker und der König“
sollte das Buch eigentlich heißen, an dem
er bis wenige Wochen vor seinem Tod fie-
berhaft arbeitete. Der Titel spielte auf sein
Ziel an, beim König Saudi-Arabiens, dem
obersten Hüter der heiligen Stätten von
Mekka und Medina, mit seinem Anliegen
Gehör zu finden. Schon damals in Äthio-
pien erzählte er mir von seiner Vision – ein
Transparent, aufgehängt zwischen den
Türmen von Mekka, auf dem stehen soll-
te: „Weibliche Genitalverstümmelung ist
Sünde“. Eines der „großen Verbrechen der
Menschheit“, von dem laut WHO-Angaben

200 Millionen aller heute lebenden Mäd-
chen und Frauen in 30 Ländern betroffen
sind, würde dann ein baldiges Ende finden,
so seine Hoffnung.
Das Erscheinen seines Buchs, jetzt unter
dem Titel „Dem Mut ist keine Gefahr ge-
wachsen“, hat er um wenige Tage verpasst.
In der Autobiografie, fesselnd geschrieben
wie ein Roman, führt er einen roten Faden
durch sein Leben und versucht verständlich
zu machen, warum sich aus einer Station die
nächste zwingend ergab. Diesen roten Fa-
den gibt es natürlich nur zurückblickend.
Was man von Rüdiger Nehberg lernen
kann: Ab und zu gelangt man im Leben an
ein Sprungbrett. Nimmt man es, dann ka-
tapultiert es einen in etwas Neues, das man
sich so vorher nie hätte vorstellen können.
Nehberg nahm viele dieser Sprungbretter,
weil er das Risiko liebte und weil ihm das
wohlgeordnete Leben der Familie, aus der
er stammte – Großvater und Vater Bank-
angestellte –, immer zuwider war.
Im Alter von 17 Jahren erzählte er seinem
Vater, er reise nach Paris – in Wirklichkeit

Nehberg zu
Hause, in
Schleswig-
Holstein

54 8.4.2020
Free download pdf