Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1

Interview: Andrea Ritter


FOTO: ALBERTO PIZZOLI/AFP

Ende Februar setzte sich Paolo Giordano
an seinen Tisch und begann zu schreiben.
Wenige Tage zuvor war in Italien der erste
Corona-Todesfall gemeldet worden. Die
animierte Grafik der Johns Hopkins
Universität, auf der nahezu in Echtzeit die
Verbreitung des Coronavirus angezeigt
wird, leuchtete auf seinem Bildschirm. Für
Italien zeigte sie einen roten Kreis, der im-
mer größer und größer wurde.
Giordano ist Schriftsteller und promo-
vierter Physiker mit einer Schwäche für
Mathematik. Er habe schon immer gern
Gleichungen berechnet, sagt er beim
Skype-Interview aus Rom, wo er seit eini-
gen Jahren lebt, weil Gleichungen das ver-
meintliche Chaos der Welt in geordnete
Beziehungsverhältnisse übersetzten. Sein
erster Roman, „Die Einsamkeit der Prim-
zahlen“ von 2008, wurde ein Bestseller.
Dieses Mal sei es anders, sagt Giordano.
In Zeiten von Corona sei die Mathematik
weder Motiv noch Metapher. Sondern ein
praktisches Werkzeug, um zu veranschau-
lichen, was gerade vor sich geht. In einem
Zeitungsartikel in der Zeitung „Corriere
della Sera“ erklärte er seinen Landsleuten,
wie schnell der Corona-Erreger sich ver-
breiten werde – der Text war der Aus-
gangspunkt für seinen Essay „In Zeiten
der Ansteckung“, der jetzt als Buch er-
schienen ist.

Herr Giordano, als Sie anfingen, sich ma-
thematisch mit dem Virus zu beschäfti-
gen, war die Situation in Italien noch re-
lativ unkritisch. Waren Sie erschrocken

E


über das, was Ihnen die Zahlen über das
Wachstum sagten?
Nein, gar nicht. Ich war erschrocken über
die Konfusion in der Öffentlichkeit. Ex-
perten stritten sich, ob die Krankheit
Covid-19 nun schlimm sei oder nicht. Poli-
tiker starteten Kampagnen nach dem
Motto: „Alles ist sicher in Italien.“ Inzwi-
schen wissen wir viel mehr und haben
mehr Daten gesammelt. Aber damals
herrschte noch eine Stimmung zwischen
Alarmismus und Beruhigung, beides in
übertriebener Form. Und dann war ich er-
schrocken, als die ersten Bilder aus den
norditalienischen Krankenhäusern zu se-
hen waren. Weil alles so kam, wie man es
hatte ausrechnen können.
Was können wir von der Mathematik
über das Virus lernen?
Die Mathematik ist ein Instrument, um
das aktuelle Geschehen zu verstehen. Sie
kann Klarheit schaffen und hilft uns, zu
begreifen: Das Virus „explodiert“ nicht, die
Zahlen steigen nicht „dramatisch“ an.
Sondern?
Sie verändern sich – mathematisch be-
trachtet – ganz normal. In der Natur ist
Wachstum meist nicht linear, sondern
entschieden langsamer oder eben schwin-
delerregend schnell. Wir finden es nur
normal, dass etwas gleichmäßig wächst.
Darum sind wir erschrocken darüber, dass
die Fälle von Covid-19 nicht konstant zu-
nehmen, sondern viel schneller. Dabei
steckt hinter dieser Dynamik überhaupt
nichts Geheimnisvolles.
Was heißt das?
Jede Epidemie hat ein Herz. Das ist die
Basisreproduktionszahl R0. Sie gibt Aus-
kunft darüber, wie viele Menschen jeder
Infizierte ansteckt. Der Wert liegt bei
Covid-19 ungefähr bei 2,5. Er muss aber
unter 1 sein. Die Dinge laufen gut, wenn je-
der Infizierte weniger als eine Person mit
dem Erreger ansteckt.
Wie erreicht man das?
Solange es keinen Impfstoff gibt, zu-
nächst mit Kraft – und letztlich mit Ge-
duld. Es ist, als hielte man mit einem Dau-
men ein gebrochenes Wasserrohr zu. Das
Wasser läuft dann langsamer. Das ist etwa
die Phase, die wir gerade erleben. Das
Schlimme daran ist: Nimmt man den
Daumen weg, läuft das Wasser wieder so
stark wie zuvor. Man muss das Rohr rich-
tig reparieren. Und dafür braucht man das,
was wir oft, so fürchte ich, am wenigsten
haben: Geduld.
In Ihrem Essay schreiben Sie, dass Sie kei-
ne Angst davor haben, krank zu werden.
Sondern davor, dass nach der akuten
Gefahr der Ansteckung die Angst vorü-
bergeht. Was meinen Sie damit?

Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir im-
mer ganz genau wissen, wann etwas an-
fängt und wann es aufhört. Alle wollen
jetzt, dass das Virus endlich verschwindet
und die Normalität zurückkehrt.
Ich auch.
Und ich auch. Aber man muss vorsichtig
sein bei dem, was man hoffen darf. Jetzt ist
weder die Zeit für magisches Denken noch
die Zeit für Angst vor Veränderungen.
Zurzeit endet bei mir im Freundeskreis
jedes Gespräch mit dem Satz: „Bald ist es
vorbei – und dann sehen wir uns wieder.“
Bei Ihnen nicht?
Doch, natürlich. Und bald ist hoffentlich
die Zeit der schnellen Ansteckung und der
unmittelbaren Gefahr vorbei. Ich habe
mich hingesetzt und meine Gedanken so
rasch aufgeschrieben, weil ich mir wün-
sche, dass man diese Zeit des Stillstands
jetzt auch zum Nachdenken nutzt. Weil
diese Epidemie – wenn wir es zulassen –
uns viel über uns selbst sagt.
Als Person oder als Menschheit?
Beides. Als Einzelperson lerne ich: Wenn
ich zu Hause bleibe, schütze ich mich und
die Gemeinschaft. Ich treffe eine individu-
elle Entscheidung, welche die Gemein-
schaft beeinflusst. Das ist sonst auch so,

Paolo Giordano:
„In Zeiten der
Ansteckung“,
Rowohlt, 8 Euro.
Rechts ein Bild
aus Rom: Die
Spanische Treppe
ist menschenleer

MAN MUSS


VORSICHTIG


SEIN


BEI DEM,


WAS MAN


HOFFEN DARF“


70 8.4.2020
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