Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1

FOTO: BIOSPHOTO/MICHAEL BREUER


Es bleibt uns in Corona-Zeiten nur eine
große Möglichkeit, Freiheit auszuleben:
die Natur. Dorthinaus zieht es uns jetzt
ganz besonders, doch das liegt nicht nur
am Drang nach Ungebundenheit. Es ist der
Frühling, der ganz besondere Kräfte in uns
entfaltet. Allerdings nicht nur in uns. Die
Vegetation erblüht, und viele Tierarten be-
ginnen nun mit der Aufzucht ihres Nach-
wuchses. Manche Wesen warten jedoch
noch, bevor sie zur Höchstform auflaufen,
denn: Ein warmer Tag macht noch keinen
Frühling. Das ist keine alte Redensart, son-
dern ein Grundprinzip von Apfelbäumen.
Und weil das so ist, warten sie mit dem
Austreiben ihrer frostempfindlichen Blü-
ten, bis eine bestimmte Anzahl wärmerer
Tage erreicht ist. Schließlich wollen sie si-
cher sein, dass auch wirklich der Frühling
gekommen ist. Man könnte sogar sagen:
Apfelbäume zählen. Damit sie nicht jeden
Tag wieder bei eins anfangen, brauchen die
Bäume dazu eine Art Gedächtnis. Das
bewahrt sie jedoch nicht vor Fehlern. So
erfror die Apfelblüte des Jahrgangs 2017
zu großen Teilen durch starke Nachtfröste.
Irren ist also nicht nur menschlich.
Woher wissen Sie eigentlich, dass es
Frühling ist? Die Frage klingt verwegen,
schließlich genügt als Mensch ein Blick in
den Kalender. Am ersten März beginnt der
meteorologische Frühling, will heißen,
dass es nun wärmer wird. Am 20. März zie-
hen mit der Tagundnachtgleiche auch die
Astronomen nach, weil die Tage nun wie-
der länger werden als die Nächte.
Doch brauchen Sie dazu wirklich den
Blick in den Kalender? Sicher nicht, denn
die länger werdenden Tage, die intensive-
ren Strahlen der Sonne signalisieren viel
besser, dass die Natur erwacht – und nicht
nur die Natur. Auch wir Menschen emp-

finden Frühlingsgefühle: Die Laune wird
besser, der Drang, wieder aktiv zu werden,
steigt. Geht es Ihnen auch so? Ursache
sind unsere Hormone, die auf-
grund des Lichtschubs ab- und
zunehmen. Melatonin, das
Schlafhormon, wird weniger
gebildet, unsere Glückshor-
mone, wie etwa Serotonin,
steigen an. Manche Forscher
meinen, dass ausgedehnte
Winterspaziergänge im Son-
nenschein einen ähnlichen
Effekt hätten.
Doch ein Blick zu unseren Mit-
geschöpfen zeigt, dass es merk-
würdig wäre, wenn ausgerechnet
Menschen eine Ausnahme bilden sollten.
Hirsche etwa haben die kalte Jahreszeit zu-
meist vor sich hin dösend verbracht. Ihre
Körpertemperatur sinkt dabei in den
äußeren Körperpartien auf bis zu 15 Grad
Celsius ab, der Stoffwechsel wird um bis
zu 60 Prozent heruntergefahren. Grund ist
der Nahrungsmangel im Winter, und es
gilt, die im Herbst mühsam aufgebauten
Fettreserven so lange wie möglich zu stre-
cken. Dabei kommen die besonders ent-
behrungsreichen Wochen kurz vor dem
Frühling: Eine Fastenzeit gibt es nämlich
auch für Tiere. Sie liegt ebenfalls vor
Ostern, dem Fest, welches sich nach dem
ersten Frühlingsvollmond richtet. Wäh-
rend im Herbst die Wälder und Wiesen
noch voller Nüsse, Beeren und Pflanzen-
samen waren, herrscht im Vorfrühling
Kargheit. Die Sträucher und Bäume sind
abgeerntet, das Wiesengras fahlgelb und
vertrocknet.

D


och jetzt im Frühjahr sprießen Gräser
und Kräuter, platzen die Knospen von
Sträuchern und Bäumen und bieten
das erste, ganz besonders saftige und nähr-
stoffreiche Grün an. Zudem ist die Tages-
länge erheblich angewachsen, und die
Sonne wärmt schon so stark, dass die
Säugetiere ihr warmes Winterfell abwer-
fen. Der Kreislauf kommt in Schwung,
der Stoffwechsel zieht an, und die Tiere
werden sehr aktiv.
Unsere Vorfahren sind instinktiv dem
Beispiel der Tiere gefolgt. Der Winter war
die Zeit des Mangels, die man am besten
kalorienschonend verbrachte, indem man
länger schlief. Doch zur Tagundnacht-
gleiche wurde es dringend Zeit, aufzu- 4

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Abwarten und auf
Sonnenschein hoffen
Apfelbäume sind vorsichtige
Gewächse. Ihre sensiblen
Blüten wagen sich erst raus
ans Licht, wenn es einige
wärmere Tage gab. Oft findet
die Apfelbüte im April statt.
Von August bis Oktober wer-
den dann die Früchte geerntet

Die Säugetiere


werfen ihr


warmes


Winterfell ab


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