Die Welt - 25.03.2020

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25.03.20 Mittwoch,25.März2020DWBE-HP



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DIE WELT MITTWOCH,25.MÄRZ2020 FEUILLETON 9


O


kay, ich bin also gerade
erst ungefähr fünfzehn,
Mehrfach-Möchtegern,
Schulversager und Opfer
meiner erwachenden
Hormone, und damit beginnt mein Lie-
besleben, man könnte auch vom Thea-
ter des Absurden sprechen. Testoster-
ontrunken suchte ich nach Sex oder,
besser gesagt, einer Mischung aus Rita
Hayworths Sinnlichkeit, June Allysons
hilfsbereiter Ergebenheit und Eve Ar-
dens geistreichem Sarkasmus.
So eine anspruchsvolle Kombination
gab es auf der Welt sicher nicht oft und
ganz bestimmt nicht unter den Fünf-
zehnjährigen meines Viertels, die man
erst ins Kino und danach vielleicht zu
einer Limo einlud, bevor man sie
schließlich nach Hause brachte, wobei
die Mädchen schon sechs Blocks vorher
nach dem Schlüssel kramten, damit sie
blitzschnell ins Haus schlüpfen konn-
ten, bevor man auch nur auf die Idee
kam, sie zu küssen. Bei ein paar von ih-
nen hatte ich aber das große Los gezo-
gen; diese Mädchen waren liebenswert,
unkompliziert, klug, belesen, kultiviert,
auf anziehende Weise neurotisch und
zu Tode gelangweilt von einem tumben
Wicht wie mir, der ins Stammeln geriet,
wenn es mal nicht um Filmkomödien
oder darum ging, wie man einen Slider
trifft.
Ein Mädchen bat mich, mit ihr in O.
Henrys Vier Perlenzu gehen. Ich kannte
nur einen O. Henry, und dem gehörte
der Süßwarenladen. Eine andere sprach
über ein Buch namens Unterwegs zu
Swann, aber ich wollte ihr lieber zeigen,

wie lustig es aussah, wenn Milton Berle
auf den Fußkanten balancierte. Diese
Mädchen beherrschten Französisch in
Wort und Schrift, eine war sogar in
Europa gewesen und hatte Michelange-
los David gesehen.
„Jaja, aber, wenn Jerry Lewis Dean
Martin ins Ohr beißt ...“, warf ich dann
beispielsweise ein, um ein Thema be-
müht, mit dem ich mich besser aus-
kannte. Diese jungen Frauen hatten
was, eine natürliche Schönheit, sie tru-
gen immer Schwarz und Silberohrringe,
das sah dramatisch aus und stand ihnen.
Sie waren nicht kommerziell. Und ihre
Klugheit war verführerisch. Sie waren
progressiv. Ich wusste, dass Lincoln die
Sklaven befreit hatte, ansonsten war
mein politischer Wissensschatz über-
schaubar. Sie konnten die Brandenbur-
gischen Konzerte summen, und man
munkelte, sie seien sexuell erfahren, ob-
wohl ich nie in die Verlegenheit kam,
das zu verifizieren, weil unsere Verabre-
dungen oft abrupt endeten, wenn ihnen
plötzlich ein fiel, dass sie einen wichti-
gen Termin in Niederländisch-Indien
hatten oder noch ihren Emu füttern
mussten.
Mit so einem kleinen Gaumen-
schmaus landete ich einmal in Green-
wich Village, wenn ich mich recht erin-
nere, schleppte sie mich in ein thailän-
disches Puppentheater, sie gaben Mac-
beth. Zum Glück wachte ich vor dem
letzten Vorhang wieder auf. Hinterher
schwärmte sie in einer gemütlichen Ka-
schemme bei Kerzenlicht von Czesław
Miłosz und redete irgendwas von Per-
version der Dialektik, während ich ihr

im Geiste die Kleider vom Leib riss. Da-
nach ging es weiter in einen Folkschup-
pen mit unverputzten Backsteinwän-
den, dann endlich näherten wir uns ih-
rem Haus, sie hechtete hinein, um mei-
nem Kuss auszuweichen, und erwischte
meine Nase in der Tür.
Ich gab mir wirklich Mühe mitzuhal-
ten, aber wer war dieser seltsame Step-
penwolfpenwolfpenwolf? War ich derselben Meinung wie? War ich derselben Meinung wie
jemand namens Sidney Hook? Zu wel-
chem Thema noch mal? Ich sah sie nie
wieder, doch weil ich mich gleich so in
sie verliebt hatte, dämmerte mir, dass es
noch eine Menge nachzuholen gab: Ab
jetzt hieß es Stendhal und Dostojewski
statt Felix the Cat und Little Lulu. Also
las ich. Manches gefiel mir, anderes we-
niger. Ich gehörte sicher nicht zu den
Bücherwürmern, die nicht genug be-
kommen konnten. Für mich bedeutete
Lesen weniger Zeit für Sport, Kino,
Jazz, Kartentricks und einfach nicht le-
sen, weil die Seiten zu eng bedruckt wa-
ren. Noch heute bin ich entsetzt über
die grausame Zeilendichte im Zauber-
berg.
Doch mir schwante, dass es eben ein-
fach nicht reichte, den Text zu irgend-
welchen Countrysongs zu kennen oder
zu wissen, wer in Die Wendeltreppealle
Leute erdrosselt, um die gesellschaftli-
che Schmalspur zu verlassen. Also las
ich die Schriftsteller, die Dichter, die
Philosophen, ich quälte mich durch
Faulkner und Kafka, litt Höllenqualen
bei Eliot und natürlich auch bei Joyce,
fand aber tatsächlich Freude an He-
mingway und Camus, weil sie nicht zu
komplex waren und mich anrührten,

aber Henry James bekam ich einfach
nicht durch, beim besten Willen nicht.
Von Melville war ich begeistert, ge-
nau wie von Emily Dickinson, und ich
beschäftigte mich eingehend mit Yeats’
Biographie, um seine Lyrik besser zu
verstehen. Fitzgerald überzeugte mich
nicht richtig, Thomas Mann und Tur-
genjew hingegen schon. Rot und Schwarz
fand ich klasse, besonders den Moment,
als der junge Held die verheiratete Frau
anbaggert. Diese Szene habe ich zu
einer komischen Broadway-Version um-
geschrieben und sie mit Diane Keaton
in Mach’s noch einmal, Sam! nachge-
spielt. Ich las C. Wright Mills und Gin-
ger Man und erfuhr einiges über poly-
morph-perverse Sexualität von Norman
O. Brown.
Ich las querbeet, daher gibt es in mei-
nem Wissen große Lücken, aber neben
Jazz hörte ich nun auch klassische Mu-
sik und besuchte immer öfter Museen,
erweiterte meine kulturelle Bildung, so
gut ich konnte, aber nicht, um akademi-
sche Weihen zu erlangen oder aus no-
blen Beweggründen, sondern einfach,
weil ich bei den Frauen, die mir gefielen,
nicht mehr der Tölpel sein wollte – ob-
wohl ich in vielerlei Hinsicht ein Tölpel
geblieben bin. Bis heute sind Cole Por-
ter, Irving Berlin und Konsorten meine
Dichter und keine Zeile aus Das wüste
Landoder Pound oder Auden rührt
mich so an wie Cole Porter, wenn er
singt: „You’re not worth a ransom. Like
asparagus out of season“.
Ich weiß, dass Edith Wharton und
Henry James und Fitzgerald über New
York geschrieben haben, aber ich erken-

ne diese Stadt am deutlichsten, wie sie
der sentimentale irische Librettist und
Sportreporter Jimmy Cannon schildert.
Es ist schockierend, wie viel ich nicht
gelesen oder gesehen habe, dabei bin
ich Spielfilmregisseur und Autor. Ham-
lethabe ich noch nie live auf der Bühne
gesehen und Unsere kleine Stadt über-
haupt noch nicht, weder im Theater
noch sonst wo. Ich habe wederUlysses
gelesen noch Don Quijote, nicht Lolita,
nicht Catch-22, nicht 1984 , keinen Ro-
man von Virginia Woolf, E. M. Forster,
D. H. Lawrence. Nichts von Dickens
oder den Brontes. Andererseits bin ich
einer der wenigen aus meinen Kreisen,
der Joseph Goebbels’ Roman gelesen
hat. Ja, Goebbels, Hitlers lauwarmes
Analzäpfchen, hat sich tatsächlich an
der Schriftstellerei versucht, einen Ro-
man namens Michaelfabriziert, und,
man glaubt es kaum, der Held ist auch
bei ihm ein übererregter Liebender,
krampfhaft bemüht, seiner Liebsten zu
gefallen.
Bei den Filmen fehlen mir Chaplins
Gewehr überund Der Zirkus, ebenso Bu-
ster Keatons Der Navigator. Ich habe
weder die alten Verfilmungen von Ein
Stern geht aufgesehen noch die neueste,
A Star is Born. Trotz der vielen Samsta-
ge im Midwood Theater kenne ich viele
Filme nur dem Titel nach, wie zum Bei-
spiel Schlagende Wetter, Sturmhöhe, Ca-
mille, Reise aus der Vergangenheit oder
Ben Hur. Ich haben weder Nachts unter-
wegs gesehen noch Der Fluch der 2
Schwesternoder Frankensteins Braut. Ich
will diese Filme nicht abwerten, es geht
allein um meinen Kenntnismangel und

darum, dass eine Hornbrille jemanden
nicht automatisch zum Literaturkenner
macht und schon gar nicht zum Intel-
lektuellen. Und das waren längst nicht
alle Bildungslücken. Bis zum heutigen
Tag habe ich weder Mr. Deeds geht in die
Stadtgesehen noch Mr. Smith geht nach
Washington.
Genau wie mit den Büchern ist es
auch mit den Filmen, ich kenne eine
Menge und habe später, als ich älter war,
auch immer mehr aus dem Ausland ge-
sehen. Trotzdem findet mancher mei-
nen Geschmack sicher überraschend.
Ein Beispiel: Ich mag Chaplin lieber als
Keaton. Den meisten Kritikern und
Filmstudenten stößt das sauer auf, aber
ich finde ihn witziger, auch wenn Kea-
ton der bessere Regisseur war. Chaplin
ist auch witziger als Harold Lloyd, der
visuelle Slapstickgags großartig rüber-
bringen konnte, mich damit aber nie
vom Hocker gerissen hat. Ich war nie
ein Fan von Katherine Hepburn; obwohl
sie inLong Day’s Journey into Nightund
in ihrem besten Film, Plötzlich im letzten
Sommer, großartig war, empfand ich ih-
re Darstellung oft als unnatürlich. Ihre
emotionale Bandbreite erschöpfte sich
im Weinen, dagegen Irene Dunne: gött-
lich! Und Jean Arthur. Spencer Tracy
kam immer so echt rüber, außer in Pat
und Mike.
Für Lenny Bruce hatte ich nie viel
übrig, obwohl meine Generation ihn
kultisch verehrte. Nie im Leben würde
ich mich als den besseren Komiker be-
zeichnen. Ich habe eine sehr kritische
Meinung über meine eigenen Leistun-
gen auf der Comedybühne, aber zu die-
ser Phase meines Lebens werde ich
noch kommen. Momentan möchte ich
nur einige Klassiker auflisten, die mir
erstaunlicherweise nicht so viel bedeu-
ten wie den meisten Menschen. Manche
mögen’s heißoder Leoparden küsst man
nichtfand ich überhaupt nicht witzig. Ist
das Leben nicht schöngeht mir sonst wo
vorbei. Den süßen Schutzengelwürde ich
glatt erwürgen, ehrlich. Die große Liebe
meines Lebens hat mich kaltgelassen.
Hitchcock ist großartig, aber Vertigo?
Lubitsch ist genial, aber Sein oder Nicht-
seinüberhaupt nicht lustig. Ärger im Pa-
radieshingegen ist ein Knaller, ein ech-
tes Faberge-Ei.
Musicals liebe ich: Singing in the Rain,
Gigi, Heimweh nach St. Louis, Vorhang
auf!, My Fair Lady. Ein Amerikaner in Pa-
rishat mir aber nicht gefallen. Über Ed-
die Bracken oder Laurel und Hardy
kann ich nicht lachen, noch weniger
witzig finde ich Red Skelton. Die Marx
Brothers und W. C. Fields sind natürlich
die absolut Größten. Gefallen haben
mir auch Rex Harrison inDie Ungetreue
und Leslie Howards Verfilmung von
Pygmalionmit Wendy Hiller. Ich halte
Pygmalionfür die beste Komödie aller
Zeiten und mag sie viel lieber als die Ko-
mödien von Shakespeare, Wilde oder
Aristophanes, obwohl ich bei dessen
Stücken oft an Kaufman und Hart den-
ken muss, die ich wiederum schätze.
AufReporter für intime Stundenfahre ich
total ab, besonders mit Judy Holliday
und Broderick Crawford in den Haupt-
rollen, aberDer Große Diktator oder
Monsieur Verdouxfand ich nicht mal an-
nähernd komisch.
Die Szene, in der Chaplin den Ballon-
globus auf seinem Hintern hüpfen lässt,
ist in meinen Augen nicht gerade das
beste Beispiel für sein komisches Ta-
lent. Aber wen interessiert’s, was ich
finde – Geschmäcker sind verschieden.
Mancher erlebt diese dürren Lingerie-
Models als schön und sexy, ich vielleicht
nicht. Oder eben doch, und ich kann
nichts dagegen tun. So viel zum Thema
Geschmack.

TWoody Allens Autobiographie „Ganz
nebenbei“erscheint am 25. März bei
Rowohlt als eBook. Die gedruckte Aus-
gabe ist ebenfalls bei Rowohlt ab dem
2 8. März im Buchhandel erhältlich.

„Ich kann nichts dagegen tun.“ Woody Allen, 1971


PICTURE ALLIANCE / UNITED ARCHIV

/KPA

BEICHTE


eines Intellektuellen


Kriegt man Frauen mit Kafka ins Bett?


Macht eine Hornbrille schlau?


Muss man „Ben Hur“ wirklich gesehen haben?


Und wie wird man eigentlich Woody Allen?


Ein exklusiver Vorabdruck


der Autobiografie einer Kinolegende


W


enn man von so grob-
schlächtigem Äußeren ist
wie ich, aber das feinsinnige
WWWesen und das leise Auftreten einesesen und das leise Auftreten eines
Schalmeiorchesterdirigenten hat, steht
man Vorurteilen von Natur aus mit
Argwohn gegenüber. Ich bin allerdings
dafür, die Begriffe Vorverurteilung und
VVVorurteil einer Analyse zu unterzie-orurteil einer Analyse zu unterzie-
hen, und zwar unter der Hypothese,
dass wir sie falsch verwenden bzw. dass
es für das, was wir ausdrücken wollen,
wenn wir etwas ein Vorurteil nennen,
womöglich das richtige Wort noch gar
nicht gibt. Denn manche Vorurteile
existieren aus einem guten Grund, z.B.
dem, dass sie durch Tatsachen auf das
Belastbarste in der Wirklichkeit veran-
kert sind.

VVVorverurteilung ist ein kräftiges, un-orverurteilung ist ein kräftiges, un-
missverständliches Wort. Wer es hört
oder liest, fühlt in derselben Sekunde
Groll gegen jemanden, den er nicht
kennt, der aber etwas Unredliches tut,
nämlich einer anderen Person Unrecht
angedeihen lässt, und zugleich fühlen wir
Sympathie und Solidarität mit der vor-
verurteilten Person. Das verdeutlicht,
was für ein mächtiges Wort Vorverurtei-
lung ist. Es ist imstande, in uns Groll ge-
gen eine uns unbekannte Person und
Sympathie für eine zweite uns unbekann-
te Person zu wecken.
WWWer an all die Menschen denkt, die unser an all die Menschen denkt, die uns
vom Schicksal oder seinem degenerierten
kleiner Bruder, dem Zufall, Tag für Tag in
den Weg gespült werden und die nicht
imstande sind, uns für sich einzunehmen,

selbst wenn sie uns gegenübersitzen und
mehrere Tausend Wörter in die Schlacht
um unser Wohlwollen werfen können,
der wird vielleicht meine Hochachtung
vor Wörtern verstehen, die nur in eine
Unterhaltung eingestreut werden müs-
sen, um in uns einen Mechanismus in
Gang setzen, der mitsamt allen aus ihm
erwachsenden Konsequenzen unter dem
Radar unseres Bewusstseins bleibt. Vor-
urteil und Vorverurteilung sind gemessen
an dem, was wir damit ausdrücken wol-
len, in vielen Fällen die Tatwaffen verba-
ler Notwehrüberschreitung.
Gestern sagten sie in den Nachrichten,
dass sich nun auch Angela Merkel in Qua-
rantäne begeben müsse, nachdem ein
Arzt, der sie vergangenen Freitag gegen
Pneumokokken geimpft habe, positiv auf

Corona getestet worden war. Unterlegt
wwwurde der Bericht mit Aufnahmen vonurde der Bericht mit Aufnahmen von
einer schon Tage zurückliegenden Pres-
sekonferenz, bei der zwischen dem Steh-
pult der noch nicht zum Verdachtsfall ge-
wordenen Kanzlerin und ihrer Zuhörer-
schaft einige Meter Abstand lagen.
WWWenig später kam ein Bericht über eineenig später kam ein Bericht über eine
Corona-Pressekonferenz von Donald
Trump, bei der ihm nicht nur seine eng-
sten Mitarbeiter zur Seite standen und
den Rücken stärkten. Ich war bestimmt
nicht der einzige Zuschauer, der sich da-
bei Tränen der Nostalgie aus den Augen
wischte, selig der Zeiten gedenkend, in
denen Fernsehunterhaltung noch so un-
schuldige Spektakel bot wie den Wettbe-
werb, möglichst viele Menschen in einem
VVVW Käfer unterzubringen.W Käfer unterzubringen.

Teilen der deutschsprachigen Publizi-
stik wird zuweilen eine Tendenz zu Vor-
eingenommenheit, Harschheit und Bra-
chialrhetorik unterstellt. Indem ich für
die geneigte Leserschaft Persönlichkeiten
wie Ronald Reagan und George W. Bush
der Vergessenheit entreiße, hoffe ich,
nicht ebenfalls zum Ziel solcher Vorwürfe
zu werden, wenn ich sachgemäß festhal-
te, dass die Behauptung, die Amerikaner
hätten eine seltsame Vorliebe dafür, abso-
lute Volltrottel zum Präsidenten zu wäh-
len, kein reines Vorurteil ist.

TThomas Glavinic ist Schriftsteller
und Hypochonder. Er lebt in Wien.
Zuletzt erschien von ihm bei Piper die
„Gebrauchsanweisung zur Selbst-
verteidigung“.

Der Volltrottel hält keinen Abstand


Die Welt steht still, wir sitzen verängstigt in unseren Wohnungen. Thomas Glavinic verarbeitet die Corona-Krise in einem Fortsetzungsroman. Exklusiv in der WELT


DER CORONA-ROMAN,


TEIL 6


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