Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1
FOTOS: IMAXTREE

N


ichts sei so mächtig wie
eine Idee, deren Zeit ge-
kommen ist – wird Victor
Hugo ungenau, aber doch
treffend zitiert. Ein Satz,
der revolutionäre Strömungen oder bahn-
brechende Erfindungen meint. Und viel-
leicht gerade deshalb die Karriere eines
außergewöhnlichen Kleidungsstücks be-
schreibt: der Jeans.
Die Geschäftsidee, strapazierfähige,
praktische und statthafte Arbeitshosen
herzustellen, hatte von Beginn an etwas
Revolutionäres: Die Jeans kommen aus
dem Widerstand – gegen die Zumutungen
der Arbeitswelt jener Menschen, die das
neue Amerika aufzubauen hatten. Denim
ist ein besonderer Stoff, der nicht bloß
zusammengenäht, sondern auch genietet
wird. Von Einwanderern aus unterschied-
lichen Kulturkreisen erdacht, einem fränki-
schen Unternehmer und einem lettischen
Schneider, inspiriert von Hosen aus Genua
(deshalb Jeans wie „Gênes“) und einer
Webtechnik aus Frankreich (Denim wie „de
Nîmes“), da darf man zu Recht von einer
der ersten globalisierten Modeinnovatio-
nen sprechen. Vermutlich hat keine poli-
tische Ideologie die Klassenunterschiede
nachhaltiger überwunden als dieses Ge-
samtkunstwerk, das später das 20. Jahr-
hundert prägen sollte wie kein anderes.
Und sie läuft und läuft und läuft. 2020
haben Jeans und Denimstoffe wieder ein-
mal ihren ganz großen Aufritt auf den
Laufstegen. Ob als Skinny Jeans mit hohem
Sitz bei Celine und Gucci, ausgefransten
Shorts bei Saint Laurent, oversized Jeans-
hemden oder Baggy Pants bei Bottega
Veneta – egal, welcher Designer sich an ihr
versuchte, die Jeans lässt vieles mit sich
machen, behält aber stets ihren unverkenn-
baren Charakter. Und auch wenn heute in
den wenigsten Fällen Wolkenkratzer da-
mit gebaut werden oder Gold geschürft, ist
sie in einem Punkt unkaputtbar: in ihrer
Lässigkeit. Und – das wird man wohl noch
sagen dürfen – ihrer Sexyness. Ein Knack-
arsch in anderen Hosen ist möglich, aber
sinnlos.
Was die Jeans noch ausmacht, ist ihr
Langmut. Was haben sie nicht alles mit
sich machen lassen? Wir haben ihnen tren-
dige Risse verpasst, sie gebleicht, mit
gechlortem Bimsstein „gestonewasht“,
ihnen Schlaghosenschnitte verpasst oder
uns mit ihnen in die Badewanne gesetzt,
bis sie enger an uns klebten als die eigene
Haut. In dieser Saison dürfen sie zeigen,

Es sollte noch Jahr-
zehnte dauern, bis die
Herren ihre Strese-
mannhosen ablegten,
die Frauen ihre Kor-
setts wegwarfen und
sich in die blauen Wun-
der schwangen. Wer
sich die Bilder von
Brooke Shields 1981
in den spektakulären
Calvin-Klein-Jeans ins
Gedächtnis ruft, Bruce
Springsteen in seinen
Voll-Denim-Outfits oder Kate Moss in ihren
90er-Skinny, weiß: Es waren modisch ver-
schwendete Jahre. Im Ostblock symbolisier-
ten Jeans sogar die Sehnsucht nach einer
freien Welt – jenseits von Stacheldrähten.
In den vergangenen Jahren ist der De-
nim zum ersten Mal in eine Sinnkrise
geraten. Man kennt die Zahlen: Bis zu 8000
Liter Wasser wurden in der Vergangenheit
pro Jeans verbraucht, 35 Kilogramm CO₂-
Ausstoß verursacht. Für die Färbepro zesse
sind Dutzende Chemikalien im Gebrauch.
Jeans haben Ölflecken vertragen und
schmutzige Fantasien, aber Dreck erzeu-
gen sollten sie nicht.
Die großen Jeans-Labels haben inzwi-
schen begriffen, dass es nicht nur darum
geht, ihr Produkt, sondern auch eine Art
Weltkulturerbe vor einem Imageschaden
zu bewahren, und haben reagiert. Lee
kooperiert mit der italienischen Öko-
denimfabrik Candiani, um ihre Jeans in die
Nachhaltigkeit zurückzuführen. Bei deren
Herstellung sollen 30 Prozent weniger
Energie, 70 Prozent weniger Chemikalien
und nur die Hälfte des bisherigen Wassers
verbraucht werden. Levi’s will ab diesem
Jahr nur noch mit dem Grundstoff der
Better Cotton Initiative arbeiten, der ent-
weder recycelt ist oder Biobaumwolle be-
inhaltet. Mit Dawn Denim hat sich ein
eigenes Label etabliert, das Nachhaltigkeit
und Ressourcenfreundlichkeit zum Mar-
kenkern gemacht hat. Für Jeans spricht
zudem, dass ihre grundlegende Identität,
ihre Langlebigkeit, eigentlich dem Kon-
zept von Fast Fashion widersprechen
müsste.
Giorgio Armani sieht Jeans als Entspre-
chung von Demokratie in der Mode, Ewan
McGregor träumt davon, sie als älterer
Herr zu tragen, Andy Warhol wollte gar in
ihnen sterben. Ein Stoff aus dem solche
Träume sind, wird immer en vogue sein. 2
Mitarbeit: Sonja Meinke

dass sie auch mit Gla-
mour zurechtkom-
men. Die guten alten
Jeans haben alles mit
sich machen lassen
und sahen in jedem
noch so grotesken
Trend stets schick aus.
Als würde ihnen eine
Würde innewohnen,
die jeden letzten Schrei
unbeschadet zu über-
stehen vermag. „Ich
wünschte, ich hätte die
Blue Jeans erfunden“, sagte Großcouturier
Yves Saint Laurent. „Sie haben Ausdruck,
Bescheidenheit, Sex-Appeal, Einfachheit –
alles, was ich mir für meine Kreationen
wünschen würde.“
Man muss sich vor Augen führen, wie lan-
ge sich dieser Stoff bereits durchgesetzt hat.
Als das Patent angemeldet wurde, lag die
Abschaffung der Sklaverei in den USA erst
wenige Jahre zurück, das Deutsche Kaiser-
reich existierte gerade einmal zwei Jahre.

DENIM-


SPARKURS


Blaumann:
Streetstyle-Look
aus Florenz

Weniger Wasser,
mehr Biobaumwolle:
Immer mehr
Marken setzen auf
nachhaltige Jeans

Sonnenschutz
Hut aus recyceltem
Denim von Cos, 39 Euro
Allrounder
Jeansjacke aus recycelter
Baumwolle, hergestellt
mit weniger Wasser,
von Lee, ca. 130 Euro
Feine Faser
Jeanshose „York“ aus
der nachhaltigen
„We Care“-Linie von
S. Oliver, ca. 50 Euro

62 8.4.2020

EXTRA |MÄNNERMODE

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