Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1
250 km

MONGOLEI

RUSSLAND

CHINA

Aqtau KASACHSTAN

Almaty

KIRGISTAN

EUROPA ASIEN

Nur-Sultan

Chorgos

MON
ASACHSTAN

Almaty

Nur-Sultan

Schanaosen CChoChrgos

KA
SP
ISC
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ER

Bischkek

Tagelang schien es in seiner
Heimatstadt kein anderes Thema
mehr zu geben als diese Hochzeit.
Also veröffentlichte der Vater in
der Zeitung „Caravan“ einen offenen
Brief. „Ich hatte die Wahl: zwischen
dem Glück des jungen Paares und
der Ehre als Familienoberhaupt“,
schrieb er darin. „Ich habe mich
für das Glück meiner Tochter ent-
schieden. Wahrscheinlich kann das
nicht jeder verstehen.“

*
Dies ist eine Geschichte über
China, die aber nicht in China spielt,
sondern in Kasachstan, seinem
Nachbarland in Zentralasien. Die
Länder sind keine Feinde, im Gegen-
teil: Sie seien sich „nah wie Zähne
und Lippen“, sagte der chinesische
Staatspräsident Xi Jinping einmal.
Die Partnerschaft ist natürlich
etwas ungleich: China, die neue

Weltmacht – und Kasachstan, die
ehemalige Sowjetrepublik, achtmal
größer als Deutschland, in der Welt-
politik aber meist im Schatten.
Im September 2013 rückte der
chinesische Präsident das Nach-
barland ins weltweite Rampenlicht.
„Seit über 20 Jahren hat die alte
Seidenstraße durch die rasche Ent-
wicklung neue Lebenskraft ge-
wonnen“, sagte er während seines
Staatsbesuchs in der kasachischen
Hauptstadt. Nun sei Zeit für einen
Wirtschaftsgürtel aus neuen Auto-
bahnen, Eisenbahnen, Häfen, Pipe-
lines, nicht nur in Asien, sondern
weltweit – ein neues Handelsnetz
für drei Milliarden Menschen. Das
größte Infrastrukturprojekt der
Welt kündigte er an, vielleicht so-
gar das größte, das es je gegeben
hatte. Und Kasachstan sollte
mittendrin sein.

Am Ende mussten Ulschan und


Gochaj ihre Hochzeit in einem


Lagerhaus feiern, dabei hatten sie


eigentlich den Bankettsaal Diana-4


in einem Vorort von Almaty ge-


mietet, mit Marmorsäulen und


Kristalllüstern. In letzter Minute


kündigte das Restaurant den Ver-


trag und zahlte das Geld zurück.


Denn ein Mob war unterwegs, um


die Hochzeitsfeier zu sprengen.


Der Vater der Braut ahnte, dass die

Feier nicht einfach werden würde.


Aber er hatte nicht mit der Hölle ge-


rechnet: Angriffen, Beleidigungen,


auch nicht mit der Aufforderung,


sich von seiner Tochter loszusagen.


Oder, so schrieben ihm manche, sie


zu töten. Und das alles nur deshalb,


weil seine Tochter Kasachin ist. Und


sein Schwiegersohn ein Chinese.


Von dem Coronavirus hatte da noch


nie jemand gehört. 4


Links: Riesige
Bilder von
Friedenstauben
kleben an der
„Pyramide des
Friedens und
der Eintracht“,
entworfen von
Star-Architekt

Norman
Foster zu
Ehren des
Ex-Präsidenten.
Unten: In einer
privaten
Sprachschule
lernen Schüler
Chine sisch

A


8.4.2020 95
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