Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1
Beim Skype-Interview zwischen Ham-
burg und Rom knackte es zwar kräftig
in der Leitung, aber sonst verstanden
Andrea Ritter und Paolo Giordano
sich ganz gut. Der Schriftsteller erzählte, dass
er freiwillig in die Selbstisolation gegangen sei –
zur Verwunderung seiner Freunde

aber das ist uns nicht so sehr bewusst. Als


Gesellschaft, oder als Bürger, erleben wir


gerade, welche Kräfte wir zusammen


mobilisieren können. Und ich hoffe, dass


wir das nicht vergessen, wenn die akute


Gefahr vorbei zu sein scheint.


Was wünschen Sie sich für die Zeit nach


Corona?


Ich befürchte, dass diese Zeit nicht so


schnell kommen wird. Darum wünsche


ich mir für jetzt, dass wir uns Gedanken


darü ber machen, wie wir uns auf die neue


Normalität vorbereiten, die auf uns zu-


kommt. Wir reden gerade viel über die


Vergangenheit des Virus. Dabei ist es für


unsere jetzige Situation nahezu egal, von


welchem Ort es stammt. Wichtiger ist es,


dass wir uns an den Gedanken gewöhnen,


dass wir nicht angegriffen wurden, son-


dern dass wir das Virus aufgespürt haben.


Wir sind diejenigen, die es in alle Welt ver-


breiten. Darum sollten wir auch über die


Zukunft des Virus nachdenken.


Und wie sieht die aus?


Die Mathematik hinter der Epidemie zeigt


uns, wie eng wir alle miteinander verbun-


den sind – ohne dass wir es merken. Das


Virus interessiert sich nicht für die Toten.


Und auch nicht für die Immunen. Es inte-


ressiert sich für die große Gruppe all jener,


die es befallen kann, weltweit. Und solan-


ge diese Anzahl nicht – etwa durch einen


Impfstoff –, reduziert wird, müssen wir


verstehen, dass das Niedrighalten des Wer-


tes R0 nun zu unserer neuen Normalität


gehört.


In Italien dauert die Quarantäne schon


länger als in Deutschland. Denken Sie


nicht, dass man langsam mal den Dau-


men vom Loch im Wasserrohr nehmen
muss, damit die Leute nicht verrückt
werden?
Die Menschen leiden sehr darunter. Ich
glaube, wir haben noch gar keine Vorstel-
lung davon, wie sehr. Es wird darüber nach-
gedacht, dass nun wenigstens die Kinder
tagsüber wieder ein paar Stunden rausdür-
fen. Das Virus legt all die sozialen Miss-
stände offen, die wir auch vorher schon
kannten: Manche Menschen können es
sich nicht leisten, zu Hause zu bleiben. Um
die muss man sich jetzt kümmern. Sie
brauchen Hilfe und Geld zum Überleben.
Aus Italien sehen wir nun aber auch Bil-
der großer Solidarität. Zum Beispiel in
Neapel, einer Stadt mit vielen sozialen
Problemen: Die Menschen versorgen ei-
nander mit Lebensmitteln oder reichen
Körbe mit selbst gekochtem Essen von
den Balkonen herab.
Not schweißt zusammen, das erleben wir
gerade an vielen Orten. Aber diese
Momentaufnahmen können sicherlich
keine Antwort auf die Herausforderungen
der Zukunft sein. Es stimmt, dass Krisen
in Italien oft starke Erneuerungskräfte
freigesetzt haben. Das wird jetzt auf eine
harte Probe gestellt. Aber was ich deutlich
machen möchte, ist: Diese Krise, diese
Krankheit, ist keine italienische Situation,
keine deutsche oder chinesische; sie ist
weltweit. Das Virus zeigt uns, dass wir uns
als Teil eines Kollektivs begreifen müssen.
Weil wir es sind.
Was genau folgt daraus?
Die Probleme anderer lassen sich nicht
mehr wegschieben. Sie sind auch unsere
Probleme. Solange es keinen Impfstoff

gibt, kann die Krankheit jederzeit irgend-
wo wieder ausbrechen. Das heißt: Um uns
selbst zu schützen, müssen wir auch alle
anderen schützen. Wenn Menschen auf-
grund von Armut oder schlechter hygie-
nischer Bedingungen schutzlos sind – wie
etwa Flüchtlinge, die in Lagern leben müs-
sen, oder Illegale oder Bewohner von
Elendsquartieren –, können solche Orte
schnell zu einem Herd werden, von dem
aus sich das Virus wieder verbreitet. Bis zu
uns. Ich hoffe, dass es uns gelingt, auch das
Bewusstsein darüber in guter Weise in
unserer neuen Normalität zu implemen-
tieren.
Das ist eine schöne Hoffnung, aber ...
... aber Menschen sind nicht dafür geschaf-
fen, sich als Teil einer großen Gemein-
schaft zu begreifen. Das stimmt. Die Glo-
balisierung hat eine Welt geschaffen, in der
wir alle eng verbunden sind. Aber unser
Gehirn ist so gestrickt, dass wir uns nur
einer limitierten Anzahl von Personen nah
fühlen können. Darum müssen die Insti-
tutionen diese Verbundenheit herstellen.
Sie müssen die Kooperation bewerkstelli-
gen. Dafür sind sie da.
Was müssten die Institutionen tun?
Ich bin Schriftsteller, ich kann keine Lö-
sungen liefern, bestenfalls Denkanstöße ...
Aber es ist offensichtlich, dass nun nicht
nur in der Wissenschaft und Forschung
eng zusammengearbeitet werden muss,
sondern auch im wirtschaftlichen und so-
zialen Bereich. Wir denken immer noch in
Grenzen und Nationen, als wären Italien,
Deutschland oder Frankreich voneinander
getrennt. Das Virus interessiert sich für
diese Grenzen nicht.
Momentan werden Grenzen vor allem
deshalb geschlossen, damit die Verbrei-
tung des Virus eingedämmt werden
kann.
Ich meine die langfristigen Veränderun-
gen, die notwendig sein werden. Und ich
hoffe, dass wir es als Gesellschaft schaffen,
diese Zeit der Ansteckung zu nutzen. Euro-
pa muss dieses Mal beweisen, dass es mehr
als eine Idee ist und eine Struktur. Das ist
der einzige mögliche Weg, diese Krise und
ihre Folgen zu überstehen.
Sie glauben also, dass wir aus der Krise
etwas lernen können?
Wir müssen. Sonst lehrt uns das Virus, dass
wir hoffnungslose Versager sind. 2

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