Die Welt - 25.03.2020

(ff) #1

D


ie Polizeiliche Kriminal-
statistik (PKS) ist kein
perfektes Abbild der
Wirklichkeit, denn von
vielen Straftaten be-
kommt die Polizei nie etwas mit. Trotz-
dem vermittelt sie einen Eindruck, wie
sich die Kriminalität bundesweit entwi-
ckelt – abseits von persönlichen Erfah-
rungen und Medienberichten über ein-
zelne Straftaten. Nun wurde die Statis-
tik für das Jahr 2019 veröffentlicht, al-
lerdings wegen der Corona-Krise nicht
wie sonst üblich in der Bundespresse-
konferenz, sondern per Pressemittei-
lung. Aus ihr geht knapp zusammenge-
fasst hervor: Die registrierte Kriminali-
tät ist im Vergleich zum Vorjahr gesun-
ken. Allerdings gab es einen deutlichen
Anstieg bei Angriffen auf Vollstre-
ckungsbeamte und bei der Kinderpor-
nografie. Zudem sind Ausländer insbe-
sondere bei schwerer Gewalt stark
überrepräsentiert.

VON MARCEL LEUBECHER UND MARTIN LUTZ


Laut PKS wurden 2019 insgesamt mit
5 ,44 Millionen Straftaten zwei Prozent
weniger registriert als im Vorjahr. Damit
setzte sich der rückläufige Trend seit
2 017 fort. Dem Bundeskriminalamt
(BKA) zufolge wurde „eine vergleichbar
geringe Anzahl erfasster Fälle letztmalig
1 992“ (5,21 Mio.) ausgewiesen. In den Jah-
ren 2014 bis 2016 hatte die Polizei noch
wesentlich mehr Straftaten registriert,
nämlich jeweils mehr als sechs Millionen.
Bundesinnenminister Horst Seehofer
(CSU) zieht ein positives Fazit:
„Deutschland ist wieder ein Stück siche-
rer geworden. Von Jahr zu Jahr ver-
zeichnet die Polizei weniger Straftaten.“
Dieser Trend habe sich nun auch im ver-
gangenen Jahr fortgesetzt. Nun hat na-
türlich der Minister ein großes Interesse
daran, die Lage in ein möglichst gutes
Licht zu rücken. Nicht explizit erwähnt
wird nämlich, dass sich der Rückgang
um zwei Prozent fast vollständig durch
gesunkene Diebstahlzahlen erklärt: Ins-
gesamt ging die registrierte Kriminalität
nämlich um 119.000 Fälle zurück, allein
bei der Diebstahlkriminalität gab es ei-
nen Rückgang um 114.000.
Die Diebstahlkriminalität hat zahlen-
mäßig den größten Anteil an der PKS,
allein auf sie entfielen mit 1,82 Millio-
nen ein Drittel aller registrierten Delik-
te. Stutzig macht, dass laut der von See-
hofer und BKA-Präsident Holger Münch
veröffentlichten PKS die Diebstähle
sich auf dem niedrigsten Niveau seit
1987 bewegten. Ob tatsächlich im Jahr
2019 so wenig gestohlen wurde wie seit
drei Jahrzehnten nicht mehr oder ob
viel weniger Diebstähle angezeigt wer-
den, weil die Aufklärungsquote sehr ge-
ring ist, lässt sich nicht beantworten.
Besonders starke prozentuale Verän-
derungen im Vergleich zum Vorjahr gab
es beim tätlichen Angriff auf Vollstre-
ckungsbeamte (plus 28 Prozent), beim
Kindesmissbrauch (plus elf Prozent)
und bei „Verbreitung, Erwerb, Besitz
und Herstellung kinderpornografischer
Schriften“ (plus 65 Prozent). Die Zu-
nahme bei der Kinderpornografie be-
zeichnete Seehofer als „dramatisch“,
betonte aber zugleich, dies sei auch da-
durch zu erklären, dass mehr Fälle vom
Dunkel- ins Hellfeld gerückt worden
seien. Die Zusammenarbeit mit der US-
Organisation NCMEC und deutschen
Internetbeschwerdestellen habe zu
deutlich mehr Hinweisen geführt. Ein
Teil des Anstiegs dürfte auch auf den

Missbrauchsfall rund um den Camping-
platz Lügde in Nordrhein-Westfalen zu-
rückzuführen sein.
Wie bereits in den Vorjahren weist
auch die aktuelle PKS einen außeror-
dentlich hohen Anteil von Ausländern
an der Kriminalität aus. Zu den insge-
samt registrierten Straftaten wurden
2019 insgesamt 2,02 Millionen Tatver-
dächtige erfasst, darunter 699.000 Per-
sonen ohne deutschen Pass (35 Pro-
zent). Allerdings gibt es Straftaten, die
nur Ausländer begehen können, dazu
gehört zum Beispiel der unerlaubte Auf-
enthalt. Betrachtet man nur die Strafta-

ten, die nicht mit ausländerrechtlichen
Verstößen zusammenhängen, wurden
letztes Jahr 1,9 Millionen Tatverdächti-
ge registriert, darunter 577.000 Auslän-
der (30 Prozent).
Insbesondere bei der Gewaltkrimina-
lität sind Nichtdeutsche stark überre-
präsentiert. So hatten laut PKS im ver-
gangenen Jahr 40 Prozent der zu Mord
und Totschlag ermittelten Tatverdäch-
tigen (1185 Personen) keinen deutschen
Pass. Bei der schweren und gefährlichen
Körperverletzung waren es 37 Prozent
(52.634). Damit sind Ausländer weit
stärker in der Statistik vertreten, als es

ihrem Anteil an der Bevölkerung (
Prozent) entspricht.
Allerdings ist bei Vergleichen der sta-
tistischen Kriminalitätshäufigkeit zwi-
schen Deutschen und Ausländern zu be-
achten, dass unter den tatverdächtigen
Nichtdeutschen auch solche sind, die gar
nicht hier leben – etwa Touristen oder
reisende Verbrecherbanden. Besonders
bei Einbruchs- und Diebstahlsdelikten
sind solche nicht im Land wohnenden
Ausländer stark vertreten. Bei der Ge-
waltkriminalität spielen im Ausland le-
bende Nichtdeutsche aber in der Regel
keine große Rolle. So hatte WELT im

vergangenen Jahr recherchiert, dass 2018
nur rund zwei Prozent der zu Mord und
Totschlag ermittelten tatverdächtigen
Ausländer ihren Wohnsitz außerhalb des
Bundesgebietes hatten. Bei weiteren
rund zwei Prozent war der Wohnsitz un-
bekannt. Die übrigen waren in Deutsch-
land gemeldet. Bei der gefährlichen und
schweren Körperverletzung waren 2018
ebenfalls fast alle tatverdächtigen Aus-
länder in Deutschland gemeldet. Hier
hatten rund drei Prozent ihren Wohnsitz
außerhalb des Bundesgebietes, und bei
weiteren rund zwei Prozent war der
Wohnsitz unbekannt.

Bei der zahlenmäßig bedeutsamsten
Kategorie der Straftaten, der Diebstahl-
kriminalität, zeigen sich deutliche Ver-
änderungen: Nämlich eine Abnahme
des Diebstahls von Kraftfahrzeugen um
6,9 Prozent (28.132 Fälle), von Fahrrä-
dern um 4,8 Prozent (277.874 Fälle) so-
wie von Taschendiebstahl um 9,7 Pro-
zent (94.106 Fälle).
Insbesondere der Einbruchdiebstahl
in Wohnungen nahm erneut stark ab –
auf 87.145 Fälle, ein Minus von 10,6 Pro-
zent. Deutlich über diesem Schnitt la-
gen die Bundesländer Rheinland-Pfalz
(-20,7 Prozent), Bayern (-17,1 Prozent)
und Niedersachsen (-15,5 Prozent), die
zu diesem neuen Tiefstwert beitrugen.
In Ostdeutschland sorgten dafür vor al-
lem Mecklenburg-Vorpommern (-19,
Prozent) und Thüringen (-19,3 Pro-
zent). Die Zahl der Wohnungseinbrüche
war bereits 2018 bundesweit erstmals
unter die Marke von 100.000 gefallen.
Zum einen liegt dies an verstärkten Er-
mittlungs- und Fahndungsmaßnahmen
der Polizei, zum anderen an der Schlie-
ßung der Balkanroute. Seehofer machte
auch „Aufklärungskampagnen und
staatliche Unterstützungsleistungen“
wie das Förderprogramm der Kreditan-
stalt für Wiederaufbau (KfW) zum Ein-
bau von besser geschützten Türen und
Fenstern dafür verantwortlich.
Wohnungseinbruch ist ein genau er-
fasstes Delikt, weil es fast immer ange-
zeigt wird. Nicht zuletzt, damit Opfer
von ihrer Versicherung entschädigt
werden können. Der Rückgang redu-
ziert auch den Gesamtschaden. Bern-
hard Gause, Mitglied der Geschäftsfüh-
rung des Gesamtverbands der Deut-
schen Versicherungswirtschaft (GDV),
sagte WELT: „Es zahlt sich jetzt aus,
dass viele Hausbesitzer in den vergan-
genen Jahren in bessere Sicherheits-
technik investiert haben.“ Trotz gesun-
kener Einbruchzahlen sei die Entschä-
digungsleistung von 300 Millionen Euro
im Vergleich zum Vorjahr unverändert
geblieben. Der Grund ist, so Gause, dass
die durchschnittliche Entschädigung
für einen Einbruch um 350 Euro auf ak-
tuell rund 3200 Euro gestiegen ist. Die
polizeilich gezählte Anzahl der Einbrü-
che ist belastbar, weil die Dunkelziffer
gering ist. In anderen Kriminalitätsfel-
dern, in denen nicht fast jede Tat zur
Anzeige gebracht wird, ist dies nicht der
Fall. Allerdings liegt die Aufklärungs-
quote bei Wohnungseinbruchdiebstahl
lediglich bei 17 Prozent – insgesamt
liegt die Quote bei 58 Prozent.
Viele Menschen fragen sich, welchen
Einfluss die Coronakrise auf die Krimi-
nalitätszahlen in diesem Jahr haben
wird. Der Vorsitzende der Deutschen
Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt,
sagte WELT: „Einbrüche in Wohnun-
gen und Häuser werden weniger, weil
die Leute zu Hause sind.“ Dafür wür-
den die Einbruchszahlen in Geschäfts-
räumen oder Schulen voraussichtlich
zunehmen. „Steigende Zahlen werden
wir bei häuslicher Gewalt haben, man-
che Einsatzkräfte melden jetzt schon,
dass sich da was tut“, so Wendt. Weil
aber andere Delikte derzeit kaum noch
stattfänden, wie Ladendiebstähle oder
Schwarzfahren, könnten die Kriminali-
tätszahlen insgesamt weiter sinken.
Auch der Vizechef der Gewerkschaft
der Polizei, (GdP), Jörg Radek, sagte
WELT: „Wahrscheinlich ist, dass die
Einbruchskriminalität noch einmal ab-
nehmen dürfte.“ Anders sehe es hinge-
gen bei Betrügereien und der Internet-
kriminalität aus.

Die registrierte Kriminalität ging 2019 weiter zurück, vor allem wegen der sinkenden


Anzahl gemeldeter Diebstähle. Ausländer sind bei schwerer Gewalt stark überrepräsentiert


DPA

/FRANK MOLTER

2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 


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Wohungseinbruchdiebstahl


Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik


Einbrüche in Häusern und Wohnungen in Deutschland


%


sonstige Straftaten
einfacher
Diebstahl

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Straftaten gegen
das Leben

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�,�Sexualdelikte


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�,�Rauschgiftdelikte


��,�Körperverletzung insg.


��,�Sachbeschädigung


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Betrug ��,�


schwerer
Diebstahl��,�

Straftaten


Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik


Anteile an Straftaten insgesamt (�,� Mio Fälle)


Weniger


Wohnungseinbrüche,


mehr


Kinderpornografie


6


25.03.20 Mittwoch,25.März2020DWBE-HP



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6 POLITIK DIE WELT MITTWOCH,25.MÄRZ


meterhohen Zaun vermutet man ohnehin
eine Klinik, so große sind die Grundstü-
cke und so zahlreich die Bauten.
Doch der neue Trend unter den Oligar-
chen offenbart eine im modernen Russ-
land einmalige Situation: Die Corona-Kri-
se stellt Superreiche aus der Sicht der
Staates auf eine Stufe mit Arbeitslosen.
Unter normalen Umständen ist es in
RRRussland recht einfach: Wer krank wirdussland recht einfach: Wer krank wird
und wenig Geld hat, hofft auf das staatli-
che Gesundheitssystem. Das gibt es seit
der Sowjetzeit, und jeder ist abgedeckt.
Die Qualität der Versorgung ist allerdings
schon in der Hauptstadt oft Glückssache,
in der Provinz erst recht. Wer gut ver-
dient, den deckt die private Krankenver-
sicherung ab, am Besten vom Arbeitgeber
bezahlt. Diese öffnet die Türen der Pri-
vatkliniken oder bietet bessere Versor-
gggung in den staatlichen Krankenhäusern,ung in den staatlichen Krankenhäusern,
ohne Wartezeit. Und wenn man richtig
reich ist, lässt man sich gleich im Ausland
behandeln – vorzugsweise in Israel, Finn-
land oder Deutschland.
RRRusslands Prominente, Schauspielerusslands Prominente, Schauspieler
und Sportler vertrauen sich den Gesund-
heitssystemen der entwickelten Länder
an und geben im Durchschnitt 40.

W


ährend einfache Russen sich
mit Buchweizen und Konser-
ven eindecken, hamstern
RRRusslands Superreiche massenhaft Beat-usslands Superreiche massenhaft Beat-
mungsgeräte. Diese Nachricht wurde in
den vergangenen Tagen dutzendfach von
russischen Medien aufgegriffen und em-
pört in den sozialen Netzwerken geteilt.
Die Vorstellung, dass Oligarchen für ihre
gesamte Familie lebensrettende Apparate
fffür umgerechnet 20.000 Euro das Stückür umgerechnet 20.000 Euro das Stück
besorgen, während andere in Zeiten der
Corona-Krisekaum genug Geld für einen
Großeinkauf haben, traf in Russland ei-
nen Nerv.

VON PAVEL LOKSHIN


AUS MOSKAU


Die Geschichte aus der auf Englisch er-
scheinenden „Moscow Times“, die sich
aaauf anonyme Interviews stützt, hört sichuf anonyme Interviews stützt, hört sich
zunächst wie eine Posse an. Warum soll-
ten Menschen, die sich Immobilien für
siebenstellige Euro-Beträge leisten kön-
nen und Bentley fahren, für ihre Anwesen
aaauf der Rubljowka, der Moskauer Land-uf der Rubljowka, der Moskauer Land-
straße der Reichen, nicht auch medizini-
sche Geräte besorgen? Hinter manchem

Euro pro medizinischen Auslandsaufent-
halt aus, etwa für Herz-Operationen oder
Krebstherapien. Selbst kremltreue Politi-
ker, wie der inzwischen verstorbene Du-
ma-Abgeordnete und legendäre Sowjet-
Sänger Iosif Kobson, vertrauten auf euro-
päische Medizin. Vor fünf Jahren durfte
er sich in Italien einer Prostatakrebs-Be-
handlung unterziehen, obwohl er als pro-
minenter Unterstützer der Krim-Annexi-
on und Ehrenbürger der „Volksrepublik
Donezk“ auf der EU-Sanktionsliste stand.
Nun ist dieses Kastensystem der Ge-
sundheitsversorgung, wo jeder um seinen
Platz wusste, kollabiert. Die EU hat Aus-
ländern, die dort keinen Wohnsitz haben,
die Einreise verboten. Die europäischen
Gesundheitssysteme haben derzeit ohne-
hin genug mit einheimischen Patienten
zu tun. In Russland wiederum dürfen nur
speziell ausgestattete staatliche Kliniken
Menschen auf das Virus testen und Co-
vid–19behandeln. Nur ihnen traut der
Staat zu, die Verbreitung der hochanste-
ckenden Krankheit im eigenen Haus zu
verhindern.
Das hat auch dazu geführt, dass sich
nun auch viele in Russland lebende Aus-
länder fragen, wo sie versorgt werden –

wenden sie sich doch meist an teuere Pri-
vatkliniken. Die sind allerdings nicht un-
bedingt an Covid-19-Patienten interes-
siert, denn deren Behandlung ist teurer
und aufwendiger als bei einer normalen
Lungenentzündung. Ohnehin ist es im
russischen System so, dass die meisten le-
bensgefährlichen Infektionskrankheiten
wie HIV oder Hepatitis-C nicht durch die
üüübliche private Police abgedeckt sind.bliche private Police abgedeckt sind.
AAAuch Krebspatienten werden von den pri-uch Krebspatienten werden von den pri-
vaten Versicherungen in das staatliche
System abgeschoben.

WWWas passiert also, wenn man in Russ-as passiert also, wenn man in Russ-
lands Coronavirus-Hotspot Moskau an
Covid–19 erkrankt, ob man arm oder
reich ist? Als ein aus dem Ausland einge-
reister Verdachtspatient kommt man mit
großer Wahrscheinlichkeit in das Kran-
kenhaus Kommunarka im Norden der
Stadt. Es wurde Ende 2019 fertiggestellt
und gilt als modern. Staatliche Fernseh-
sender werden nicht müde, Erlebnisbe-
richte von fotogenen Patienten mit Ver-
dacht auf Covid-19 zu veröffentlichen, die
das Haus loben. Dort werde man so
gründlich untersucht wie nie zuvor, ließ
sich eine Frau von der staatlichen Nach-
richtenagentur RIA Novosti zitieren. Mit
den Krankenschwestern könne man la-
chen. Die Apfelchips, die es zum Nach-
tisch gebe, seien besonders lecker. Eine
Fitnesstrainerin, die nach einer Schweiz-
Reise in Kommunarka unter Quarantäne
kam, lobte das schnelle WLAN.
AAAuf der anderen Seite häufen sich inuf der anderen Seite häufen sich in
den kremlkritischen Medien berichte
üüüber chaotische Zustände in der Klinik,ber chaotische Zustände in der Klinik,
vertauschte Testergebnisse und Personal-
mangel. Statt von Infektiologen und Lun-
genspezialisten würden die Patienten von
Chirurgen oder Gynäkologen betreut, an-

dere Ärzte gebe es nicht. Nachweislich
Kranke würden nicht von Verdachtsfällen
isoliert. Quarantäne werde nicht seu-
chenrechtlich begründet, was auf Frei-
heitsberaubung hinauslaufe. Die Klinik
wird von der Rosgwardija, einer Art Ar-
mee für das Inland, bewacht. Ein Patient
im Krankenhaus Kommunarka trat sogar
zeitweilig in den Hungerstreik, weil ihm
nach Tagen noch immer keine Diagnose
gestellt wurde. Andere flüchteten gar,
weil sie als Verdachtsfälle in einer Warte-
schlange mit Infizierten warten mussten.
Die Aussicht, mit dem gemeinen Volk
unter fragwürdigen Bedingungen einge-
schlossen zu werden, löst also nicht nur
bei Superreichen Unbehagen aus. In den
nächsten Wochen wird sich zeigen, ob
Krankenhäuser wie Kommunarka und das
russische Gesundheitssystem der Belas-
tung durch das Coronavirus standhalten.
Die Regierung will bald mit massenhaften
Tests beginnen, auch freiwillige Tests bei
privaten Kliniken sind angeblich im Ge-
spräch. Die Ergebnisse dürften die Zahl
der Infektionsfälle drastisch steigen las-
sen. Bis heute verzeichnet die russische
Statistik gerade Mal 495 Infizierte – und
keinen Todesfall.

RRRusslands Superreiche hamstern Beatmungsgeräteusslands Superreiche hamstern Beatmungsgeräte


Prominente und kremltreue Politiker fliegen sonst nach Deutschland oder Israel, wenn sie krank sind. Nun müssen wohl selbst privat Versicherte in staatliche Kliniken


Angst vor Corona: Passant in Moskau mit
Schutzkleidung und Gasmaske

AFP

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