Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1
Frederik Mayet sollte bei den
Passionsspielen in Ober-
ammergau Christus dar stellen.
Doch dann kam Corona

„JESUS WAR


GANZ BESTIMMT


KEIN SOFTIE“


KULTUR


Interview David Baum


Kirche ausgetreten. Die auszuschließen
wäre nicht im Sinne Christi gewesen.
Und Sie müssen es wissen, Sie sind
schließlich Jesus!
Ich spiele Jesus.
Ist Oberammergau ein frommerer Ort als
andere?
Ganz sicher nicht. Aber jedes Kind hat be-
reits ein Bild der Passionsgeschichte im
Kopf. Mein fünfjähriger Sohn Vinzent war
diesmal bei den Proben, und ich staune, wie
er das aufsaugt. Die Kirchen hier sind aber
deshalb nicht voller als anderswo.
Wie kritisch darf man gegenüber der
Kirche sein, wenn man Jesus spielt?
Ich sehe die Institution in manchem sehr
kritisch, sie ist leider sehr weit weg von der
Kernbotschaft.
Ostern steht bevor, lassen Sie uns über
Christus sprechen. Haben Sie diesen
Jesus besser verstanden, seitdem Sie ihn
verkörpern?

H


err Mayet, die Oberammergauer
gelobten 1633 nach schrecklichen
Pestzeiten, alle zehn Jahre die
Passionsgeschichte aufzuführen.
Wie fühlt es sich an, diesen Schwur
brechen zu müssen?
Wir haben die Passionsspiele glücklicher-
weise nicht absagen müssen, sondern bloß
verschoben. Trotzdem ist es wie ein Schlag
in die Magengrube.
Sie sind zum zweiten Mal für die Haupt-
rolle besetzt: als Jesus von Nazareth.
Haben Sie in den vergangenen Wochen
gebetet, das Unheil möge vorüberziehen?
Ich glaube nicht an einen strafenden Gott,
der entscheidet, wen es erwischt und wen
nicht. Als Corona näher kam, hat es sicher
das eine oder andere Stoßgebet gegeben.
Mussten Sie wie Oberspielleiter Chris-
tian Stückl weinen, als die Absage kam?
Ich muss gestehen, ich war eher erleich-
tert. Das Gesundheitsamt hat uns die Ent-
scheidung abgenommen. Zu den Passions-
spielen kommen rund 500 000 Gäste aus
der ganzen Welt, darunter ältere Leute.
Nicht auszudenken, was das Coronavirus
hätte anrichten können. Und doch stehen
alle etwas ratlos vor der Situation. Seit
Aschermittwoch des Vorjahres haben wir
uns die Haare und Bärte nicht geschnitten,
monatelang geprobt. Anfang März standen
noch 700 Mitwirkende auf der Bühne.
Sind nun alle gleich zum Friseur gerannt?
Einige schon. Allerdings haben die Friseu-
re inzwischen zu.
Träumt man schon als Kind davon, eines
Tages Jesus zu spielen?
Ich bin in Oberammergau geboren, aber
meine Familie kam erst 1990 in den Ort
zurück. Das waren meine ersten Passions-
spiele, als Zuschauer mit meiner Urgroß-
mutter. Mit 20 spielte ich den Johannes, vor
zehn Jahren zum ersten Mal Jesus.

Stimmt es, dass die Oberammergauer
ihre Lebensläufe in Passionsspielinter-
valle einteilen?
Das ist so. Wenn man die Leute fragt, wann
sie ihr Haus gebaut oder ihr Kind be-
kommen haben, orientieren sie sich in der
Zeitangabe an den Spielen. Das strukturiert
das Leben, immerhin wirkt die Hälfte der
5000 Oberammergauer mit. Viele unter-
brechen ihr Studium, nehmen sich un-
bezahlten Urlaub. Es ist tatsächlich eine
Art Opfer.
Es wird traditionell darüber gezankt, wie
das Spiel auszusehen habe. Hat sich das
inzwischen gelegt?
Leider nicht. Es gibt immer noch eine Op-
position, die alles viel zu progressiv findet
und meint, Christian Stückl würde die Bi-
bel umschreiben. Dabei gehört es zur Tra-
dition, die Leidensgeschichte Jesu weiter-
zuentwickeln. Es gibt Oberammergauer,
die evangelisch sind, Muslime oder aus der

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