Die Welt - 25.03.2020

(ff) #1

S


eit dem 8. März sitzen viele Millionen
Menschen in Italien isoliert in ihren
WWWohnungen. Während damals woan-ohnungen. Während damals woan-
ders in Europa – etwa in Madrid –
noch mit Hunderttausenden Teil-
nehmerinnen der internationale Frau-
entag gefeiert und so das Coronavirus
verbreitet wurde, war die Lage in Italien bereits so
dramatisch, dass die Regierung keinen anderen Ausweg
mehr sah als den Shutdown einer ganzen, lebendigen,
wohlhabenden, kultivierten Nation mitten in Europa.
Man muss heute an die daheim ausharrenden Men-
schen Italiens ebenso erinnern wie an die Millionen
anderer Europäer, die immer noch die Pandemie ver-
harmlosen, sich zu Partys oder im Restaurant treffen.
Fast alle Italiener halten diese Unbekümmertheit im
Umgang mit dem Virus für verantwortungslos oder
besser noch: für verrückt.
VVVon unseren italienischen Freunden erreichen unson unseren italienischen Freunden erreichen uns
kurze Videos, die neben den erschütternden Repor-
tagen aus den Katastrophengebieten um Bergamo,
Brescia, Cremona derzeit viral gehen. Sie zeigen uns
das Leben der Italiener vor gut zwei Wochenmit Fit-
ness, Restaurant, Bar und Küsschen und Handschlag –
konfrontiert mit der Grabesstille im öffentlichen Raum
und der exponentiell ansteigenden Totenzahl.
WWWo die Italiener sich heute befinden, könnten ihreo die Italiener sich heute befinden, könnten ihre
europäischen Nachbarn in kurzer Zeit ebenso stehen.
So wird die Blindheit vieler Deutscher auch zu einer
traurigen Widerlegung des langjährigen Mantras der
europäischen Zusammenarbeit, der gegenseitigen
Kommunikation, des Zusammenhaltes innerhalb der
EU. Unser oft genug desinteressiertes Wegsehen und
erst recht das Überlegenheits- und Sicherheitsgefühl
vieler Mitmenschen außerhalb Italiens bedeuten einen
europäischen Offenbarungseid.
Immerhin und spät genug hat die europäische Kom-
missionsvorsitzende Ursula von der Leyen nun Italien
Finanzhilfen zugesagt und die Anstrengungen aller
Italiener als vorbildlich bezeichnet. Ansonsten ist zur
dramatischen Notlage und dem Massensterben in
Italien, etwa von Seiten der deutschen Regierung,
wenig gekommen. Als ein Zeichen der Solidarität hat
jetzt immerhin Sachsen, wo es noch Kapazitäten in der
Intensivpflege gibt, acht schwer kranke Coronapatien-
ten aus Norditalien aufgenommen.
WWWenn sonst schon kaum medizinische Hilfe aus demenn sonst schon kaum medizinische Hilfe aus dem
AAAusland (und wenn, dann vor allem aus China) Italienusland (und wenn, dann vor allem aus China) Italien
erreicht, sind die verzweifelt isolierten Italiener der-
zeit besonders bedürftig für jeden Zuspruch, für jedes
WWWort des Mitgefühls und der Bewunderung. Denn dieort des Mitgefühls und der Bewunderung. Denn die
Disziplin, mit der die weitaus meisten Bürger Italiens
sich den harten Maßnahmen beugen, ist in der Tat
bewundernswert. Und es ist zweifelhaft, ob etwa die
Deutschen in vergleichbarer Misere ähnlich solidarisch
und vernünftig reagieren würden. Hoffentlich wird
man das nicht sehr bald miteinander vergleichen müs-
sen.
Nur ein Mensch mit einem Herzen aus Stein kann
im Moment ohne Tränen verfolgen, wie die Italiener
sich im Kampf mit dem Virus gegenseitig Mut zu ma-
chen versuchen. Fernsehen und Internet überbieten
sich mit Bildern ihrer wunderschönen Heimat voller
KKKunstwerke und Meeresstrände, weltberühmter Alt-unstwerke und Meeresstrände, weltberühmter Alt-
städte und Landschaften. Von der unvergleichlichen
KKKüche zu schweigen – ohne Italien wäre die europäi-üche zu schweigen – ohne Italien wäre die europäi-
sche Zivilisation, die deutsche allzumal, nicht die Hälf-
te wert. Gerade jetzt sind wir alle Italiener, wenn wir
an Michelangelo und Leonardo denken, an Vivaldi und
VVVerdi, an Dante und Petrarca. Auch die erste literari-erdi, an Dante und Petrarca. Auch die erste literari-
sche Beschreibung und Verarbeitung der Schrecken,
die eine Pandemie auslöst, verdanken wir dem Toska-
ner Boccaccio in seinem Novellenreigen „Decamero-
ne“, der von der verheerenden Pest der Jahre 1348/
handelt.
Doch die Italiener klammern sich in ihrer Not kei-
neswegs nur an die historischen Meriten ihrer Kultur,
sondern zeigen als warmherziges und soziales Volk
vorbildlichen Zusammenhalt. Tausende Freiwillige
bewahren Kliniken vor dem Kollaps, Nachbarn kaufen
fffür Bedürftige ein, Reiche spenden Millionenbeträgeür Bedürftige ein, Reiche spenden Millionenbeträge
fffür die ür die heldenhaften medizinischen Helfer. Kaum
jemand in Deutschland weiß, dass sich bereits 4000

Ärzte und Pfleger in Italien infiziert haben, dass weit
mehr als ein Dutzend Mediziner bei der Arbeit ge-
storben sind. Gerade erst meldeten sich auf einen
AAAufruf der Regierung, die 500 Ärzte für die Notgebieteufruf der Regierung, die 500 Ärzte für die Notgebiete
dringend benötigt, fast 8000 Mediziner im ganzen
Land!
Ihnen zu Ehren hängen viele Tausend Landsleute
Transparente mit Dankesbotschaften auf ihre Balkons
und applaudieren den Krankenschwestern und Ärzten
aaaus ihrer Isolation heraus auf die leeren Straßen undus ihrer Isolation heraus auf die leeren Straßen und
Gassen.
In der Not des Shutdown zeigt sich auch der typisch
selbstironische Humor der Italiener, die sich mit voller
Skiausrüstung vor der Fototapete filmen, wenn sie eine
KKKurzpiste aus Sofakissen herabrutschen, oder ihreurzpiste aus Sofakissen herabrutschen, oder ihre
Bambini einen Rap gegen die Infektion einstudieren
lassen. Vor allem aber gehen beim Volk, das die Oper
erfunden hat, derzeit Lieder der Hoffnung und des
Trostes viral. Viele Showgrößen singen gegen die Ver-
zzzweiflung an. Wenn jetzt täglich die martialische weiflung an. Wenn jetzt täglich die martialische Ma-
meli-Hymneübers Radio in Millionen Haushalten
Zusammenhalt stiftet, so folgt direkt darauf Adriano
Celentanos cooles „Azzurro“. Einer Krankenpflegerin,
die nach Wochen ermüdenden Schichtdienstes von
einem Konzert in ihrem geliebten Opernhaus La Feni-
ce träumte, sandten die venezianischen Musiker aus
ihrer Isolation ein komplettes Konzertprogramm, das
sie im Netz aus den einzelnen Stimmen zu einem
Orchester und einem Chor zusammengeschnitten
hatten. Und die Krankenschwester dankte aus ihrer
Station mit dem Versprechen: „Wir geben niemals
aaauf!“uf!“
Italien ist ein kultiviertes Land, in dem man alte
Menschen ehrt und liebt. Deshalb gab es dort anders
als in der linken Szene Deutschlands auch keine ge-
schmacklosen (und obendrein verkehrten) Kommenta-
re, das Virus solle ruhig die Generation der Alten und
WWWeißen ausrotten und die Party der bunten Jugendeißen ausrotten und die Party der bunten Jugend
nicht weiter stören.
Italiens Premier Conte hat als einen besonderen
Grund für den Shutdown die Parole ausgegeben: „Ver-
teidigen wir unsere Großeltern!“ Dass nun Tausende
AAAlte ohne die Nähe ihrer Liebsten auf Isolierstationenlte ohne die Nähe ihrer Liebsten auf Isolierstationen
sterben müssen, dass es meist keinen Abschied, keine
Dankesworte, keine Berührungen mehr geben kann,
macht für Familienmenschen wie die Italiener die
Pandemie noch unerträglicher. Pflegerinnen aus Berga-
mo berichten, wie sie in Ermangelung von Tablets die
letzten Grüße erstickender Patienten regelmäßig übers
eigene Handy an die Angehörigen sprechen lassen.
Mehr können sie im völlig überforderten Gesundheits-
system oft nicht tun. Dass in Kliniken wie dem be-
sonders betroffenen Giovanni XXIII in Bergamo längst
die Triage der Älteren praktiziert wird, dass todkranke
AAAlte, für die es keine Beatmungsgeräte mehr gibt, nurlte, für die es keine Beatmungsgeräte mehr gibt, nur
mehr gegen die Atemnot final sediert werden können,
wissen in Italien nicht nur Millionen von Großeltern,
die in ihrer Isolation zusammen mit den Familien um
ihr Leben fürchten.
WWWer in Deutschland glaubt, dass es hierzulande zuer in Deutschland glaubt, dass es hierzulande zu
solchen Zwangslagen nicht kommen kann, muss nur
eine simple Rechnung aufmachen: Italien kam mit
einem guten Zehntel der Intensivpflegeplätze gegen-
üüüber Deutschland sehr schnell an die Grenzen desber Deutschland sehr schnell an die Grenzen des
Kollaps. Doch ist beim massenhaften Anstieg der In-
fffektionen in Deutschland die Gesamtkapazität erstektionen in Deutschland die Gesamtkapazität erst
einmal erschöpft, ergeht es allen Patienten, die danach
eingeliefert werden, nicht besser als den armen Ita-
lienern, die in diesem Moment auf den Klinikfluren
qualvoll sterben müssen. Insofern sind die Italiener in
ihrem heroischen Kampf gegen das Virus nicht die
armen Vettern, die mit der Krise nicht zurechtkom-
men, sondern die Vorreiter einer ungekannten Notla-
ge, die uns alle betrifft.
Im Moment lehrt uns Italien eine Lektion in Zu-
sammenhalt, die viel zu viele in Deutschland aus un-
fffassbarer Blindheit noch nicht wahrhaben wollen.assbarer Blindheit noch nicht wahrhaben wollen.
Jedoch für die Vernünftigen und Empathischen unter
uns gibt es nur eine würdige Botschaft an unsere eu-
ropäischen Freunde zwischen Brenner und Lampedu-
sa: Wir sind bei euch und lassen euch in der Not nicht
im Stich! Viva l’Italia!
[email protected]

Viva


l’Italia!


Italien ist ein kultiviertes


Land, in dem man alte


Menschen ehrt und liebt



  • und zusammenhält.


Es gibt nur eine würdige


Botschaft an unsere


Freunde zwischen


Brenner und


Lampedusa: Wir sind bei


euch und lassen euch in


der Not nicht im Stich


LEITARTIKEL


DIRK SCHÜMER


3


25.03.20 Mittwoch,25.März2020DWBE-HP



  • Zeit:----Zeit:Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: ---Zeit:---Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe:
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25.03.2025.03.2025.03.20/1/1/1/1/For2/For2 AFREYE 5% 25% 50% 75% 95%


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S


chleswig-Holsteins Bildungs-
ministerin will wegen der Coro-
na-Pandemie die Abiturprüfun-
gen absagen. Das sei „nicht nur für
unser Schulsystem, sondern auch jeden
Einzelnen von uns“ geboten, argumen-
tiert Karin Prien (CDU). Damit aber
erweist sie jedem einzelnen Abiturien-
ten dieses Jahrgangs einen Bären-
dienst. Denn ein Abitur ohne Ab-
schlussprüfung entwertet das gesamte
Reifezeugnis. Über Schulen hinweg
vergleichbare Testaufgaben fallen weg.
Stattdessen bekommen die vergleichs-
weise subjektiven Leistungseinschät-
zungen der jeweiligen Fachlehrer zu-
sätzliches Gewicht. Plant die Kultus-
ministerin doch, dass die bisher er-
brachten Leistungen die Note bestim-
men sollen.
AAAuch jedem einzelnen Schüler ent-uch jedem einzelnen Schüler ent-
gehen Chancen. Die Chance etwa, das
in den vergangenen Jahren Gelernte in
üüübergreifenden Prüfungen unter Beweisbergreifenden Prüfungen unter Beweis
zu stellen. Und die Chance, sich in einer
persönlichen Belastungsprobe zu be-

währen. Die Prüfungen sind anstren-
gend, keine Frage. Und ja, die Situation
in vielen Familien ist in Zeiten von
Corona angespannt. Das allerdings ist
kein Grund, in Jammerei zu verfallen.
Natürlich ist es den Schülern im Land
möglich, sich die letzten Wochen da-
heim auf ihre Prüfungen vorzubereiten.
Zumal in einem Hightech-Land wie
unserem, wo Unterstützung möglich ist
durch Videokonferenzen, Online-Tuto-
rials und per E-Mail versandte und
korrigierte Aufgaben. Das wird inzwi-
schen allerorts praktiziert. Die Schulen
sind leer. Räume stehen in großer Zahl
zur Verfügung. Es ist organisatorisch
kein Hexenwerk, Schüler in Kleingrup-
pen in unterschiedlichen Räumen zu
ihren Prüfungen antreten zu lassen.
Selbstverständlich können dort Schüler
und Aufsicht führende Lehrer den nöti-
gen Sicherheitsabstand wahren.
Schleswig-Holstein darf kein Vorbild
für andere Bundesländer sein. Dort
sollten die Abiturprüfungen auch in
diesem Jahr stattfinden. Der Ruf des
Abiturs in Deutschland hat in den ver-
gangenen Jahren durch immer bessere
Benotungen bei sinkenden Leistungen
schon genug gelitten. Mit einem zu-
sätzlich weichgespülten Abitur 2020 ist
niemandem geholfen.

Ein Jahrgang ohne Abitur?


KOMMENTAR


INGA MICHLER


[email protected]


KUNDENSERVICE 0 8 0 0 / 9358537 DIENSTAG,24.MÄRZ

M


it dgrammen will die Bun-desregierung in der Co-benschweren Hilfspro-eispiellosen milliar-
Gze und Unternehmen retten. Auch Mie-ter, Familien, Selbstständige und dasesundheitssystem sollen Unterstüt-rona-Krise Arbeitsplät-
zbhung erhalten. Dafür beschloss das Ka-inett am Montag einen Nachtrags-aushalt mit der Rekordsumme von 156
Mlen, um die Gesundheit der Bürgerin-nilliarden Euro. „Wir gehen in die Vol-en und Bürger zu schützen, die Ar-
(beitsplätze und Unternehmen zuschützen, um unser Land zu schützen“,versicherte Vizekanzler Olaf ScholzSPD). „Wir wollen gut aus dieser Krise
hmderauskommen, gemeinsam bekom-en wir das hin.“ Bundestag und Bun-esrat sollen die Maßnahmen noch in
djetzt keine Zeit verliert“, sagte derHauptgeschäftsführer des Industriever-ieser Woche absegnen.„Es ist gut, dass die Bundesregierung
Hals. Es kommt auf jeden Tag an.“ Kri-tik kam hingegen aus dem Mittelstand,bandes BDI, Joachim Lang. „Das Wassersteht vielen Unternehmen bis zum
weil Firmen mit elf bis knapp 250 Mit-arbeitern zu kurz kämen.Wegen der Corona-Pandemie rech-
nen Ökonomen und auch die Bundesre-

gierung mit einer Rezession. Die Virus-krise wird laut Ifo-Institut hierzulandeProduktionsausfälle in Höhe von Hun-
derten von Milliarden Euro auslösenund den Arbeitsmarkt wie auch denStaatshaushalt erheblich belasten. „Die
oder Naturkatastrophen der letztenJahrzehnte in Deutschland bekannt ist“,Kosten werden voraussichtlich allesübersteigen, was aus Wirtschaftskrisen

sagte Ifo-Präsident Clemens Fuest. Jenach Szenario dürften Kosten von 255Milliarden bis 729 Milliarden Euro auf
Deutschland zukommen. „Auch am Ar-beitsmarkt kommt es durch die Krise zumassiven Verwerfungen“, sagte Fuest.
Krankenhäuser und Arbeitnehmer wer-den nach Berechnung der Bundesregie-rung in diesem Jahr rund 122,5 Milliar-Die Hilfspakete für Unternehmen,
den Euro kosten. Zugleich geht die Bun-desregierung von rund 33,5 Milliardenweniger Steuereinnahmen als ursprüng-
denbremse in Kraft setzen, die der Bun-lich eingeplant aus. Um die Kosten zustemmen, soll der Bundestag am Mitt-woch eine Notfallregelung in der Schul-
desregierung neue Kredite von rund 156Milliarden Euro ermöglicht.Das Geld soll nicht nur großen Unter-
nehmen zugutekommen. In ihrer Exis-tenz gefährdete Kleinstunternehmerund Solo-Selbstständige sollen überdrei Monate Finanzspritzen von 9000
mit hohen Umsatzerlösen sollen untereinen Schutzschirm schlüpfen können:bis 15.000 Euro bekommen. GrößereUnternehmen ab 250 Mitarbeitern oder
Sie sollen mit Kapital und Garantien ge-stärkt werden, dafür plant die Bundes-regierung 500 Milliarden Euro ein.
Scholz versicherte: „Mit dem Fonds ver-schaffen wir uns die nötige Finanzkraft,

und große deutsche Unternehmen zuschützen.“ Wirtschaftsminister Peterunsere Volkswirtschaft, Arbeitsplätze
Altmaier (CDU) sagte, notfalls werdeder Staat Firmen damit auch teilweiseoder ganz übernehmen. Das Zustande-
kommen des Programms ist nach An-sicht von SPD-Generalsekretär LarsKlingbeil vor allem auch ein Verdienstvon Minister Scholz. „Faktisch wird die
nanzministerium gemacht“, sagteKlingbeil im WELT-Interview.Wirtschaftspolitik gerade aus dem Fi-
Koch-Institut (RKI) vorsichtig optimis-tisch, dass sich der Anstieg der Corona-virus-Fallzahlen in Deutschland leichtUnterdessen zeigte sich das Robert
abschwächt. „Wir sehen den Trend, dassdie exponentielle Wachstumskurve sichetwas abflacht“, sagte RKI-PräsidentLothar Wieler. Aber erst am Mittwoch
könne man wohl Genaueres über dieWirkung der seit einer Woche gelten-den Einschränkungen sagen.
deskanzlerin Angela Merkel (CDU) fielnach Angaben eines Regierungsspre-chers negativ aus. Weitere Tests solltenDer erste Coronavirus-Test bei Bun-
einem Arzt in Kontakt gewesen, der in-folgen. Die Kanzlerin hatte sich amSonntagabend vorsorglich in häuslicheQuarantäne begeben. Sie war zuvor mit

Milliarden-Rettungsschirm


fffür Unternehmen und Bürger ür Unternehmen und Bürger


wKabinett beschließt Hilfsprogramm, um Folgen der Virus-Krise aufzufangen. Kosten der Pandemieerden laut Ifo-Institut wohl „alles übersteigen“, was aus den vergangenen Jahrzehnten bekannt ist

KKKAein Auto fährt, nur ein einsamer Blitzer lauert in der Nähe von Dresden auf Verkehrssünder. Die zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie verhängten ein Auto fährt, nur ein einsamer Blitzer lauert in der Nähe von Dresden auf Verkehrssünder. Die zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie verhängten usgangsbeschränkungen in Deutschland zeigen vielerorts Wirkung. Bilder wie diese von leeren Schnellstraßen erinnern an die Ölkrise und autofreie Sonntage 1973
DPA/ ROBERT MICHAEL

DIm Kampf gegen die Corona-virus-Krise werden erstmals dieeuropäischen Schulden- undefizitregeln
aEmusgesetzt. Dem stimmten dieU-Wirtschafts- und Finanz-inister am Montag zu. Sie vorübergehend
bEAilligten den Vorschlag der U-Kommission, die sogenanntellgemeine Ausweichklausel des
Spakts zu ziehen. Dies gibt denStaaten freie Hand für Hilfs-tabilitäts- und Wachstums-
pakete.

Dwefizitregeln der EUerden ausgesetzt

**D2,80EUROBNr. 71

SiAch Zweifel habe. Auchngst, einen Fehler zu machen. Weileit Tagen zögereisch, etwas zuchreiben. Weil
ch nicht sicher bin, was richtig ist.iWiWch Verantwortung habe für 16.500Wnannter Risikopatient wäre. Und weileil ich als Asthmatiker ein soge-eil ich als Asthmatiker ein soge-
Meinem Text wie diesem auslöse.itarbeiter. Und für das, was ich mitAAAuch ich hänge an den Lippen deruch ich hänge an den Lippen der
VPatirologen und Epidemiologen. Dasroblem ist: Der eine sagt dies, derndere das. Und einig sind sie sich sel-en. Jeder glaubt an sich. Und gemein-
sam sagen sie wenig. Die Regierungfolgt. Vor allem den Experten vomfolgt. Vor allem den Experten vomfRobert-Koch-Institut und von der
WeWWMCs sind Experten ohne das Mandat desharité. Diese fast unbeschränkteählers. Aber sie entscheiden indi-acht ist mir zu alternativlos. Dennählers. Aber sie entscheiden indi-
rdsim Alltag könnten zwei Jahre dauern,ekt, was die Regierung anordnet. Alser Chef des Robert-Koch-Institutsagte, die massiven Einschränkungen
hwzurückgenommen hat). Jeder Schülerabe ich das Vertrauen verloren (auchenn er seine Aussage später wieder
ssvweiß, dass die Weltwirtschaft und un-ere Gesellschaft einen solchen Still-tand nicht einmal wenige Monateerkraften können. Wer so etwas
dtigste Kompass der Regierung sein. enkt und sagt, darf nicht der wich-In den letzten Wochen oszilliert
mmmüber die Angst vor einem Virus, daseine Meinung hin und her. Manch-al schlafe ich ein mit der Klarheiteiner Wut. Dann ärgere ich mich

wg (^2) seltweit bisher weniger Todesopferefordert hat als die Grippewelle von017/2018 in Deutschland. Damalstarben schätzungsweise 25.100 Men-
slem ältere und vorerkrankte Men-schen. Müssten dementsprechendchen. Das Coronavirus trifft vor al-
gmnicht vor allem Maßnahmen für diesebesonders gefährdeten Menschen er-riffen werden? Während die anderenöglichst weiterleben und -arbeiten
wwdie bisher? Bei genauer Betrachtungissen wir erschütternd wenig überas Virus. Laut einer Studie in
„rona-Fälle in China bei über 80 Pro-zent. Wie hoch ist sie in Europa, beiso geringer Testdichte? Was sagt dannScience“ lag die Dunkelziffer der Co-
MVKeine Statistik über Mortalität?irologen Hendrik Streeck vom Uni-linikum Bonn, der sagt: „Wäre unsanchmal denke ich an den Satz des
dvJahr eine schwere Grippewelle.“as Virus nicht aufgefallen, hätte manielleicht gesagt, wir haben dieses
ker, die sich in einem Entschlossen-heitswettkampf zu überbieten versu-chen. Wer hat die härteste Maßnah-Ich ärgere mich dann über Politi-
mosn? Wer das schnellste Notstandsge-etz? Hinter vorgehaltener Hande? Wer die entschiedenste Sankti-
skmhprechen manche anders. Aber soönne man in der derzeitigen Stim-ung öffentlich nicht argumentieren,eißt es. Das alles macht mir Angst,
weil es nicht vom Ende her gedacht
ASUngst vor dem Sterben. o schlafe ich ein.nd dann wache ich auf.
wmmeltweit. 22.672 in Deutschland. 4062ehr als am Vortag. Fast viermalehr als letzte Woche. 20 Prozent der^2 94.110 Corona-Fälle
Psd 4 atienten, die in ein US-amerikani-ches Krankenhaus eingewiesen wur-en, sind angeblich zwischen 20 und4 Jahren. Und dann die Bilder aus
BMKnergamo. Lastwagen mit Leichen.assengräber. Weinende Ärzte undrankenschwestern, die Sterbende
wkönnen. Der 70-jährige Arzt, der da-rauf besteht, nicht mehr behandelt zuerden, weil er selbst zu viele Patien-icht mehr angemessen versorgen
tmden in seinem Alter zurückweisenusste. So wache ich auf.Uern und Zweifeln wird mir klar:nd nach allem Ringen und Zau-
Odkönnten als die Folgen des Virusbwohl ich befürchte, dass die Folgener Virusbekämpfung schlimmer sein
Sdselbst (Rezession, Massenarbeits-losigkeit, Enteignungen, vielleichtchlimmeres), glaube ich am Ende,ass diese Maßnahmen richtig sind. Je
eehentschlossener, desto besser. Dennine Strategie braucht Entschieden-eit. Und diesen Weg haben wir nun
schlagen. Kaum Kontakt. Atem anhalten. Ruhe.inmal aus guten Gründen einge-Shutdown. Stillstand. Pause. Mute.
giVakuum. Nichts. Für kurze Zeit, weni-Vakuum. Nichts. Für kurze Zeit, weni-e Wochen. Das können wir packen. Vst, dass man ihr Ende bedenkt undntscheidend an dieser StrategieE
idZhr zügiges Ende plant. Es ist eine ra-ikale Vorgehensweise für sehr kurzeeit. Es geht darum, die Ausbreitung
dzu gewinnen. Um auch die Vorausset-zungen für mehr intensivmedizini-sche Versorgung zu schaffen. Länger-es Virus zu verlangsamen, um Zeit
ffflzristig ist ein Stillstand gesellschaft-ristig ist ein Stillstand gesellschaft-ich, wirtschaftlich und politisch nichtu verkraften. Die Fantasie, dass wir
dvlich. Es wird der Tag kommen, an demie Pausetaste drücken, bis das Viruserschwunden ist, ist naiv und gefähr-
dkalkontakten“ (was für ein technokra-ie Politik ihr Narrativ ändert und er-lärt, dass die „Vermeidung von Sozi-
stischer Begriff) zu Ende ist. Wir wie-der arbeiten und fast wie früher lebenollen. Zurück zur Normalität. Zur zi-
KOMMENTAR
IIIch habe Zweifelch habe ZweifelMATHIAS
DÖPFNER
KRISEN ZWINGEN DAZU,
DINGE ANDERS ZU MACHEN,
NEU ZU DENKEN.SIE FÖRDERN DEN
ZUSAMMENHALT


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Leserbriefe geben die Meinung unserer Leser


wieder, nicht die der Redaktion. Wir freuen


uns über jede Zuschrift, müssen uns aber das


Recht der Kürzung vorbehalten. Aufgrund der


sehr großen Zahl von Leserbriefen, die bei


uns eingehen, sind wir leider nicht in der Lage,


jede einzelne Zuschrift zu beantworten.


dass dies in den letzten zehn Jahren
jemals bestritten wurde. Unsere eu-
ropäischen Institutionen nehmen die
Corona-Krise ernst, haben alle Ener-
gien mobilisiert, überarbeiten Strate-
gien, passen Beschlüsse den neuen
Gegebenheiten an, setzen zusätzliche
Gelder frei und schaffen die Rahmen-
bedingungen dafür, dass die europäi-
schen Mitgliedstaaten besser und
schneller agieren können. Das darf ich
Ihnen nicht nur in meiner Funktion als
Koordinator der EVP-Fraktion des
Industrie- und Forschungsausschusses
versichern. Erst vor wenigen Tagen hat
EU-Kommissarin Mariya Gabriel inner-
halb von drei Tagen fast 140 Millionen
Euro zur Bekämpfung von Covid-
gebündelt und eine Sonderausschrei-
bungen lanciert. 136 Forschungsteams
aus der gesamten EU und darüber hi-
naus sind an ausgewählten Projekten

und Online-Plattformen ausgetauscht
wurde. Am kommenden Donnerstag
stimmen wir im Plenum virtuell über
Mittel in Höhe von insgesamt 37 Milli-
arden Euro ab, die kleinen und mitt-
leren Unternehmen zur Verfügung
gestellt werden. Um nur einige Bei-
spiele zu nennen. Und es geht hier in
keiner Weise darum, die Verdienste der
nationalen Regierungen und ihre ent-
schiedenen und weitgreifenden Maß-
nahmen zu schmälern. Im Gegenteil, in
einer Reihe von Fällen ist dies vorbild-
lich. Nationale Regierungen sind die
demokratisch gewählten Institutionen,
die über die notwendigen drastischen
Maßnahmen entscheiden können und
sollen. Es geht vielmehr um die Frage:
Was kommt danach, und auf welcher
Ebene müssen wir sinnvollerweise
gemeinsam in Europa agieren? Macht
es nicht eher Sinn, statt in polemischer

Weise das Gegensatzpaar National-
staaten versus EU aufzumachen, ge-
meinsam weiter zu denken, um für die
Zukunft besser gewappnet zu sein?
Beispielsweise darüber, ob wir nicht
umgehend eine bessere Ausstattung an
Flughäfen und bessere Detektions-
systeme für Gesundheitssymptome
benötigen? Und lassen Sie uns eines
nicht vergessen: Die Mitgliedstaaten
haben die Grenzen zugemacht, aber die
Waren verkehren weiter. Es ist unsere
gemeinsame EU, die den Binnenmarkt
gerade aufrechterhält. Nach dieser
Krise, die vielleicht kein Einzelfall
bleiben wird, bedarf es der gemein-
samen Anstrengungen in der EU, um
den Binnenmarkt wieder anzukurbeln,
denn nationale Volkswirtschaften wer-
den da alleine nur eingeschränkt etwas
erreichen können.

DR. CHRISTIAN EHLER, MDEP


LESERBRIEFE


beteiligt, die jetzt mit der Entwicklung
von Impfstoffen, neuen Behandlungs-
methoden, diagnostischen Tests und
medizinischen Systemen zur Verhin-
derung der Verbreitung des Coronavi-
rus beginnen werden. Ohne 30 Jahre
europäische Forschungspolitik wären
wir gar nicht in der Lage, so schnell
und länderübergreifend auf gemein-
same Forschungsteams in der Immuno-
logie zurückgreifen zu können. Das
deutsche Robert-Koch-Institut ist ein
Paradebeispiel für ein abgestimmtes
europäisches Forschungsmanagement
und einen beispielhaften Austausch
von Daten. Am vergangenen Donners-
tag fand auf Initiative der Europäi-
schen Kommission eine Videokon-
ferenz mit den europäischen Bildungs-
ministern statt, in denen sich zum
koordinierten Vorgehen im Hinblick
auf Fernunterricht, E-Klassenräume

Was die EU leistet


Zu: „Rückkehr des Nationalstaats“
vom 23. März

Sehr geehrter Herr Schuster, in der
gegenwärtigen Situation einen WELT-
Artikel zu lesen wie den Ihren, der
jubelnd die Nationalstaaten beschwört,
und das auf Kosten einer vermeintlich
trägen und arroganten Europäischen
Union, macht mich fassungslos. Das ist
unfair, die Wirklichkeit verzerrend und
intellektuell trostlos. In den europäi-
schen Mitgliedstaaten und auf europäi-
scher Ebene wird auf Hochtouren an
Lösungen gearbeitet. Dabei sehen die
europäischen Verträge eine klare Ar-
beitsteilung vor, die gerade bei Ge-
sundheitsfragen der europäischen Ebe-
ne zu Recht nur begrenzte Aufgaben
zuweist. Ich kann mich nicht erinnern,

G


ute Nachrichten in Corona-
Zeiten sind immer willkom-
men. Und jetzt, wo die Bevöl-
kerung zu Hause lebt und arbeitet, ist
der nochmalige Rückgang der Dieb-
stahlsdelikte in der bundesweiten Poli-
zeilichen Kriminalstatistik 2019 auf den
niedrigsten Stand seit 1987 natürlich
sehr beruhigend. Die Wohnungs- und
Kfz-Einbrüche gehören ja auch dazu,
genauso wie Taschen- und Trickdieb-
stähle. Es sind Delikte, deren Rückgang
angesichts leerer Straßen und einsamer
Einkaufsgänge wirklich erfreulich ist –
genauso wie die abgesunkene sonstige
Straßenkriminalität.
Die positive Entwicklung hat aber
einen spezifischen Grund. Seit 2015
sind immer mehr Grenzen dicht oder
zumindest schärfer kontrolliert. Be-
sonders die Balkanroute gerät dabei in
den Blick. Gut organisierten Ein-
bruchs- und Hehlerbanden aus polizei-
lich einschlägig bekannten Regionen
bricht der Transport- und Fluchtweg
weg. Das gilt seit der Corona-beding-
ten Abriegelung der EU-Flugplätze
auch für die sattsam bekannten chile-
nischen Einbrecherbanden. Die po-
sitive Tendenz bei Diebstahlsdelikten
wird sich im nächsten Berichtszeit-

raum 2020 wohl fortsetzen. Je länger
die Abschottung anhält, um so besser
werden die Zahlen aussehen. Zumin-
dest dann, falls eine Corona-bedingte
Zunahme an Ladendiebstählen und
veritablen Plünderungen ausbleibt.
Geschlossene Grenzen üben auf viele
eine beruhigende Wirkung aus.
Die Politik wird aufpassen wollen,
dass die Kriminalstatistik kein Argu-
ment für die Beibehaltung der strikten
Kontrollen wird – zumal hier auch das
Präventionsprogramm von Bund und
Ländern Wirkung zeigt. Die Finanz-
hilfen für die technische Wohnungs-
absicherung haben zu einer steigenden
Anzahl gescheiterter Einbruchsver-
suche geführt. Hinzu kommt eine ge-
stiegene Ermittlungsintensität. Die
wiederum ist einer der Gründe, wes-
halb Pädophilie-Delikte so steil an-
gestiegen sind. Hier wird jetzt endlich
genau hingeschaut und entschlossen
durchgegriffen. Eine bessere digitale
Ausstattung der Ermittler würde sich
dort und bei weiteren internetbasier-
ten Delikten bemerkbar machen.
Durchgreifen wird auch auf einem
dritten Feld nötig sein. Trotz sinkender
Gesamtzahlen bleibt der Anteil auslän-
discher Tatverdächtiger mit rund 30
Prozent konstant. Die Kehrtwende, die
zum Beispiel Nordrhein-Westfalen im
Umgang mit kriminell aktiven Clans
vollzogen hat, könnte 2020 vielleicht
ebenfalls zahlenwirksam werden –
vorausgesetzt, alle Bundesländer
schließen sich dem Beispiel an.

Gute Nachrichten


PLATZ DER REPUBLIK


TORSTEN KRAUEL


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