Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1

schlug er sich mit dem Fahrrad nach Ma-


rokko durch. Es war der Beginn eines Le-


bens, das über viele Jahrzehnte zweigleisig


verlief. Zu Hause die eigene Konditorei, da-


neben die Expeditionen, die ihn berühmt


machten. Die Erstbefahrung des Blauen


Nils, den er mit zwei Freunden nach häufi-


gem Kentern, Angriffen von Krokodilen


und Nilpferden bezwang. Drei Atlantik-


überquerungen – per Tretboot, per Bam-


busfloß und auf einer massiven Tanne.


Mehrwöchige Märsche durch Deutschland


oder den brasilianischen Regenwald ohne


Nahrung. Nehberg aß Käfer und Würmer;


einmal würgte er vor laufender Kamera eine


Schlange, bis sie den zuvor verschlungenen


Frosch wieder freigab – den Nehberg


dann selbst aß. Gab es da keine


Ekel-Grenze? Doch, sagte er mir.


Einmal habe er als Ehrengast eines


äthiopischen Dorfvorstehers ein


Ziegenauge serviert bekommen. Das


habe er unauffällig im Sand vergra-


ben. „Aber später kam ein Hund und


hat es wieder ausgescharrt. Wir wa-


ren dann keine Freunde mehr.“


Ein Schlüsselerlebnis hatte er

1977 bei der Durchquerung der


Danakil-Wüste in Äthiopien. Da traf


er eine junge Frau mit dem Namen


Aisha, die vor ihrer Zwangsverhei-


ratung geflohen war. Sie sprach über


„die Sache“, wie man die Genitalver-


stümmelung in ihrer Kultur nennt.


Damals, schreibt Nehberg in seinem


Buch, „war ich zu jung, zu unerfah-


ren, zu hilflos, um mir vorstellen zu


können, dass man auch als Einzelner, Un-


betroffener sich dieser 5000 Jahre alten,


streng tabuisierten Tradition entgegenstel-


len könnte.“ Gut 20 Jahre später lasen Rü-


diger und Annette Nehberg das Buch „Wüs-


tenblume“ von Waris Dirie. Sie schrieb, die


Tradition werde fälschlicherweise mit dem


Koran begründet. Dabei ist es ein vor-


islamischer Brauch. „Ich fragte mich, wie


sich die Weltreligion Islam ein solches Ver-


brechen in die Schuhe schieben lassen


kann“, sagte Rüdiger Nehberg. Gemeinsam


mit seiner Frau beschloss er, die Menschen-


rechtsorganisation „Target“ zu gründen. Er,


der schon 20 Jahre lang als Menschen-


rechtsaktivist für indigene Völker in Bra-


silien eingetreten war, glaubte: Über den


Islam würde er etwas bewirken können.


Als wir Rüdiger und Annette Nehberg im

Jahr 2009 bei unseren Dreharbeiten ken-


nenlernten, zeigten sie uns einen schreck-


lichen Film, für den Annette selbst die Ka-


mera geführt hatte: Ein kleines Mädchen,


Fatuma, wird vor laufender Kamera ver-


stümmelt. Die Nehbergs wollten das Ver-


brechen dokumentieren, um einen Beweis
in der Hand zu haben – und hatten doch
kurz den Gedanken, ob sie es nicht verhin-
dern könnten. Annette: „Ich habe zu Rüdi-
ger gesagt: ‚Gib mir Rückendeckung! Ich
nehm die Kleine und hau ab.‘ Dann sagte
unser Begleiter: ‚Du, die sind hier mit Ma-
schinenpistolen. Du wirst erschossen.‘“
Die beiden präsentierten den Film im
Jahr 2006 auf einer Konferenz an der Al-Az-
har-Universität in Kairo, einer der führen-
den Bildungseinrichtungen der islami-
schen Welt, vor hochrangigen Gelehrten
und Geistlichen. Danach sei es zunächst
totenstill im Saal gewesen, sagte Rüdiger
Nehberg später, dann sei es zum Tumult

Danakil-Wüste mitgebracht hatten – für
eine „Zeremonie“, bei der sie die Fatwa auf
einem großen Transparent in den Saal tru-
gen. Eri sprach über die Schmerzen ihrer
eigenen Beschneidung, es war still, in den
Gesichtern vieler der Männer spiegelte
sich ihre Betroffenheit. Während sie dann
später in einer Klausur tagten, beobachte-
te ich Rüdiger Nehberg im Innenhof, vor
ihm hatten sich die Mädchen aus der Wüs-
te versammelt. Er schwenkte ein rotes Tuch,
stopfte es in die Hand, öffnete die Hände,
weg war es. Staunende Ausrufe, Kichern,
Rüdiger Nehberg freute sich. „Spaß sabo-
tiert Fanatismus“, diesen Leitspruch zitier-
te er gern, hier lebte er ihn. Später, in seiner
Schlussrede vor den Geistlichen, die
die Fatwa letztlich akzeptierten,
brach ihm die Stimme vor Ergriffen-
heit. „Ein Herz auf zwei Beinen“ sei
er, sagte ihm später ein Sudanese,
als sie sich freundschaftlich um-
armten.
Den zweiten „Durchbruch“ hat-
te Rüdiger Nehberg sich von der
Audienz beim saudischen König
erhofft. Wann immer wir in den
vergangenen Jahren sprachen, er-
zählte er von seinen vergeblichen
Bemühungen. Der König und sein
Thronfolger wurden zu zuneh-
mend problematischen Figuren.
Waffengeschäfte, der Jemen-Krieg
und der Mord am Journalisten Ja-
mal Khashoggi belasteten das
saudisch-deutsche Verhältnis zeit-
weise so sehr, dass die diplomati-
schen Beziehungen eingefroren wurden.
Die Zeit verrann.
Woran Rüdiger Nehberg starb, ist nicht
bekannt, doch es war nicht im Kranken-
haus, er hing nicht an Schläuchen und Mo-
nitoren, sagt ein enger Freund der Familie.
Das hätte er auch nie gewollt.
Wie es mit „Target“ nun weitergeht, ist
noch offen. Annette Nehberg und deren
Kinder Sophie und Roman haben längst
Führungsaufgaben übernommen, er
selbst aber war das Gesicht der Organisa-
tion. Er wird fehlen als der Charismatiker,
der unermüdlich Vorträge hielt, das Pub-
likum rockte und damit sehr viel Geld
für die Menschenrechtsorganisation
eintrieb. Fehlen wird das „Herz auf zwei
Beinen“. 2

gekommen. Ein Mann sprang auf, bezeich-
nete den Film als „westliches Machwerk,
gedreht mit Schauspielern, finanziert von
Israel“. Bodyguards mussten Nehberg zu-
rückhalten, der auf ihn zustürmen wollte.
Die Geistlichen zogen sich zur Klausur zu-
rück – und beschlossen eine Fatwa, in der
die Genitalverstümmelung als „strafbare
Aggression gegen das Menschenge-
schlecht“ bezeichnet wird.
Nun hat die sunnitisch-islamische Welt
kein geistliches Oberhaupt, eine Fatwa aus
Kairo ist nicht rechtsverbindlich. Deshalb
veranstalteten die Nehbergs mit „Target“
2009, als wir sie filmisch begleiteten, eine
Konferenz in Äthiopien: Mehr als 100
hochrangige Geistliche sollten dort ge-
meinsam bekunden, dass die Genitalver-
stümmelung dem Willen Allahs zuwider-
laufe. Doch auch in Addis Abeba formier-
ten sich Gegner. „Von Fremden brauche ich
keine Belehrung“, sagte ein Mufti, die Stim-
mung drohte zu kippen. Die Wende brach-
te wohl Eri, ein kleines Mädchen, das die
Nehbergs zusammen mit 17 anderen aus der

Nehberg unterwegs auf seinem Baumboot
im Jahr 1999

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Bernhard Albrecht ist seit 2013 beim
stern. Für den Film „Karawane der
Hoffnung“ waren er und sein Kollege
Karsten Scheuren 2009 im Auftrag
des ProSieben-Wissensmagazins „Galileo“ mit
Rüdiger Nehberg in Äthiopien unterwegs
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