Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1

FOTO: JANNIS CHAVAKIS/KNA


Der Verein Straßenkinder hält Kontakt
zu Familien, die aktuell besonders dringend
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gen, so fürchten viele Experten, dürften
es sehr viel weniger sein. Was seit drei
Wochen hinter verschlossenen Haustüren
und heruntergelassenen Jalousien passiert,
entzieht sich nahezu jeder Kontrolle.
Die Mitarbeiter der Jugendämter wissen
das, aber viele müssen erst einmal um ihre
Handlungsfähigkeit kämpfen. In Berlin
zum Beispiel gibt es keine Diensthandys
oder -Laptops, und auf privaten PCs dür-
fen keine personenbezogenen Daten ge-
speichert werden, schildert Heike Haacke,
Regionalleiterin in Hellersdorf-Nord, die
Situation.

Kein Ersatz für persönliche Kontakte


Das Jugendamt Dresden arbeitet „im Not-
betrieb“, erklärt Kai Schulz, Sprecher der
Stadtverwaltung – auch wenn grundsätz-
lich gelte, „dass eingehende Verdachtsmel-
dungen auf eine Kindeswohlgefährdung
wie bisher zeitnah abgeprüft werden“. In
München finden Hausbesuche momentan
„ausschließlich bei akuten Notlagen, Ge-
fährdungsmeldungen und existenzge-

fährdenden Krisen statt“, wie Hedwig Tho-
malla vom Sozialreferat berichtet.
In einigen Städten versuchen die Ämter
und freien Träger auf zeitgemäße Weise,
wenigstens ein Teil ihrer Klientel im Blick
zu behalten. In Kiel etwa setzten sich Mit-
arbeiter der Jugend- und Familienhilfe zu-
sammen mit Jugendlichen an die Nähma-
schinen und fabrizierten Schutzmasken.
Zwei Intensivstraftäter putzten gemein-
sam mit ihrem Betreuer Klingelknöpfe,
Fahrstühle und Treppengeländer in einer
Wohnanlage, in der sich Menschen aus
Angst vor Infektionen nicht mehr aus der
Wohnung getraut hatten. Doch alle wis-
sen: Ein Ersatz für die Kontakte in norma-
len Zeiten kann das nicht sein.
Wie so oft, wenn Behörden zu langsam
reagieren und bürokratische Hindernisse
den Weg zur praktischen Hilfe verstellen,
leisten Vereine und Hilfsorganisationen
wertvolle Arbeit. Weil das Kinderhaus Bol-
le in Marzahn geschlossen werden muss-
te, versuchen die Mitarbeiter über Video-
chats, Telefon und Whatsapp mit den rund
120 Kindern in Verbindung zu bleiben, die
hier normalerweise zum Essen, Lernen
und Spielen vorbeikommen. „Kinder, die
im Umfeld von Bolle in prekären Verhält-
nissen leben, erleben in ihren Familien
Suchtproblematiken, es wird geprügelt,
und sie sind auf sich allein gestellt. Da ist
schon eine Woche Ausgehverbot der abso-
lute Horror“, beschreibt Eckhard Baumann,
Leiter des Trägervereins Straßenkinder e. V.
die Situation. Seine Kollegin Mareike Dep-
permann bezeichnet die Atmosphäre bei
ihren Schützlingen zu Hause als „geladen“:
„Wir haben einige Familien, wo wir wissen,
dass es ganz schwierig ist. Kinder erzählen
dann schon mal, dass Mama und Papa sich
angebrüllt haben und dass Mama dann
schreiend am Boden lag.“
Analoge Beziehungsarbeit, darum gehe
es eigentlich bei Bolle und den Straßenkin-
dern, erklärt Baumann das Problem: „Di-

gital ist das nicht zu ersetzen.“ Aktuell hat
Baumanns Team drei bis vier Familien im
Blick, bei denen möglicherweise wegen
Kindeswohlgefährdung eingegriffen wer-
den muss. „Dazu eine erweiterte Gruppe
von etwa zehn Familien, die signalisieren,
dass sie Hilfe benötigen. Und eine große
Mehrheit, die abgetaucht ist“, sagt Bau-
mann. „Wenn diese Ausnahmesituation
noch länger andauert, bekommen wir rie-
sige Probleme.“
Auch die Rechtsmedizinerin Saskia Et-
zold, stellvertretende Leiterin der Gewalt-
schutzambulanz der Charité, beobachtet
die aktuelle Entwicklung mit großer Sorge:
„In der ersten Woche wurde es bei uns in der
Ambulanz etwas ruhiger, in der zweiten
Woche gingen die Zahlen merklich hoch.
Wir erwarten, dass die Fälle am stärksten
steigen, wenn die Maßnahmen wieder ge-
lockert werden – und zwar aus zwei Grün-
den: Erstens kommen die Frauen derzeit ja
nicht aus ihren Wohnungen heraus. Was
sollen sie ihren Partnern denn erzählen, wo
sie hingehen? Und zweitens fallen Miss-
handlungen an Kindern vor allem in Kitas
oder Schulen auf. Doch da sind sie ja gera-
de nicht. Es bekommt also zurzeit niemand
mit, wie verletzt manche Kinder sind.“
Etzold verweist auf die Erfahrungen aus
China: „Nach dem einmonatigen Shut-
down haben sich die Anzeigen wegen
häuslicher Gewalt verdreifacht.“ Sie appel-
liert an Nachbarn, aufmerksam zu bleiben
und nicht wegzuschauen, wenn im Haus
Situationen eskalieren. Und sie hofft auf
die Politiker: „Viele Eltern stehen nun am
Rande ihrer finanziellen Existenz, sie ha-
ben vielleicht ihren Job verloren, stecken
in Kurzarbeit, wissen nicht, wie es weiter-
geht. Die Menschen haben Angst. Und
Angst ist ein Motor, der Gewalt voran-
treibt. Deshalb muss die Politik den Men-
schen signalisieren: Ihr werdet nicht
allein gelassen, es geht auch nach der Kri-
se für uns alle weiter.“ 2

Zu Hause kann Geborgenheit
bedeuten – oder Hölle

DIE MENSCHEN


HABEN ANGST.


UND ANGST


IST EIN MOTOR,


DER GEWALT


VORANTREIBT“



Rechtsmedizinerin Saskia Etzold

8.4.2020 89
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