Süddeutsche Zeitung - 25.03.2020

(Wang) #1
Düsseldorf –Am Dienstagvormittag um
10.23 Uhr kennen die Abgeordneten im
Düsseldorfer Landtag keine Parteien
mehr. Da kennen sie nur noch Corona. Alle
siebzig Parlamentarier im runden Plenar-
saal stehen hinter ihren Pulten und klat-
schen, laut und lang. Kurz zuvor hat Armin
Laschet, Nordrhein-Westfalens Minister-
präsident und nunmehr Pandemie-Mana-
ger des Landes, all jene Bürger gelobt, die
nun allabendlich gegen 21 Uhr an Fenstern
und auf Balkonen stehen, um den Einsatz
von Ärztinnen und Krankenpflegern, von
Müllmännern und Feuerwehrleuten zu
würdigen. Alle, ob politisch rot oder grün,
ob schwarz, gelb oder blau gefärbt, spen-
den Applaus. Laschet steht hinterm Red-
nerpult, zollt schließlich seinen eigenen
Worten Beifall. Weshalb, so frotzelt ein
Beobachter auf der Tribüne, für einen
Moment „ein Hauch von China“ und Volks-
kongress durchs Hohe Haus zieht.
Demokratie im Angesicht von Corona,
das lichtet die Reihen. Nur jeweils ein Drit-
tel der Abgeordneten, so haben sich die
Fraktionen aus Gründen gesundheitlicher
Prävention verständigt, darf überhaupt an
der Sitzung teilnehmen. Die Grünen (nor-
malerweise 14 Mandate) durften bei heute
rechnerisch genau 4,66 Sitzen aufrunden
auf fünf Sitzungsteilnehmer. Überall zwi-
schen den Parlamentariern bleiben zwei
Plätze frei, genauso finden sich zwischen
den Ministern jeweils zwei Leerstellen. Die
Saaldiener öffnen die Türen mit schwar-
zen Gummihandschuhen. Und ihr Kollege,
der jedem Redner ein Glas frisches Wasser
aufs Pult stellt, erinnert mit seinem leuch-
tenden Latex über den Fingern an die Per-
fomance-Künstler der „Blue Man Group“.
Jede Krise läutet die Stunde der Exekuti-
ve ein. So ist es auch an diesem Dienstag,
als die helle Glocke in der Hand von Land-
tagspräsident André Kuper schellt. Die
CDU-FDP-Koalition will sich ein Hilfspa-
ket in Höhe von 25 Milliarden Euro für aller-
lei Bürgschaften, Darlehen und Zuschüsse
genehmigen lassen. Das Geld soll Unter-
nehmen retten, Jobs bewahren. „Wir ste-
hen am Beginn einer großen, wirtschaftli-
chen, wahrscheinlich weltweiten Krise“,
warnt Regierungschef Laschet. Alle Partei-
en, auch die Opposition von SPD, Grünen

und AfD haben längst signalisiert, dass sie
dem Notprogramm zustimmen werden.
25 Milliarden Euro, das ist etwa ein Drittel
des regulären Haushalts des Bundeslands.
Ökonomisch ein riesiger Batzen, politisch
ausgestellt als Blankoscheck.
In seiner Rede müht sich Laschet, die
Balance zu finden zwischen Härte und
Überreaktion. 8224 Infizierte und 40 Coro-
na-Tote im Bundesland mahnten zu drasti-
schen Maßnahmen. Also drohen jetzt zwi-
schen Weser und Rhein hohe Geldbußen
bei Verstößen gegen die Kontaktsperre(sie-
he Kasten). Aber der CDU-Politiker vertei-
digt zugleich die weiterhin offene Grenze
zu Belgien und den Niederlanden, weil dies
die Lieferung von Lebensmitteln und Medi-
kamenten ermögliche: „Ich bin gestern da
mal rumgefahren“, berichtet der Regie-
rungschef von einem Abstecher im Dienst-
wagen nahe seiner Aachener Heimat. Das
Parlament nickt, alles okay.
SPD und Grüne versuchen zaghaft, der
schwarz-gelben Koalition ein paar Zusa-
gen zur Verwendung der 25 000 Millionen
Euro abzuringen. Monika Düker, die Frak-
tionschefin der Grünen, versucht es per
Vertrauensvorschuss: Sie stellt keine präzi-

sen Bedingungen, mahnt aber von der
Regierungskoalition „Kooperation auf der
Strecke“ an. Also späteres Entgegenkom-
men im Gegenzug für die sofortige Er-
mächtigung. Was Finanzminister Lutz Lie-
nenkämper per Kopfnicken bestätigt.
Die SPD hingegen setzt auf Kontrolle.
„Die parlamentarische Kontrolle geht
nicht vom Netz,“ betont SPD-Fraktions-
chef Thomas Kutschaty. Seine Partei hätte
lieber förmliche Zusagen, weshalb die Sozi-
aldemokraten ein paar Änderungsanträge
vorbereitet haben, die gezielt Finanzmittel
an überlastete Krankenhäuser, klamme
Kommunen oder darbende Wohlfahrts-
verbände lenken sollen. Verbindliche Kor-
rekturen jedoch werden von CDU und FDP
am frühen Nachmittag im Haushaltsaus-
schuss niedergestimmt. Am Ende sichert
die NRW-Regierung zu, man werde bei der
Verwendung der Milliarden schon Kom-
promisse finden: Überparteilich im Geiste,
vereint gegen Corona.
Der Rest ist dann Formsache. Um 15.
Uhr läutet Landtagspräsident Kuper zur
zweiten und dritten Lesung. Der Gesetzes-
akt für 25 Milliarden Euro währt drei Minu-
ten. Einstimmig. christian wernicke

Die NRW-Regierung hat festgelegt, wel-
cher Verstoß gegen die „Coronaschutzver-
ordnung“ (CoronaSchVO) wie viel kostet.
Dabei gilt alsOrdnungswidrigkeit:


  • Rechtswidriger Besuch im Altenheim:
    200 Euro

  • Zusammenkünfte von mehr als zwei
    nicht miteinander verwandten Personen
    in der Öffentlichkeit: 200 Euro pro Person

  • Picknick und Grillen in der Öffentlichkeit:
    250 Euro pro Teilnehmer

  • Betrieb einer gastronomischen Einrich-
    tung: 4000 Euro

  • Verzehr von Außer-Haus-Speisen und
    Getränken im Umkreis von 50 Metern der
    gastronomischen Einrichtung: 200 Euro
    Sogar einerStraftatschuldig macht sich,
    wer sich in Gruppen größer als zehn Perso-
    nen trifft – dies kostet bis zu 5000 Euro, im
    Wiederholungsfall 25 000 Euro. SZ


Es ist ein ungewöhnliches Bild, das russi-
sche Militärfahrzeuge gerade abgeben. In
der Nähe von Rom rollen sie aus dem
Bauch großer Iljuschin-Maschinen, auf
den Fahrerkabinen und Motorhauben
kleben bunte Herzchen, in den russischen
Nationalfarben, und in den italienischen.
Dazu ein bekannter Spruch, auch auf Eng-
lisch, damit ihn die ganze Welt versteht:
„From Russia with Love.“ So heißt der
James-Bond-Film „Liebesgrüße aus Mos-
kau“ in der Originalfassung. Am Dienstag
ist bereits das 14. Transportflugzeug gelan-
det. In der Not hilft Russland Italien.
Es wirkt widersprüchlich: Ein Staat
nach dem anderen schließt seine Grenzen,
kappt Verbindungen in die Welt, holt
Bürger zurück. Und doch entstehen nun
zwischen Ländern Hilfskorridore, wächst
Unterstützung. Kuba schickt Ärzte nach
Italien, China Schutzmasken nach Europa
und Afrika. Sogar Argentinien bot den
Briten Hilfe auf den zwischen ihnen so
umstrittenen Falklandinseln an. Zu helfen
gibt es viel, und auch zu gewinnen: Sympa-
thie, Einfluss, politische und wirtschaftli-
che Rendite für spätere Zeiten. Oder auch
sofort, wie das sozialistische Kuba, das am
Export von Ärzten verdient. Länder wie
China und Russland springen gern ein,
während Staatengemeinschaften wie die
EU sich schwertun in der Corona-Krise.


Moskau schickt nach Italien Schutzmas-
ken, Schutzanzüge, Desinfizierungsfahr-
zeuge und -mittel, Stäbchen für Tests. Ent-
sendet wurden auch weit mehr als hundert
Helfer, Spezialisten, Virusexperten und
Epidemiologen, die im Umgang mit Bakte-
rienangriffen geschult sind, Erfahrung
haben etwa im Kampf gegen Ebola. Sie
wollen den von Corona schwer getroffenen
Italienern helfen, aber natürlich haben sie
auch selber etwas davon: neue Erkenntnis-
se, die sie gebrauchen können, wenn das
Virus sich auch in Russland weiter aus-
breitet. Dass das russische Militär einem
Mitglied der Nato beisteht, hat die Zeitung
Nesawissimaja Gasetabesonders betont:
Die Allianz handele eher nach dem Prinzip
„Jeder hilft sich selber.“
Wie wichtig Russland die Botschaft als
internationaler Helfer ist, zeigt, dass bei
der Beladung der ersten Maschine Verteidi-
gungsminister Sergej Schoigu dabei war.
Es wurde gefilmt, Kameras zoomten die
Herzchen heran. „Italien ist nicht allein“,
sagte Italiens Außenminister Luigi Di
Maio, als er die Bilder den Italienern zeigte.
„Es zahlt sich aus, wenn man gewisse
Freundschaften pflegt.“ Dabei schwang
mit: ungewöhnliche Freundschaften. Die
europäischen Freunde, die gewohnten, hat-
ten sich anfangs nur zögerlich solidarisch
gezeigt – wenn überhaupt.
Russland und Italien sind einander
nicht erst seit der Männerfreundschaft zwi-
schen Wladimir Putin und Silvio Berlusco-
ni nahe, doch seither sind sie es besonders.
Zuletzt machten vor allem die rätselhaften
Verbindungen von Matteo Salvinis Lega
zum Kreml Schlagzeilen. Italien macht
sich auch stark für eine Lockerung der
Sanktionen, weil es um seine Exporte
fürchtet. Nun kommt etwas zurück. Umge-
kehrt gilt: Rom dürfte künftig erst recht in
der EU gute Worte für Russland einlegen.


Politisch gefärbt sind auch die Banden
zu China. Seitdem sich Italien im vergange-
nen Jahr als einziger G-7-Staat hinter das
chinesische Großprojekt einer neuen Sei-
denstraße stellte, bedenkt man sich gegen-
seitig mit Lob. Jetzt waren die Chinesen die
Ersten, die Hilfsgüter nach Italien schick-
ten. 31 Tonnen, vor allem Beatmungs-
geräte für die Intensivstationen in der
Lombardei. Und ein Ärzteteam, das zuvor
in Wuhan eingesetzt war. Das alles kann
sich eines Tages auszahlen für China. Des-
sen Firmen bauen am italienischen 5G-
Netz, stehen aber unter Beobachtung.
China betreibt eine regelrechte Masken-
Diplomatie. Während der ersten Wochen
des Ausbruchs, in dem die Opferzahlen in
China rapide stiegen, hatte es den Export
von Schutzausrüstung und Masken ge-
stoppt und Firmen verpflichtet, die Pro-
duktion zu erhöhen oder neue
Produktionen aufzubauen. Mindestens
116 Millionen Masken stellt das Land inzwi-
schen am Tag her, fast sechs Mal mehr als
vor der Krise. China gilt weltweit als wich-

tigster Hersteller für die meisten der drin-
gend benötigten Materialen. Trotzdem sto-
cken die Lieferungen. Auch wenn das Land
den Exportstopp abstreitet, bestätigen
mehrere Firmen auf SZ-Anfrage, keine
Bestellungen mehr ins Ausland liefern zu
dürfen. Die Lieferungen, die das Land nun
schickt, versendet Peking medienwirk-
sam. Die Kommunistische Partei will das
Land sein, das die Welt rettete – nicht das
Regime, dass Hunderttausende Menschen
durch Versäumnisse krank machte.
Die Staatsmedien stellen die Regierung
als großzügigen Spender und handlungs-
fähigen Akteur mit überlegenem Wissen
im Kampf gegen das Virus dar, wie Taisu
Zhang von der Yale University schreibt. Als
eine führende Macht in der Welt müsse
man natürlich Hilfe suchenden Staaten
helfen, erklärte ein Regierungssprecher.
Bei jeder Lieferung warten Kamera-
teams und Reporter. Die Staatsmedien zei-
gen Videoaufnahmen von Menschen aus
den Ländern, die sich bei China bedanken.
Während die EU-Staaten nur zögerlich

Hilfen untereinander zugesagt haben, hat
China bereits Dutzende Länder beliefert.
Spanien erhielt 500 000 einfache OP-Mas-
ken, Pakistan 300 000 Gesichtsmasken,
12 000 Test-Kits und vier Millionen Dollar,
um ein Krankenhaus zu bauen. An Tsche-
chien gingen 1,1 Millionen festere N95-Fil-
termasken. Auch die EU soll zwei Millionen
OP-Masken, 200 000 N95-Masken und
50 000 Test-Kits bekommen.
Meistens sind es gar nicht Spenden,
sondern Lieferungen gegen Bezahlung.
Oft werden sie auch nicht von der Regie-
rung geschickt, sondern von Privatfirmen
oder chinesischen Hilfsorganisationen.
Einer der aktivsten Lieferanten ist Jack
Ma, Gründer von Alibaba. Die Jack Ma
Foundation hat medizinische Güter in min-
destens neun Länder geschickt und ver-
sprochen, mindestens 20 000 Test-Kits,
100 000 Masken und 1000 Schutzanzüge
an alle 54 Länder in Afrika zu senden.
Für den Kontinent ist das eine gute
Nachricht in schlechten Zeiten. Denn in
einer der größten Krisen der jüngeren

Geschichte hört man so gut wie keine Spen-
denaufrufe für Afrika. Der Rest der Welt
will sich erst einmal selber helfen. Es gibt
zwar bisher erst 1700 Corona-Infizierte,
aber der Virologe Christian Drosten sagte,
in Afrika wird es bald „Szenen geben, die
wir uns so heute nicht vorstellen können“.
Am Sonntag landete zumindest ein
Transportflugzeug mit 5,4 Millionen Ge-
sichtsmasken und 1,08 Millionen Test-
Kits in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abe-
ba. Geschickt hat es Jack Ma. „Es ist jetzt
so, als würden wir alle in dem selben Wald
sitzen, der Feuer gefangen hat“, sagt er.
Hilfe kommt also aus China, aus Russ-
land, aus Kuba – warum sieht man die Eu-
ropaflagge nicht auf diesen Lieferungen?
Die EU muss in der Corona-Krise gerade
ein wenig um ihr Image kämpfen, nicht
nur in Afrika, auch in Europa selber. Dabei
gibt es seit 2001 einen europäischen Katas-
trophenschutzmechanismus, der in diesen
Fällen aktiviert werden könnte. Der Ha-
ken: Die Hilfe bei diesem Mechanismus
wird nicht zentral von der EU geleistet, son-

dern von den Mitgliedstaaten. Sie können
auf Anfrage und nach Vermittlung durch
die EU-Kommission freiwillig die angefor-
derten Kapazitäten bereitstellen. Das funk-
tioniert aber nur, wenn die Mitgliedstaa-
ten auch etwas von ihren Vorräten herge-
ben wollen, und gerade zu Beginn der Kri-
se waren viele Staaten dazu nicht bereit.
Die EU-Kommission hat darum vorige
Woche angefangen, einen eigenen Vorrat
an Schutzausrüstung, Beatmungsgeräten
und anderen Mitteln anzulegen, aus dem
sie die Mitgliedstaaten beliefern könnte.
Leicht wird das nicht: Denn Masken, An-
züge und medizinisches Gerät sind jetzt
überall gefragt. Kritiker fürchten, die Vor-
ratsidee der Kommission könnte die Kon-
kurrenz auf dem Markt noch erhöhen.
Aber selbst wenn es gelingt, einen signi-
fikanten Vorrat für alle Mitgliedstaaten
aufzubauen: Eine gesamteuropäische Ant-
wort auf die Corona-Krise ist bislang auch
deswegen ausgeblieben, weil es an entspre-
chenden Kompetenzen fehlt, die die Mit-
gliedstaaten der EU übertragen müssten.
„Es fehlt ein einheitliches Kommando“,
sagte EU-Ratspräsident Charles Michel. Er
plädiere für ein „echtes europäisches Kri-
senzentrum“. Nötig sei zudem ein „echter
europäischer Zivilschutz“. Ohne den bleibt
der EU gerade kaum mehr, als Mittel frei-
zumachen für die Gesundheit und die Un-
terstützung der Wirtschaft.

Immerhin, unterhalb der großen und da-
mit auch etwas trägen EU-Ebene erinnert
man sich jetzt doch einer recht unbürokra-
tischen Solidarität. Nach Sachsen wollen
nun auch Nordrhein-Westfalen und Bay-
ern Corona-Patienten aus Italien aufneh-
men und behandeln. Vorangegangen in sol-
cher Art Hilfsbereitschaft war man in der
französisch-deutschen Nachbarschaft.
„Wir sind eine Pilotregion“, diesen Satz
hört man oft im Zusammenhang mit der
Region Grand Est, die Lothringen, das
Elsass und die Champagne umfasst. Meis-
tens ist damit gemeint, dass hier die Gren-
ze zwischen dem Osten Frankreichs und
dem Westen Deutschlands nicht mehr so
streng gezogen wird, Menschen mühelos
pendeln zwischen den Ländern.
Als Jean Rottner, Präsident der Region
Grand Est, Anfang März von seiner Heimat
traurig als „Pilotregion“ sprach, meinte er
allerdings etwas anderes. In Lothringen
und im Elsass spürten sie besonders früh,
wie gefährlich das Coronavirus ist. Als im
übrigen Frankreich noch Kinos und Bars
besucht wurden, stellte sich für Rottner
schon die Frage, wie lange seine Kranken-
häuser den Ansturm noch aushalten wer-
den. Währenddessen standen auf der
deutschen Seite der Grenze Krankenhaus-
betten leer. Anlass für Politiker des rechts-
extremen Rassemblement National, das
Scheitern Europas anzuprangern.
Am Wochenende reagierten die Nach-
barn. Krankenhäuser in Rheinland-Pfalz,
Baden-Württemberg und im Saarland
stellten Intensivbetten zur Verfügung. Am
Samstag wurde der erste Coronapatient
von Frankreich nach Deutschland verlegt.
Auch Luxemburg und die Schweiz nehmen
Patienten aus Grand Est auf. Frankreichs
Präsident Emmanuel Macron bedankte
sich: „Die europäische Solidarität rettet Le-
ben.“ Und Grand-Est-Chef Rottner jubelte:
„Bei uns erfindet sich Europa!“

Chemnitz– Die letzten Worte eines Ange-
klagten kurz vor der Urteilsverkündigung
können vieles sein: Eine Entschuldigung
oder der Ausdruck der Reue. Bei Christian
K. ist an diesem Tag nichts davon zu spü-
ren. Er bittet um Gnade. Nicht für sich, son-
dern für seine sieben Mitangeklagten. Im
Falle einer Verurteilung möge man die
Haftstrafen auf Bewährung aussetzen. „Da-
mit sie in diesen schweren Zeiten bei ihren
Lieben sein können.“ Mildernde Umstände
durch die Corona-Krise? Es ist eine Hoff-
nung, der die Staatsschutzkammer des
Oberlandesgerichts (OLG) Dresden an die-
sem Tag nicht ganz folgt. Sie verurteilt die
Angeklagten unter anderem wegen Grün-
dung und Mitgliedschaft in der terroristi-
schen Vereinigung „Revolution Chemnitz“
sowie schwerem Landfriedensbruch zu
Haftstrafen von bis zu fünf Jahren und
sechs Monaten. Allerdings werden die Haft-
befehle von drei Angeklagten vorüberge-
hend ausgesetzt.
Eine milde Strafe, die der Vorsitzende
Richter Hans Schlüter-Staats mit der Kurz-
lebigkeit der Gruppe begründete. Gerade
mal fünf Tage vergingen von der Grün-
dung von „Revolution Chemnitz“ bis zu ih-
rem Ende im Herbst 2018. Im Prozess stell-
te sich deshalb die Frage, wie groß das ter-
roristische Potenzial der Gruppe wirklich
war. Dieses habe sich nicht in konkreten Ta-
ten voll entfaltet, sagt Schlüter-Staats. „Es
gab noch keine Pläne, die zum Bürgerkrieg
führen sollten. Die Waffen waren noch
nicht beschafft“, sagte er. Doch dass solche
Gruppen eine entsprechende Eigendyna-
mik entwickeln könnten, hätten die Taten
der rechtsextremen Gruppen „Freital“
und „Oldschool Society“ gezeigt.
Bereits vor der Corona-Krise stand der
Prozess unter genauer Beobachtung. Doch
nun steht die Justiz vor einem zusätzlichen
Dilemma. Denn während sich in Sachsen
nicht einmal mehr als zwei Personen im
Freien treffen dürfen, hocken im Hochsi-
cherheitssaal des OLG Dutzende zusam-
men. Das Gericht muss Fristen einhalten.
Das OLG hätte den Prozess gegen „Revolu-
tion Chemnitz“ nur für höchstens zehn Ta-
ge unterbrechen können. Andernfalls droh-
te die Neuaufnahme des Verfahrens. Eini-
ge Anwälte machten dem Gericht schwere


Vorwürfe. Die Fortsetzung des Verfahrens
sei „unverantwortlich“, sagte ein Verteidi-
ger. In ihren Plädoyers hatten die Anwälte
niedrige Haftstrafen oder Freisprüche ge-
fordert. Ihre Mandanten beschrieben sie
als fürsorgende Väter, treu sorgende Le-
benspartner, die vor ihrer Verhaftung ger-
ne in der Freizeit am Auto rumbastelten.
Verteidiger Kay Estel bezeichnete seinen
Mandanten als „durchschnittlichen, deut-
schen Spießbürger“. Christian K., Sten E.,
Maximilian V., Marcel W., Sven W., Hardy
Christopher W., Tom W. sind in den 90er-
Jahren groß geworden, in sächsischen
Kleinstädten, wo Rechtsextremismus als
Jugendbewegung galt, nicht aber als Ge-
fahr. K. kommt aus Chemnitz, wo sich ein
dichtes Geflecht aus Rechtsextremen und
Hooligans bildete. Die Männer kennen
sich, einige waren Teil der mittlerweile ver-
botenen Kameradschaft „Sturm34“. An
der Spitze: Christian K.

K. gilt als Rädelsführer von „Revolution
Chemnitz“. Das Gericht verurteilt ihn zu ei-
ner Haftstrafe von fünfeinhalb Jahren.
„Sie meinten es ernst“, sagte Richter Schlü-
ter-Staats zu K. Am 10. September 2018
richtete K. beim Messengerdienst Tele-
gram eine Chatgruppe ein, Titel: „Planung
zur Revolution“. Geplant waren Aktionen
gegen „Linksparasiten, Merkel-Zombies,
Mediendiktatur und deren Sklaven“. Der
erste „Einsatz“ erfolgt am 14. September


  1. Nach einer Demonstration von „Pro
    Chemnitz“ laufen fünf der Angeklagten
    und weitere Personen zu einem Park im
    Norden von Chemnitz. Sie treffen auf eine
    Gruppe, die dort Geburtstag feiern will.
    Schreiend laufen die Männer auf die Grup-
    pe zu, schubsen Personen, beschimpfen
    sie. Anschließend kreisen sie eine Gruppe
    von Pakistanern, Deutschen und Iranern
    ein. Wenige Tage später wird K. verhaftet.
    Auf seinem Handy findet die Polizei die
    Chatnachrichten. Sie führen dazu, dass
    „Revolution Chemnitz“ gestoppt wird.
    antonie rietzschel  Seite 4


Berlin –Im September befand das Berli-
ner Landgericht, dass üble Online-Kom-
mentare wie „Drecks Schwein“, „Schlam-
pe“ und noch drastischere sexistische Aus-
drücke keine Beleidigung seien. Geklagt
hatte die Grünen-Politikerin Renate Kü-
nast, gegen die sich die Hetz-Posts gerich-
tet hatten. Das Berliner Landgericht fand,
dass die Kommentare Meinungsäußerun-
gen seien und Künast die Beschimpfungen
hinnehmen müsse. Die Entscheidung löste
deutschlandweit Kritik aus.
Nun hat die nächsthöhere Instanz, das
Berliner Kammergericht, sie weitgehend
revidiert. „Die Äußerungen weisen einen
so massiven diffamierenden Gehalt auf,
dass sie sich als Schmähkritik einordnen
lassen“, heißt es in dem Beschluss vom


  1. März, der derSüddeutschen Zeitungvor-
    liegt. Künast hatte gegen insgesamt 22
    Posts geklagt. Bereits im Januar hatte das
    Landgericht in einem sogenannten Abhilfe-
    beschluss zumindest sechs der Posts als Be-
    leidigung eingestuft. Die Richter am Kam-
    mergericht bestätigten diesen Beschluss
    und bewerteten nun sechs weitere Kom-
    mentare als strafbare Beleidigung. Darun-
    ter sind besonders sexistische Beschimp-
    fungen, wie ein Post, in dem ein Facebook-
    Nutzer geschrieben hatte: „Knatter sie
    doch mal einer so richtig durch, bis sie wie-
    der normal wird.“
    Im Kampf gegen strafbare Online-Het-
    ze kommt Richtern in den kommenden Mo-
    naten eine noch wichtigere Rolle als bisher
    zu. Das von der Bundesregierung geplante
    Maßnahmenpaket gegen Hasskriminali-
    tät soll Social-Media-Konzerne wie Face-
    book verpflichten, Daten von Nutzern, die
    möglicherweise Strafbares gepostet ha-
    ben, an das BKA weiterzuleiten. Ob die Nut-
    zer dann verurteilt werden, entscheiden
    die örtlich zuständigen Gerichte. Denn das
    BKA wird die Fälle nach einer Prüfung an
    lokale Staatsanwaltschaften weitergeben.
    Angesichts der Masse an Posts, die Social-
    Media-Unternehmen jedes Jahr löschen,
    könnten mehrere Hunderttausend Fälle
    auf Richter deutschlandweit zukommen.
    Wo Gerichte im Einzelfall die Grenze zwi-
    schen strafbaren Inhalten und freier Mei-
    nungsäußerung ziehen, dürfte eine der
    wichtigsten Fragen werden im Kampf ge-
    gen Hate Speech. max hoppenstedt


Bußgeldkatalog


Demokratie light


Ungewohnt einig verabschiedet der Landtag in Düsseldorf ein riesiges Notprogramm


Hilfe mit Masken und Militärmaschinen


Italien und andere Staaten erfahren ungewohnte Unterstützung aus Russland, China und Kuba. Die EU tat sich
dagegen bisher schwer. Erst allmählich hilft man sich auch in Europa verstärkt über Grenzen hinweg

„Sie meinten es ernst“


Hohe Haftstrafen für Mitglieder von „Revolution Chemnitz“


Künast gewinnt Prozess


wegen Hetz-Posts


6 HF2 (^) POLITIK Mittwoch, 25. März 2020, Nr. 71 DEFGH
von lea deuber, bernd dörries,
oliver meiler, karoline
meta beisel, frank nienhuysen
und nadia pantel
Aufbruch nach Italien: In der Nähe von Moskau wird eine Iljuschin verladen. Herzen schmücken die Fracht. FOTO: ALEXEI YERESHKO/AP
Sitzung mit Sicherheitsabstand: Der
Düsseldorfer Landtag. FOTO: WERNICKE
Rechte Politiker kritisierten schon
ein Scheitern Europas. Aber jetzt
wächst die Hilfsbereitschaft
Geplant waren Aktionen gegen
„Linksparasiten, Merkel-Zombies,
Mediendiktatur“

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