von katja auer, michael
bauchmüller, joachim käppner
und stefan mayr
München/Berlin– Aus Sorge vor einem
ökonomischen Absturz wollen viele deut-
sche Bundesländer die Wirtschaft noch
stärker unterstützen. Der Freistaat Bayern
verdoppelt sein Hilfspaket von zehn auf
20 Milliarden Euro. Das gab Ministerpräsi-
dent Markus Söder (CSU) am Dienstag
bekannt. Zudem soll ein Bayernfonds in
Höhe von mehr als 20 Milliarden Euro Fir-
men vor der Übernahme aus dem Ausland
schützen. Die LfA-Förderbank erhöht die
Bürgschaftsrahmen und wird besonders
günstige Sonderkredite anbieten. All diese
Maßnahmen bildeten zusammen das „um-
fassendste Wirtschaftsprogramm, das in
Bayern je beschlossen wurde“, sagte Söder.
In Baden-Württemberg startet diesen
Mittwoch ein Soforthilfeprogramm des
Landes. Die Einmalzahlung für Firmen mit
bis zu zehn Mitarbeitern ist identisch mit
der des Bundesprogramms. Zusätzlich bie-
tet Baden-Württemberg für Unternehmen
mit zehn bis 50 Beschäftigten einen Zu-
schuss von maximal 30 000 Euro an. Auch
die Landesregierung in Stuttgart bastelt zu-
dem an einem Beteiligungsfonds zur Ab-
wehr gegen Übernahmen. Hessen hat eben-
falls einen „Schutzschirm“ aufgespannt.
„Er enthält Hilfen von mindestens 8,5 Mil-
liarden Euro“, sagte Finanzminister Tho-
mas Schäfer am Dienstag. Man werde aber
übers Jahr „voraussichtlich noch mehr
Geld benötigen“. Nordrhein-Westfalen
wird mit einem ähnlichen Gesetz bis zu
25 Milliarden Euro zur Verfügung stellen.
Wie naheliegend die Sorge vor schwe-
ren volkswirtschaftlichen Schäden ist, be-
stätigen Beispiele wie Norwegen: Das ölrei-
che Land, in dem die Wirtschaft bis vor Kur-
zem boomte, meldete am Dienstag, die Ar-
beitslosigkeit habe sich wegen der Corona-
Krise binnen kurzer Zeit fast verfünffacht,
von 2,3 auf 10,9 Prozent. In Bayern befürch-
tet Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger
von den Freien Wählern „einen Wirt-
schaftseinbruch im zweistelligen Prozent-
bereich“. Er erwartet schon in nächster Zeit
eine Zunahme der von Kurzarbeit betroffe-
nen Arbeitnehmer im Freistaat auf 1,8 Mil-
lionen. Dies würde bedeuten, dass grob ein
Viertel der Beschäftigten nicht mehr regu-
lär arbeiten kann – und das im bislang wirt-
schaftlich starken Bayern.
Und die Zeit drängt, denn das Virus ver-
breitet sich weiterhin schnell. Das Robert-
Koch-Institut verzeichnete Dienstagnach-
mittag insgesamt 27 436 Infizierte und
114 Todesfälle. Es sind die Länder, die letzt-
lich die Hilfen für Unternehmen auszahlen
müssen, dem Bund fehlen dafür die pas-
senden Kanäle. „Wir wissen, dass die zeitli-
che Umsetzung kritisch ist“, sagte Bundes-
wirtschaftsminister Peter Altmaier am
Dienstag nach einer Schaltkonferenz mit
den Mitgliedern des Sachverständigen-
rats. Die Hilfen sollten möglichst schnell
zur Verfügung stehen, „um das Wegbre-
chen von Strukturen und Arbeitsplätzen
zu verhindern“, sagte der CDU-Politiker.
Erst am Montag hatte sich das Kabinett
auf umfangreiche Finanzhilfen verstän-
digt. Allein für kleine Unternehmen und
Selbständige sollen bis zu 50 Milliarden Eu-
ro zur Verfügung stehen. Der Sachverstän-
digenrat begrüßte das Paket. „Es ist das
Instrumentarium, das jetzt auch hilft“, sag-
te der Vorsitzende, Lars Feld. Wie stark die
Corona-Krise die deutsche Wirtschaft tref-
fe, lasse sich kaum kalkulieren. Vieles spre-
che derzeit für einen V-förmigen Verlauf:
ein starker Einbruch – und anschließend
eine starke Erholung: „Viel hängt davon
ab, dass wir schnell aus der Krise heraus-
kommen.“
Währenddessen meldete die Polizei aus
dem ganzen Bundesgebiet nur wenige Ver-
stöße gegen die Ausgangsbeschränkun-
gen. In Bayern zeigte sich Söder zufrieden:
Der „überragende Teil der Bevölkerung“
mache engagiert mit. Die Maßnahmen blie-
ben zunächst 14 Tage in Kraft, eine weitere
Verschärfung sei derzeit nicht geplant. Sö-
der lehnte damit einen Vorstoß von Bürger-
meistern im Tegernseer Tal ab, Ausflüge in
ihre Region zu untersagen: „Das wäre jetzt
das falsche Signal“, betonte er. Aufenthalte
an der frischen Luft seien erlaubt, und das
gelte „natürlich auch für einen Ausflug“.
Mehrere Bundesländer haben inzwi-
schen an Covid-19 erkrankte Patienten aus
Nachbarstaaten aufgenommen, in denen
die Lage noch dramatischer ist. Söder kün-
digte an, dass Schwerkranke aus Italien in
einer bayerischen Uniklinik behandelt wer-
den. Wegen der Corona-Krise will der Bun-
desrat an diesem Mittwoch und am Freitag
zu Sondersitzungen zusammentreten. Am
Mittwoch geht es um den geplanten Nach-
tragshaushalt des Bundes, zwei Tage spä-
ter beraten die Länder dann die Gesetzes-
pakete der Bundesregierung, mit denen
die Folgen der Pandemie abgefedert wer-
den sollen.
Länder verstärken Kampf gegen Krise
Während sich das Coronavirus weiter ausbreitet, legen nach der Bundesregierung nun auch die
Bundesländer Hilfsprogramme auf. Bayern erwartet Kurzarbeit für ein Viertel der Arbeitnehmer
Ruf doch mal an:Die Corona-Hotline in
Berlin und die Frage, was die Menschen
gerade beschäftigt Die Seite Drei
Hilfe auf Zeit:Der Zusammenbruch der
Wirtschaft muss verhindert werden, auch
wenn es teuer wird Meinung
Die Macht des Ministers:Das Infektions-
schutzgesetz soll verschärft werden. Doch
ist das verfassungsgemäß? Politik
Das Rennen beginnt:Die WHO testet
sechs Wirkstoffe gegen Covid-19 Wissen
Virenschutz-Programm: Kann Handy-
Ortung dabei helfen, die Epidemie einzu-
dämmen? Wirtschaft
Wäre nicht dieses glänzende Metall gewe-
sen, dann wäre Ewald Nowotny in den spä-
ten Kriegswirren 1945 wahrscheinlich ver-
hungert. Es waren ein paar Goldmünzen,
die seine Mutter in der Stadt gegen Essen
tauschen konnte, das Silberbesteck hatte
sie längst an Bauern eingehandelt. Ausge-
rechnet der einstige oberste Notenbanker
Österreichs offenbarte damit, wie schwer
Gold für ihn aufzuwiegen ist.
Es sind Geschichten wie die von Nowot-
ny, die das kalte Metall in den Augen vie-
ler Deutscher zu einem mythischen Stoff
machen, zu einem Anlagerefugium – ei-
nem Krisenmetall. Zu Tausenden wollen
viele Privatleute auch dieser Tage ihr
Geld in Gold wandeln. Allein: Das geht
nicht mehr, die schweren Barren und glän-
zenden Münzen sind bei den Händlern
kaum noch zu bekommen. Das Krisen-
metall selbst ist in der Krise.
Robert Hartmann, der Gründer des
Handelshauses Pro Aurum, steckt mitten-
drin: Der Mann mit der weichen Stimme
hat seinen Onlineshop kurzerhand dicht-
gemacht, er konnte sich vor Orders nicht
mehr retten – bis Mittwoch geht dort gar
nichts mehr. „So etwas habe ich noch
nicht erlebt“, sagt Hartmann. Bei der Kon-
kurrenz von Degussa Goldhandel heißt es
im Internetshop bei vielen Produkten „in
Kürze verfügbar“. Wohl eine klingende
Umschreibung für: ausverkauft.
Händler Hartmann konnte beobach-
ten, wie der europäische Goldmarkt an
nur einem Wochenende in sich zusam-
menfiel: Drei Raffinerien im Schweizer
Tessin mussten wegen des Coronavirus ih-
re Tore schließen. Die Nachricht verbreite-
te sich wie ein Lauffeuer, denn ausgerech-
net die Tessiner Raffinerien beherrschen
fast die Hälfte des Goldmarktes. Und
schon zuvor stockten die Lieferungen der
hoch gesicherten Werttransporter. „Da
laufen die Telefone heiß“, sagt Carsten
Menke von der Privatbank Julius Bär.
Auch Goldhändler Hartmann telefo-
niert an diesem Tag laufend mit den gro-
ßen Lieferanten. Doch Münzen aus Kana-
da? Transportiert kein Flugzeug mehr
nach Europa. Goldminen in Südafrika?
Fahren herunter. Die großen Barren-An-
bieter? Haben nichts mehr.
Für Kunden bedeutet das: Wer bei ei-
nem Onlineshop überhaupt noch Barren
oder Münzen findet, muss große Aufgel-
der zahlen – mehr also als den Weltmarkt-
preis für Gold. Vier Prozent Aufschlag
sind normal, doch aktuell werden 13 Pro-
zent fällig. „Apothekerpreise“, sagen sie
dazu am Goldmarkt. „Wer jetzt kaufen
will, sollte also sehr gut vergleichen“, sagt
Goldkenner Ronald Peter Stöferle vom
Vermögensverwalter Incrementum.
In der Zwischenzeit ist klar: Das Telefo-
nieren hat sich für Goldhändler Hart-
mann gelohnt. Aus Südafrika geht noch
ein Flieger mit Münzen raus. „Ich habe so-
gar schon die Transportnummer.“ Auch
aus Österreich kommt noch Ware. Doch
in zehn Tagen, fürchten manche Händler,
könnte frisches Gold hierzulande ad hoc
nicht mehr zu bekommen sein. Nicht für
alles Geld der Welt. victor gojdka
Meinung
Europa darf bei Hilfen aus
China nicht vergessen, wer
der Absender ist 4
Panorama
Wenn Diebe zu Hause bleiben
müssen. Wie verändert die
Pandemie die Kriminalität? 8
Feuilleton
Papa Asterix: Ein Nachruf auf
den großen Comic-Zeichner
Albert Uderzo 9
Wirtschaft
Im Geisterhaus: Wie Adidas-Chef
Kasper Rorsted mit dem
Stillstand umgeht 16
Medien
Lange war es juristisch heikel, live aus
dem Wohnzimmer zu senden.
Dann kam Corona 27
TV-/Radioprogramm 28
Forum & Leserbriefe 13
München · Bayern 26
Rätsel & Schach 12
Traueranzeigen 24
Dresden– Im Prozess um die rechtsextre-
me Terror-Gruppe „Revolution Chemnitz“
hat das Oberlandesgericht Dresden Haft-
strafen zwischen zwei Jahren und drei Mo-
naten sowie fünfeinhalb Jahren verhängt.
Alle Angeklagten wurden wegen Mitglied-
schaft in einer terroristischen Vereinigung
verurteilt, der Rädelsführer zudem wegen
deren Gründung. dpa Seiten 4 und 6
Kiel– Schleswig-Holsteins Bildungsminis-
terin Karin Prien (CDU) plant wegen der Co-
rona-Pandemie eine Absage aller Schulab-
schluss-Prüfungen einschließlich jener
für das Abitur. „In der derzeitigen Situati-
on und der besonderen Herausforderung
nicht nur für unser Schulsystem, sondern
auch jeden Einzelnen von uns halte ich die-
se Entscheidung für geboten“, sagte Prien
am Dienstag.dpa Seiten 4 und 5
Außerdem in
dieser Ausgabe
Essen auf Distanz: Die Mitarbeiter eines Honda-Werks im chinesischen Wuhan versuchen, den nötigen Sicherheitsabstand einzuhal-
ten. Die Provinz Hubei, in der die Stadt liegt und die als Ausgangspunkt der aktuellen Covid-19-Pandemie gilt, war zwei Monate lang
von der Außenwelt abgeschottet. Nun wird die Abriegelung gelockert. Gesunde Menschen sollen die Provinz wieder verlassen dürfen
- ausgenommen ist die Metropole Wuhan, dort soll das Verbot erst im April aufgehoben werden.FOTO: AFP Seiten 4 und 6
HEUTE
Die SZ gibt es als App
für Tablet und Smart-
phone: sz.de/zeitungsapp
Schleswig-Holstein sagt
Abschlussprüfungen ab
Tokio– Die Olympischen Spiele in Tokio
werden wegen der Corona-Pandemie ins
Jahr 2021 verschoben. Darauf einigten sich
das Internationale Olympische Komitee
(IOC) und die japanischen Gastgeber am
Dienstag. Japans Ministerpräsident Shin-
zo Abe sei mit dem Vorschlag des IOC „hun-
dertprozentig“ einverstanden gewesen,
sagte IOC-Präsident Thomas Bach nach ei-
ner Telefonkonferenz mit Abe und ande-
ren Verantwortlichen. Die Sommerspiele
sollten auf „ein Datum nach 2020 verlegt
werden“, aber nicht später als im Sommer
2021 stattfinden, hieß es. Abe hatte noch
am Montag betont, dass eine Absage der
Spiele nicht zur Debatte stehe. Er hatte
aber bereits eingeräumt, dass die Sportver-
anstaltung unter den aktuellen Gegeben-
heiten nicht stattfinden könne. Der Druck
auf das IOC war in den vergangenen Tagen
gewachsen. Kanada, Norwegen und Austra-
lien hatten angekündigt, wegen der unkal-
kulierbaren gesundheitlichen Risiken
nicht teilnehmen zu wollen. Für viele Athle-
ten geht nun eine Zeit der Ungewissheit zu
Ende.dpa Sport
Über den äußersten Süden ziehen gebiets-
weise Wolken hinweg. Vereinzelt kann es
an den Alpen schneien. Sonst scheint die
Sonne und es bleibt trocken. Temperatu-
ren: sechs bis zwölf Grad, in Südbayern
bleibt es kühler. Seite 13
NEUESTE NACHRICHTEN AUS POLITIK, KULTUR, WIRTSCHAFT UND SPORT
WWW.SÜDDEUTSCHE.DE HF2 MÜNCHEN, MITTWOCH, 25. MÄRZ 2020 76. JAHRGANG / 13. WOCHE / NR. 71 / 3,20 EURO
FOTO: AFP
Gemeinsam allein
Kein Gold der Welt
Warum Barren und Münzen kaum noch zu bekommen sind
Haftstrafen für Gruppe
„Revolution Chemnitz“
Xetra Schluss
9506 Punkte
N.Y. 18.30 h
20322 Punkte
18.30 h
1,0792 US-$
Bin ich krank? Wer in Deutschland getestet wird Thema des Tages
Olympia
wird verschoben
Die Spiele sollen spätestens
im Sommer 2021 stattfinden
12 °/-7°
44 SeitenWohlfühlen
KlarheitYoga-Tipps von Kopf bis Fuß
LiebeErkundung eines großen Gefühls
LässigkeitDie entspannteste Metropole
der Welt
Die aktuelle Corona-Situation in Deutschland
Nordrhein-Westfalen
Bayern
Baden-Württemberg
Niedersachsen
Hessen
Rheinland-Pfalz
Hamburg
Berlin
Sachsen
Schleswig-Holstein
Brandenburg
Saarland
Thüringen
Sachsen-Anhalt
Mecklenburg-Vorpom.
Bremen
Infizierte Tote
8745
6362
5887
2071
1620
1480
1237
1220
1018
544
429
383
349
201
186
333
45
31
36
7 5 5 1 2 5 2 1 1 1 1 0 0
5,
2,
3,
3,
3,
4,
3,
4,
3,
3,
4,
4,
3,
4,
5,
4,
Verdoppelung(Tage)
SZ-Grafik;
Quellen:RKI/Landesbehörden/SZ;
Stand: 24.März, 17.00 Uhr
Süddeutsche ZeitungGmbH,
Hultschiner Straße 8, 81677 München; Telefon 089/2183-0,
Telefax -9777; [email protected]
Anzeigen:Telefon 089/2183-1010 (Immobilien- und
Mietmarkt), 089/2183-1020 (Motormarkt),
089/2183-1030 (Stellenmarkt, weitere Märkte).
Abo-Service:Telefon 089/21 83-80 80, http://www.sz.de/abo
A, B, F, GR, I, L, NL, SLO: € 3,70;
ES (Kanaren): € 3,80; dkr. 29; £ 3,50; kn 30; SFr. 4,
Dax▲
+ 8,75%
Dow▲
+ 9,24%
Euro▲
+ 0,
(SZ) Es mag sein, dass man sich damals ein
Privatleben wünschte, ein schönes, kleines
Leben mit acht Stunden Schlaf und viel
Zeit für sich. Doch damals fasste man sich
auch ins Gesicht oder ging zur Arbeit, ver-
rückt. Nun aber, da jeder versucht, sich
dezidiert unverrückt zu verhalten, ist man
schockartig mit 24 Stunden Privatleben
am Tag konfrontiert. Vielleicht sind es
aber 27 oder 47, denn was ist das schon: ein
Tag? Er beginnt damit, so viel ist klar, dass
die Sonne aufgeht. Den Wecker stellt man
nicht mehr, um sechs Uhr ist man wach wie
ein Erdmännchen, schießt aus dem Bett
und bewegt den Kopf hektisch hin und her.
Zur Wäscheleine, auf der Socke wie Hose
so mathematisch angeordnet sind, als sei
John Nash zu Besuch gewesen. Ach, rich-
tig, geht ja gar nicht. Das Erdmännchen
reißt den Kopf herum. Die 2300 Euro ans
Finanzamt: überwiesen. Netflix: leer-
gestreamt. Die Facetime-Freundeskreis-
Konferenz: wegen abweichender Krisen-
interpretation tragisches Ende. Fertig!
Bleibt nur der Kühlschrank. Jener silber-
farbene Klotz, nur zwanzig Gehsekunden
vom Bett entfernt, selig brummend, in sich
ruhend, ein gottähnliches Neutrum, das ei-
nem immer neuen Input gibt. Wohin man
auch läuft auf seinen 70 Quarantäne-Qua-
dratmetern, alle Wege führen am Ende zu
ihm; vom Bett über die Toilette zum
Schreibtisch – Endstation Kühlschrank.
Anfangs ist das Verhältnis von Skepsis ge-
prägt, beiderseitig. Darf ein Schrank sich
nicht auch mal wundern, wenn die Inhabe-
rin ihn plötzlich anstarrt und alle halbe
Stunde ihm sein Innerstes, seine Schubla-
den, entreißt, um sie zu desinfizieren? Die
Inhaberin aber fragt sich, was Christian
Drosten und Alexander Kekulé wohl über
das Gemüsefach zu sagen hätten, und
putzt und putzt, als könne man das Jahr
2020 so überspringen. An Tag fünf des
neuen Dauerprivatlebens ist jegliche Dis-
tanz verloren gegangen. Gegessen geglaub-
te Oliven, historische Marmeladen, un-
glückliche Möhren: Alles wird herausge-
holt und gegessen, um dann wieder neue
Dinge in den Kühlschrank hineinzustellen.
Als die Inhaberin merkt, dass jener
Schrank, den sie immer für selbstverständ-
lich gehalten hat, nicht nur Bezugspunkt
ihres ganzen Seins geworden ist, sondern
auch gibt und gibt, ohne Fragen zu stellen,
verbringt sie so viel Zeit wie möglich mit
ihm, neben ihm, in ihm. Wenn sie ihren
Dienstrechner anschreit, ist ihm das egal.
Wenn sie zu laut Musik hört, ist ihm das
egal. Wenn sie ihm Zutaten für Tiramisu
und Lauchpuffer und Ricotta-Gnocchi und
Wohlstands-Omelette entreißt, um dann
von ihrer Kindheit, ihren Neurosen, den
Neurosen ihrer Freunde und der großen
Weltneurose zu sprechen, ist ihm das egal.
Sie ist nun immer da. Und eines Abends, er
ist gerade einiger Alkoholika entledigt wor-
den, da brummt der Schrank etwas lauter
als sonst. Was das zu bedeuten hat? Be-
stimmt: Ich liebe dich auch.
DAS WETTER
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