Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1

D


as Telefon von Wiebke Bache steht
still. Die Sozialpädagogin arbeitet
in einer Beratungsstelle für Opfer
häuslicher Gewalt in Kröpelin bei
Rostock. Normalerweise berät sie
etwa acht Hilfesuchende pro Tag.
Doch in den vergangenen Wochen ist es ru-
hig geworden. Und das verheißt nichts Gu-
tes. „Wir haben nicht mehr auf dem Schirm,
was in den Familien passiert. Die Betrof-
fenen finden keine Gelegenheit mehr, sich
bei uns zu melden“, erklärt Bache. Sie geht
davon aus, dass sich gerade verstärkt Kon-
flikte zuspitzen und gewalttätig entladen.

nannten Hellfeld abspielt, sie erfassen
allein die dokumentierten Fälle – und
zwar aus einer Zeit, als Erwachsene noch
das Haus für ihre Jobs verließen und
Kinder Schulen und Kitas besuchten, als
Blessuren, Verhaltensveränderungen und
Verwahrlosung auffielen, Menschen zum
Reden da waren, Erzieher oder Kollegen
das Jugendamt oder die Polizei anrufen
konnten.
Eine Studie der Weltgesundheitsorgani-
sation sagt, dass in normalen Zeiten in
Europa zehn Prozent aller Misshandlungs-
fälle wahrgenommen werden. In diesen Ta-

Die Statistiken sagen: 2018 wurden in
Deutschland knapp 115 000 Frauen von
ihren Partnern oder Ex-Partnern körper-
lich angegriffen, 122 getötet. 136 Kinder ka-
men durch Gewalt in ihren Familien ums
Leben. Im Schnitt wird mehr als einmal
pro Stunde eine Frau durch ihren Lebens-
gefährten schwer körperlich verletzt. Laut
einer Studie der Uniklinik Ulm sitzen in
jedem Klassenzimmer durchschnittlich
fünf Kinder mit Gewalterfahrungen, jeder
von uns kennt, meist ohne es zu wissen,
Betroffene. Und: Täter. Doch all die Zah-
len geben nur wieder, was sich im soge-

Auch in normalen Zeiten bleibt das Leid geschlagener Kinder und Frauen oft im


Verborgenen. Jetzt treffen sie nicht einmal mehr auf Lehrer oder Kollegen, die ihre blauen


Flecken bemerken könnten – und viele Jugendämter arbeiten nur noch im Notbetrieb


HINTER VERSCHLOSSENEN TÜREN


Von Silke Müller


88 8.4.2020

GESELLSCHAFT

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