Süddeutsche Zeitung - 25.03.2020

(Wang) #1
Als die für öffentliche Gesundheit und Seu-
chenbekämpfung zuständige Bundesbehör-
de ist das Robert-Koch-Institut (RKI) die offi-
zielle Instanz, wenn es um die Ausbreitung
des Coronavirus in Deutschland geht. Doch
die erste Anlaufstelle für Daten ist das Insti-
tut immer seltener. Je weiter die Epidemie
voranschreitet, desto mehr hinken die vom
RKI publizierten Zahlen der Realität hinter-
her. Bürger und Medien ziehen daher ande-
re Quellen zu Rate, um sich über den Stand
der Dinge zu informieren. Zu den besten An-
bietern zählt das Center for Systems Sci-
ence and Engineering an der Johns-Hopkins-
Universität (JHU), eine der renommiertes-
ten Hochschulen der Welt mit Sitz im ameri-
kanischen Baltimore. Zuletzt lag die von der
JHU für Deutschland angegebene Zahl an
Corona-Infektionen zeitweise um mehr als
6000 über der offiziellen Angabe des RKI.

Wie schafft es eine Uni, aus Tausenden Ki-
lometern Entfernung das eigentlich zustän-
dige Institut derart zu überholen? Die Erklä-
rung liegt im deutschen Föderalismus.
Wenn Ärzte und Kliniken einen positiven Co-
rona-Test aus dem Labor bekommen, müs-
sen sie diesen laut Infektionsschutzgesetz
an das örtliche Gesundheitsamt melden.
Die Gesundheitsämter melden ihre Fälle an
die zuständigen Behörden der Bundeslän-
der. Von dort gehen die Daten ans RKI nach
Berlin, welches die Fallzahlen einmal täglich
zusammenträgt und jeweils um Mitter-
nacht ins Internet stellt. Bei den Internetauf-
tritten der Landesbehörden sind die aktuel-
len Fallzahlen in der Regel schneller zu fin-
den. Wer sich also die Mühe macht, alle sech-
zehn Bundesländer durchzugehen, kann
leicht eine Gesamtzahl berechnen, die aktu-
eller ist als die des RKI – und dennoch aus

amtlichen Quellen stammt. Auch dieSüd-
deutsche Zeitunggreift für ihre Berichter-
stattung auf die Zahlen der Landesbehör-
den zurück, wie auch andere Medien.
Die JHU gibt an, ihre Daten von Bundes-
und Landesbehörden, aber auch aus Medi-
enberichten zu nehmen. Inzwischen sind
die Hopkins-Uni und andere dem RKI häufig
um etwa zwei Tage voraus. Besonders groß
ist die Diskrepanz an den Wochenenden,
wenn einige Gesundheitsämter und Landes-
behörden ihre Daten nicht ans RKI melden –
sie mitunter aber trotzdem selbst veröffent-
lichen.
Diejenigen Infizierten, die nie getestet
und daher auch nie erkannt werden, fehlen
allerdings in allen Datenbanken. Daher emp-
fiehlt es sich, auch andere Werte wie die
Zahl der Verstorbenen und die Verdopp-
lungszeit im Blick zu behalten. CHEN

Ist das Kratzen im Hals schon Corona? War
der Kontakt mit dem Kollegen, der jetzt
offiziell als infiziert gilt, ansteckend? Um
begründete Verdachtsfälle aufzuklären,
hilft nur ein Test, und davon gibt es inzwi-
schen mehr als einen. Nachrichten über
Heim- und Schnelltests häufen sich. Was
aber sind die Unterschiede? Der klassische
Labortest, der im Moment Standard ist,
weist das Erbgut des neuen Coronavirus
mit einer sogenannten Polymeraseketten-
reaktion (PCR) nach. Die PCR ermöglicht,
kleine Mengen Viruserbgut so zu vervielfäl-
tigen, dass sie mess- und damit sichtbar
werden. Als Probe dient ein Abstrich aus
dem Rachen oder Hustensekret. Die Metho-
de ist allerdings komplex, dauert Stunden
und ist auf professionelle Laboratorien aus-
gerichtet. Solche Tests lassen sich daher
nicht mal eben neben dem Krankenbett
durchführen.
Dafür ist das Verfahren sehr präzise.
Wer ein positives Testergebnis bekommt,
kann sehr sicher sein, tatsächlich eine
Infektion mit Sars-CoV-2 zu haben, und
nicht einen anderen Virusinfekt. Man sagt,
der Test ist hoch spezifisch. Er ist zudem
hochsensitiv, spürt also selbst geringere
Mengen Viren auf. Ist die Ansteckung ge-
rade erst erfolgt, oder werden die Proben
nicht korrekt gehandhabt, so kann es zwar
sein, dass der Test fälschlicherweise nega-
tiv ausfällt. Auch deshalb wird Kanzlerin
Angela Merkel, die von einem infizierten
Arzt behandelt wurde, nun wiederholt ge-
testet. Dennoch bleibt das Verfahren die
bislang zuverlässigste Methode – und das
Verfahren der Wahl, wenn der Hausarzt bei
begründeten Verdachtsfällen einen Test
anordnet. Die Kosten von je nach Labor 60
bis 150 Euro trägt dann die Kasse. Man
muss aber etwas Geduld aufbringen, denn
die Proben müssen meist eingeschickt
werden. Mit dem Ergebnis ist nach ein bis
mehreren Tagen zu rechnen.

Schnellere Nachweise von Viruserbgut
sind mit miniaturisierten, vollautomati-
schen PCR-Systemen möglich, die direkt
in den Krankenhäusern aufgestellt wer-
den. Die Probe kommt in einen vorbereite-
ten Behälter und muss einfach nur ins
Gerät gesteckt werden. Ein erstes solches
System ist gerade in den USA zugelassen
worden. Die Vorbereitung der Probe dau-
ert nach Angaben des Herstellers Cepheid
eine Minute, der Test anschließend 45 Mi-
nuten. Das klingt großartig. Aber die Gerä-
te, mit denen der Test durchgeführt wird,
sind kostspielig und selten. Selbst in den
USA gibt es durchschnittlich nur 100 sol-
cher Plattformen je Bundesstaat.
Noch schneller und fast so einfach wie
ein Schwangerschaftstest könnten bald
sogenannte Antigentests sein. Auch sie wei-
sen das Virus direkt nach, jedoch nicht das
Erbgut des Erregers, sondern Merkmale
seiner Eiweißhülle, die im Fachjargon Anti-
gene heißen. Forschern in Taiwan ist es
gelungen, sogenannte Antikörper gegen
diese Antigene herzustellen. Antikörper
werden normalerweise vom Körper als Ant-
wort auf eine Infektion produziert, sie er-
kennen den Erreger über Jahre mit hoher
Sicherheit und sind ein Pfeiler der Immuni-
tät nach Infektionen. Man kann ähnlich
spezialisierte Antikörper aber auch im
Labor machen, an Oberflächen binden und
als Test nutzen. Der Test fischt aus der Pro-
be Teile des Virus und spürt so die akute In-
fektion auf. Das dauert etwa 20 Minuten.
Dafür sind sehr kleine Virusmengen oft
nicht nachweisbar. Wann die Antigentests
verfügbar sein werden, ist noch unklar.
Allerdings sollten sie, wenn es so weit ist,
preiswert und einfach anzuwenden sein.
Aber auch das Immunsystem von Sars-
CoV-2-Infizierten bildet im Laufe der Zeit
Antikörper. Sie lassen sich ebenfalls für
Tests nutzen. Anders als bei den anderen
Verfahren wird bei solchen Antikörper-
tests nicht das Virus selbst aufgespürt,
sondern die Antwort des Immunsystems
auf die Begegnung mit dem Erreger. Das
Prinzip ist dennoch ähnlich wie das des
Antigentests, nur umgekehrt: Ein Teststrei-
fen präsentiert Oberflächenmerkmale des
Erregers – und diese fischen dann die Anti-
körper aus einer Blut- oder Plasmaprobe.
Auch diese Methode dauert 20 Minuten
und kann wie ein Schwangerschaftstest als
kleiner Stick gestaltet werden. Erste Tests
dieser Art sind bald erhältlich, etwa vom
Berliner Unternehmen Pharmact. Ein Test
kostet rund 40 Euro, ausgeliefert wird das
Produkt in den kommenden Wochen nur
an Apotheken und Fachpersonal.
Das Verfahren hat einen Vor- und einen
gewichtigen Nachteil. Der Vorteil ist, dass
der Test auch vergangene, womöglich
unbemerkte Infektionen nachweist. Das
kann weder ein PCR- noch ein Antigen-
schnelltest. Hier ist der Test auf Anti-
körper die einzige Option. Wer aber wissen
will, ob er jetzt gerade an Covid-19 er-
krankt ist oder sich akut bei jemandem mit
dem neuen Virus angesteckt hat, der ist
mit einer PCR besser beraten. Der Körper
kann bis zu zehn Tage nach Beginn der
Symptome brauchen, um Antikörper zu
bilden. In dieser Zeit ist der Antikörpertest
blind für das Virus. kathrin zinkant

Warum unterschiedliche Fallzahlen kursieren


von hanno charisius

S


eit Tagen vergeht keine Pressekon-
ferenz der Weltgesundheitsorganisa-
tion zur Corona-Pandemie ohne die
stete Wiederholung des Mantras der Virus-
jagd: „Testen, testen, testen“, rief WHO-Di-
rektor Tedros Adhanom Ghebreyesus in
der vergangenen Woche ins Mikrofon.
Auch in dieser Woche hob er wieder an:
„Wir müssen das Virus attackieren, jeder
Verdachtsfall muss getestet werden.“ Um
die Pandemie einzudämmen, braucht es
laut WHO den Test, der verrät, ob jemand
den Erreger in sich trägt. Der Test ist wich-
tig, weil die meisten Infektionen von Men-
schen ausgehen, die noch keine Symptome
spüren oder nur so milde Krankheits-
zeichen entwickeln, dass man sie leicht mit
einer Erkältung verwechseln kann. Des-
halb ist es notwendig, das gesamte Umfeld
von Erkrankten zu prüfen, um diese stillen
Verteiler aufzuspüren, bevor sie weitere
Menschen infizieren.
Auch in Deutschland gehört das Aufspü-
ren von Infizierten laut Lothar Wieler, dem
Präsidenten des Robert-Koch-Instituts
(RKI) in Berlin, zu der dreiteiligen Strate-
gie gegen das Virus. Da wären erstens Maß-
nahmen zur Eindämmung, womit er die
Abstandsregeln meint, das Kontaktverbot
und etwa Schulschließungen – aber eben
auch die Nachverfolgung und das Aufspü-
ren von Infizierten und ihren Kontaktper-
sonen. „Das ist wichtig und wird wichtig
bleiben“, sagte Wieler am Montag. Zudem
zählt er den Schutz besonders gefährdeter
Gruppen zur Strategie sowie die Erhöhung
der Kapazität in der ärztlichen Versorgung



  • mehr Personal, Intensivbetten und Be-
    atmungsmaschinen.
    Aber nicht einmal Deutschlands Seu-
    chenschützer vom Robert-Koch-Institut
    wissen genau, wie viel getestet wird. Bis-
    lang werden nur Tests mit positivem Virus-
    nachweis von den Gesundheitsämtern
    gemeldet, nicht jedoch die, bei denen kein
    Virus gefunden wurde. Das soll sich nun
    ändern. Bayern hat vergangene Woche die
    Labore im Bundesland dazu verpflichtet,
    die Gesamtzahl der Tests zu melden. Auch
    soll die Zahl der Tests seit dem 1. Januar
    gemeldet werden. So bekommt in ein paar
    Tagen zumindest der Freistaat einen
    Überblick über das Testgeschehen. In den
    kommenden Wochen wird sich das Bild
    bundesweit hoffentlich vervollständigen.


Bis dahin gibt es nur Schätzungen. Die
Kassenärztliche Bundesvereinigung gibt
die Zahl der Tests für die zurückliegende
Woche mit 100 000 an – allein im ambulan-
ten Bereich. Fachleute schätzen, dass in Kli-
niken etwa noch mal so viel getestet wur-
de. 200 000 ist auch die Zahl, die Gesund-
heitsminister Jens Spahn (CDU) auf einer
Pressekonferenz am Montag nannte. In
der vergangenen Woche sprach RKI-Chef
Wieler noch von einer wöchentlichen Kapa-
zität von 160 000 Tests in Deutschland, die
weiter ausgebaut werden solle. Pharmafir-
men könnten ihre Labore für Corona-Tests
öffnen, tiermedizinische Einrichtungen
könnten Kapazitäten frei machen. Das
müsste koordiniert werden. Auf Anfrage
erklärt das Gesundheitsministerium, dass
es die Versorgungslage als „gut“ bewerte.
Der aktuelle Bedarf könne gedeckt werden
und „nach aktuellen Erkenntnissen geht
die Bundesregierung – unter Berücksichti-


gung der aktuellen Gefährdungslage – da-
von aus, dass der Bedarf an diesen Test-
Kits auch zukünftig bedient werden kann“.
Um alle zu testen, die jetzt gerne getes-
tet werden wollen, wird es zwar nicht rei-
chen – das wäre aber auch nicht sinnvoll.
Ein negativer PCR-Test, der das Erbgut der
Viren nachweist, ist nur eine Momentauf-
nahme vom Zeitpunkt der Probennahme.
Wird der Rachenabstrich mit einem Watte-
stäbchen zu früh nach der Infektion ge-
nommen, so zeigt der Test noch nichts an.
Der PCR-Test ist zwar sehr empfindlich
und äußerst zuverlässig, doch kann er
nicht in die Zukunft schauen. Insofern ist

es sinnvoll, nur einen Kreis von Verdachts-
fällen zu testen, so wie es vom RKI empfoh-
len wird. Die Behörde hat klare Kriterien
entwickelt, nach denen Ärzte entscheiden
sollen, ob jemand getestet werden muss.
Demnach müssen Symptome und Kontakt
mit einem Infizierten oder der Aufenthalt
in einem Risikogebiet zusammenkom-
men, damit ein begründeter Verdachtsfall
vorliegt. Dann ist ein Test angezeigt. Getes-
tet werden soll auch bei Symptomen und ei-
nem Aufenthalt in Regionen Deutschlands
mit hoher Verbreitung oder einer Lungen-
entzündung mit ungeklärter Ursache.
Doch überall in Deutschland wird mehr
oder weniger stark von diesen Empfehlun-
gen abgewichen. Davon zeugen zahllose
Erfahrungsberichte aus dem Behörden-
dschungel der Bundesländer. Es gibt reich-
lich Anekdoten von Menschen, die Kontakt
zu Infizierten hatten, es dem Gesundheits-
amt meldeten, und nicht getestet wurden.
Und umgekehrt wurden und werden ganze
Familien getestet, nur weil zum Beispiel
der Vater einen Husten hat. Es steht jedoch
nicht in der Macht des RKI, die Umsetzung
der Empfehlungen überall durchzusetzen.
Allein die aktuelle Größenordnung der
Test-Zahl ist beeindruckend, wenn man
sie denn glauben mag. Umgerechnet auf
die Bevölkerung wird in Deutschland
demnach wesentlich mehr getestet als in
China, in den USA oder den anderen euro-
päischen Ländern. Sie liegt nach nur vier
Wochen im Bereich der Meistertester in
Südkorea (siehe Text unten), und vielleicht
schon bald darüber. Das rigorose Testen
des Landes wird oft als Vorbild herangezo-
gen. Inzwischen warnen manche Ärztever-
bände aber sogar davor, dass in Deutsch-
land zu sehr in der Breite getestet werde
und bald Erkrankte übersehen werden
könnten, weil die Labore vollends überlas-
tet sind. Viele Verdachtsfälle müssten gar
nicht getestet werden, solange sie keine
Symptome entwickelten und sich in Qua-
rantäne begäben.
Zumindest derzeit gibt es keine Anzei-
chen dafür, dass viele Infizierte in Deutsch-
land deshalb unentdeckt bleiben, weil zu
wenig getestet wird. Dafür spricht zum
Beispiel die geringe Letalität hierzulande.
Während weltweit etwa 3,4 Prozent der In-
fizierten sterben, sind es in Deutschland
nach den aktuellen Daten weniger als einer
von hundert. Eine Erklärung dafür wäre,
dass in Deutschland nahezu alle Infizier-
ten gefunden und gezählt werden, zumin-
dest bislang. In anderen Ländern scheint
es so zu sein, dass vor allem die Schwer-
kranken gezählt werden, und die mit mil-
dem Verlauf, die vielleicht nur ein Kratzen
im Hals haben, gar nicht erst getestet und
gezählt werden.

Vernunft schützt, findet Kim Nam-yeon.
Die 28-jährige Textilingenieurin aus Seoul
folgt deshalb ohne Murren den Ratschlä-
gen der Behörden im Kampf gegen das Co-
ronavirus: alle zwei Stunden Hände wa-
schen. Die Desinfektionsmittel nutzen, die
es mittlerweile auch in Bussen und U-Bah-
nen gibt. Und natürlich Gesichtsmasken
tragen, um sich und andere zu schützen.
Dass viele Kirschblütenfeste abgesagt
sind, ist schade. Aber sie findet die Vorsicht
richtig, zu welcher die Regierung alle an-
hält. Fühlt sie sich ihrer Freiheit beraubt?
„Überhaupt nicht“, sagt Kim Nam-yeon.
Höchstens beim Gesichtsmaskenkauf. Kei-
ner kriegt mehr als zwei pro Woche.
Auf die Disziplin seiner Bürger kann
sich Südkorea verlassen, wenn es darum
geht, das Coronavirus einzudämmen. Das
mag einer der Gründe dafür sein, dass der
Tigerstaat mittlerweile vorsichtig optimis-
tisch ist. Tage des Schreckens hat das Land
hinter sich: Vom 21. Februar an verzeichne-
te es einen explosionsartigen Anstieg der
Covid-19-Fälle. Einmal stellte das Korea-
nische Zentrum für Seuchenkontrolle
(KZSK) 909 neue Infektionen an einem
Tag fest. Südkorea war der zweitgrößte Co-
ronavirus-Krisenfall hinter China.
Jetzt, einen Monat später, sieht die Fall-
Kurve viel besser aus. Der Zuwachs am
Montag war der geringste seit dem 21. Fe-


bruar (64 neue Fälle), 76 waren es am Diens-
tag. 9037 Covid-19-Erkrankte sind regis-
triert, von denen mittlerweile 3507 entlas-
sen sind. Das Zähmen des Ausbruchs funk-
tioniert in Südkorea – so sieht es zumin-
dest gerade aus. Zumal die Zahl der Todes-
fälle (120) relativ niedrig geblieben ist. Da-
bei hat die Regierung des Präsidenten

Moon Jae-in nicht einmal strikte Verord-
nungen erlassen, um große Menschenan-
sammlungen und potenzielle Infektions-
cluster zu verhindern. Im Ausland fragen
sich viele: Wie hat Südkorea das geschafft?
Ohne die Einsicht der Menschen im
Land hätte das nicht funktioniert. Die Ansa-
gen der Behörden waren durchaus deut-

lich. Vor allem in Daegu, nachdem es dort
in der Kirche einer Religionsbewegung ei-
ne Masseninfektion gegeben hatte. Aber
echte Ausgangssperren waren nicht nötig,
die Menschen folgten. In Daegu wurde es
extrem ruhig. Auch die Hauptstadt Seoul
war kaum wiederzuerkennen, obwohl die
meisten Geschäfte und Restaurants offen
blieben. Es gab zwar den strengen Hinweis
aus dem Rathaus, dass Demonstrationen
zu Geldbußen führen könnten – aber als

dann ein paar Hundert Menschen auf ih-
rem Recht beharrten, ließ die Polizei sie ge-
währen. Die meisten blieben ohnehin da-
heim. „Ich habe nicht das Gefühl, als gäbe
es Sanktionen vom Staat“, sagt Myeong
Geun Cho, 34, der in einem Seouler Start-
up arbeitet. „Die Leute folgen aus eigener
Vorsicht.“ Sie fordern die Vorsicht sogar
ein. „Wenn ich im Zug keine Maske trage,
werde ich schon schief angeschaut.“
Ein wichtiger Grund für das ermutigen-
de Zwischenergebnis dürfte aber auch die
Tatsache sein, dass man in Südkorea früh
eine gefährliche Eigenschaft des neuen Co-
ronavirus beachtet hat: Es verbreitet sich

auch über Menschen, die keine oder nur
milde Symptome zeigen. „Dieser Charak-
ter des Virus macht die traditionelle Ant-
wort darauf, die Lockdown und Isolation
betont, ineffektiv“, zitiert dieNew York
TimesSüdkoreas Vize-Gesundheitsminis-
ter Kim Gang-lip. Wer es einmal im Land
hat, so das südkoreanische Verständnis,
muss viel testen, um möglichst viele unauf-
fällige Infizierte erfassen und in medizini-
scher Isolation kurieren zu können.
Ein großes Testprogramm zieht Südko-
rea deshalb auf, mit Hunderten Testzen-
tren und zahlreichen Drive-in-Stationen.
348582 Tests hat das KZSK bisher analysie-
ren lassen. Kontaktpersonen von Infizier-
ten machten Südkoreas Seuchenbekämp-
fer in detektivischer Kleinarbeit ausfindig,
indem sie Kreditkartendaten nutzten, Mo-
biltelefone trackten und Überwachungska-
meras auswerteten. Auch Tempo war ein
Faktor. Beim Massenausbruch war schnell
klar, dass besagte Kirche der Ausgangs-
punkt war. Schnell bat der Bürgermeister
die Menschen von den Straßen. Schnell ge-
horchten die Menschen.
Und es bleibt ruhig in Südkoreas Städ-
ten. Man traut sich nicht, erleichtert zu
sein. Dass es weniger neue Fälle gibt, deu-
tet Kim Nam-yeon jedenfalls nicht so, als
sei die Luft rein. „Wir müssen immer noch
vorsichtig sein.“ thomas hahn

6.3.4.3. 8.3. 10.3. 12.3. 18.3.16.3.14.3. 20.3. 22.3. 24.3.

0

5000

10 000

15 000

20 000

25 000

0 000

5 000

SZ-Grafik; Quellen: Johns Hopkins University, RKI/SZ; Stand: 16:15 Uhr

Auffällige Lücke

Fallzahlen laut RKI
Fallzahlen laut
Johns Hopkins University

262

27 436

31 260

2 HF2 (^) THEMA DES TAGES Mittwoch, 25. März 2020, Nr. 71 DEFGH
Infiziert oder nicht
infiziert? Zur Klärung
dieser Frage wird bei
den gängigen Tests ein
Abstrich genommen,
etwa aus dem Rachen
oder der Nase. Die
Probe kommt dann in
ein Röhrchen wie die-
ses und wird in einem
Labor untersucht.
Auf ein Ergebnis müs-
sen die Getesteten
jedoch mitunter
Tage warten.
FOTO: SVEN HOPPE/DPA
Teste sich, wer kann
Mediziner untersuchen relativ viele Bürger
auf das Virus, aber nicht alle, die das wünschen.
Das ist auch sinnvoll
Seoul am Dienstag: Es ist ruhig, aber nicht menschenleer, die Regierung hat auf
strikte Auflagen verzichtet. FOTO: ED JONES / AFP
Lohn der Einsicht
Südkorea hat es geschafft, die Zahl der Neuinfektionen stark zu verringern. Dabei halfen die Disziplin der Menschen – und viele Tests
Ergebnis
in 20 Minuten
Neue Methoden sollen deutlich
schneller eine Infektion nachweisen
Die Seuchenbekämpfer
ermitteln akribisch
Kontaktpersonen von Infizierten
Es gibt klare Kriterien, wer
getestet werden soll, aber viele
Mediziner halten sich nicht daran
Die neuen Methoden
haben allerdings
auch ihre Nachteile
Die Summe der Tests wird nur
geschätzt, es sollen nun
200 000 pro Woche sein
Die Bedeutung der TestsTrage ich das Virus bereits in mir? Diese Frage beschäftigt derzeit viele Bürger in Deutschland.
Gewissheit kann nur ein Corona-Test bringen, doch werden viele Menschen von Ärzten oder Gesundheitsämtern abgewiesen.
Fachleute wollen Prioritäten setzen. Ob sich die Pandemie eindämmen lässt, hängt auch davon ab, wer getestet wird

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