Süddeutsche Zeitung - 25.03.2020

(Wang) #1
München– Als der Europäische Rat im ver-
gangenen Oktober die Aufnahme von EU-
Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedo-
nien und Albanien ablehnte, war das Kla-
gen groß. Der damalige Präsident der EU-
Kommission, Jean-Claude Juncker, sprach
gar von einem „historischen Fehler“. Umso
größer war die Erleichterung, als sich die
Europaminister der EU-Mitgliedsstaaten
am Dienstag bei einer Videoschalte doch
noch auf die Aufnahme von Beitrittsgesprä-
chen einigten. „Good News“ seien das, sie
freue sich über das „grüne Licht der Mit-
gliedstaaten“, schrieb Junckers Nachfolge-
rin Ursula von der Leyen auf Twitter. „Die
Zukunft der Westbalkanländer liegt in der
EU.“ Es sei „wirklich eine sehr große Freu-
de“, sagte auch die kroatische Europa-
staatsministerin Andreja Metelko
Zgombić nach Abschluss der Videokonfe-
renz. Für das jüngste EU-Mitgliedsland
war die Auflösung der politischen Blocka-
de in dieser Frage eines der Kernanliegen
während der kroatischen Ratspräsident-
schaft. Es sei außerdem wichtig gewesen
zu zeigen, dass die EU auch in schwierigen
Zeiten strategische Entscheidungen tref-
fen könne.
Um wirksam zu werden, muss die politi-
sche Einigung nun noch in einem schriftli-
chen Verfahren bestätigt werden – eine Ne-
benwirkung der Coronakrise, denn per Vi-
deokonferenz dürfen die EU-Minister kei-
ne förmlichen Beschlüsse fassen. Am Don-
nerstag sollen dann auch die Staats- und
Regierungschefs bei ihrer Videoschalte die
Beschlüsse „indossieren“, wie Diplomaten
sagen; ihnen also ihre politische Unterstüt-
zung geben.
Einen konkreten Zeitplan sehen die
Schlussfolgerungen noch nicht vor, auf die
sich die EU-Minister einigten. Beitrittskon-
ferenzen mit beiden Ländern sollen vorbe-
reitet werden, die EU-Kommission habe si-
gnalisiert, sie wolle sofort damit beginnen,
ein entsprechendes Mandat auszuarbei-
ten. Für Albanien stehen allerdings noch ei-
nige Hausaufgaben in den Ratsschlussfolg-
erungen. So solle das Land bei seiner Wahl-
reform Empfehlungen der Organisation
für Sicherheit und Zusammenarbeit in Eu-
ropa (OSZE) berücksichtigen, etwa Vor-
schriften für transparente Finanzierung

der politischen Parteien erlassen und si-
cherstellen, dass die angestoßene Justizre-
form umgesetzt wird. Auch solle das Land
verstärkt gegen Korruption und organisier-
tes Verbrechen vorgehen. Diese Bedingun-
gen seien „strikt, aber fair“, sagte EU-Er-
weiterungskommissar Oliver Varhelyi
nach der Videoschalte. Er sei „sehr zuver-
sichtlich“, dass es Albanien gelingt, diese
Vorgaben zu erfüllen. An Nordmazedoni-
en, das wegen eines Streits mit Griechen-
land bereits einen Landesnamen geändert
hatte, stellten die Mitgliedsstaaten keine
weiteren Bedingungen für die Aufnahme
der Gespräche.

Im Oktober war die Aufnahme von Bei-
trittsverhandlungen vor allem am Wider-
stand des französischen Präsidenten Em-
manuel Macron gescheitert, aber auch an
den Bedenken Dänemarks und der Nieder-
lande. Macron hatte darauf gepocht, vor
solchen Gesprächen erst einmal das Auf-
nahmeverfahren zu reformieren. Um das
Veto aufzulösen, hatte die EU-Kommissi-
on im Februar Vorschläge zur Änderung
des Verfahrens gemacht. Demnach soll es
vor allem möglich sein, Beitrittskandida-
ten früher zu bestrafen, wenn dort Refor-
men nicht umgesetzt oder gar zurückge-
nommen werden. EU-Erweiterungskom-
missar Olivér Várhelyi sagte damals, der
Prozess solle so glaubwürdiger und stärker
„politisch gesteuert“ werden.
In Skopje und Tirana wurde die Nach-
richt am Dienstag erfreut aufgenommen.
Nordmazedoniens Regierungschef Zoran
Zaev sprach von einem „historischen Mo-
ment für unser Volk in diesen schweren Zei-
ten“. Albaniens Präsident Ilir Meta dankte
den EU-Staaten für „diese ermutigende
Entscheidung“. karoline meta beisel

von thomas kirchner
und tobias zick

München– Nach der Krise ist vor der Kri-
se, das gilt für Griechenland leider seit Lan-
gem. Nachdem das Land die Euro-Turbu-
lenzen halbwegs überstanden und jüngst
den Ansturm von Migranten aus der Tür-
kei mit drastischen Maßnahmen abge-
wehrt hat, naht das nächste Unheil in Ge-
stalt des Coronavirus. Neben den wirt-
schaftlichen Verwerfungen, die es anrich-
ten wird, droht eine humanitäre Katastro-
phe auf den Inseln, die Migranten beher-
bergen.
„Wir machen uns große Sorgen“, sagt
George Makris von der Hilfsorganisation
Ärzte ohne Grenzen derSüddeutschen Zei-
tung. Die Hygiene in den Lagern sei
schlecht, Abstand halten unmöglich, des-
halb ließe sich das Virus kaum eindäm-
men. Auf Lesbos, wo Makris arbeitet, sind
drei Coronafälle bestätigt, außerhalb des
Lagers Moria. Dort leben mehr als 20 000

Menschen auf engstem Raum, überwie-
gend in dünnen Zelten, Tausende haben
keinen direkten Zugang zu Wasser. Auf
den Inseln gebe es kaum Intensivbetten
und nur wenig Testmöglichkeiten. Aus
Sicht der Helfer gibt es nur eine Lösung:
Die Lagerbewohner müssten auf das Fest-
land gebracht werden, und zwar zunächst
die Kranken und Geschwächten. Die grie-
chische Regierung und die EU stünden in
der Verantwortung, dies zu organisieren.
Im EU-Parlament teilt man die Befürch-
tung. Es müsse dringend etwas unternom-
men werden, forderte der Vorsitzende des
Innenausschusses Juan Fernando López
Aguilar in einem Brief an die EU-Kommis-
sion, aus demPoliticozitierte. Die humani-
täre Krise auf den griechischen Inseln dro-
he zu einem Gesundheitsproblem zu wer-
den, das eine „sofortige europäische Ant-
wort“ nötig mache.
Die griechische Regierung hatte die Be-
wegungsfreiheit der 42 000 Lagerinsassen
vor einer Woche beschränkt. Demnach dür-

fen sie die Lager in den kommenden 30 Ta-
gen nur in kleinen Gruppen zu bestimm-
ten Zeiten verlassen, um sich Lebensmittel
zu besorgen. Nur eine Person pro Familie
darf sich anschließen. Zuvor waren die La-
ger für Neuankömmlinge geschlossen wor-
den. Auch Besuch ist nicht mehr gestattet.
Der Politikberater Gerald Knaus, Vor-
denker des EU-Türkei-Deals, fordert seit
mehreren Tagen die Evakuierung der La-
ger. Sein Plan sieht vor, etwa 35 000 Men-
schen auf das Festland zu bringen, zu-
nächst in Zeltstädten, später in festeren Un-
terkünften. Um die Griechen zu entlasten,
sollten die EU-Staaten davon 10000 aner-
kannte, ausreisewillige Flüchtlinge aufneh-
men, mit organisatorischer Hilfe durch die
Internationale Organisation für Migration,
die auch Gesundheitstests bereitstellen
könnte. Knaus spricht von einer „humani-
tären Luftbrücke“ und erinnert an die Eva-
kuierung der 7000 Juden aus Dänemark,
die 1943 vor der Deportation in Konzentra-
tionslager gerettet wurden.

Vordergründig ist die Lage auf Lesbos,
wo Anfang des Monats gewalttätige Grup-
pen Flüchtlinge, Mitarbeiter von Hilfsorga-
nisationen und Journalisten attackiert hat-
ten, derzeit vergleichsweise ruhig. Wie im
ganzen Land gilt seit Montag eine Aus-
gangssperre, der Weg zur Arbeit, zum Arzt,
zum Einkaufen oder kurze Spaziergänge
sind weiterhin erlaubt; allerdings muss
man sich dafür per Formular oder per SMS
an das Zivilschutz-Ministerium registrie-
ren. Demonstrationen gegen die Anwesen-
heit von Flüchtlingen sind jedenfalls nicht
Bestandteil des Ausnahmen-Katalogs – es
scheint ohnehin derzeit eher wenigen Leu-
ten der Sinn danach zu stehen. „Jetzt ha-
ben alle einen gemeinsamen Feind“, sagt
Michalis Aivaliotis, Gründer der lokalen
Hilfsorganisation Stand By Me Lesbos, der
SZ, „nämlich das Corona-Virus“. Die Poli-
zei wage sich offenkundig nicht mehr in
das überfüllte Flüchtlingslager Moria, und
viele Flüchtlinge trauten sich nicht mehr
in die Stadt zum Einkaufen, ihrerseits aus
Angst, „allerdings ist es bei ihnen vor allem
die Angst vor Übergriffen“, sagt Aivaliotis.

Seine Organisation verteilt in Moria
Händedesinfektionsmittel und Plakate
mit Hinweisen dazu, wie man sich unter
den gegebenen Umständen so gut es geht
vor dem Virus schützen kann. Bislang ist
noch kein Corona-Fall in dem Flüchtlings-
lager registriert – aber wenn es soweit kom-
men sollte, wäre die Lage wohl kaum noch
unter Kontrolle zu bringen. „Und wer weiß,
was dann hier los ist, wenn die Einheimi-
schen die Flüchtlinge auch noch als poten-
zielle Virus-Überträger betrachten.“
In ganz Griechenland waren Anfang die-
ser Woche nach offiziellen Angaben 695 Co-
rona-Fälle registriert – wobei die Regie-
rung selbst davon ausgeht, dass in Wirk-
lichkeit bereits zwischen 8000 und 10000
Menschen infiziert sein könnten. In einer
Videokonferenz des Kabinetts rechtfertig-
te Premier Kyriakos Mitsotakis am Diens-
tag die strengen Ausgangsbeschränkun-
gen mit den Worten: „Die vielen haben sich
ungerecht behandelt gefühlt, als sie sahen,
wie die wenigen die Richtlinien der Regie-
rung missachtet haben.“ Noch Ende ver-
gangener Woche waren viele Griechen aus
den Großstädten in ihre Sommerhäuser
auf den Inseln gereist – wo schon jetzt die
medizinische Versorgung mitunter
schwach ist. Würde sich das Virus gleichzei-
tig auf einer Reihe kleiner Inseln ausbrei-
ten, wäre das seit der Finanzkrise ohnehin
angeschlagene griechische Gesundheits-
system unweigerlich schnell überfordert.
Wobei Finanzminister Christos Staikouras
sich am Montag in einer Fernsehanspra-
che bemühte, die Ängste der Bevölkerung
zu zerstreuen: Das Land habe genügend fi-
nanzielle Ressourcen, um die Pandemie ef-
fektiv zu bekämpfen, und der wirtschaftli-
che Schaden werde reversibel sein.
Die Frage, wie groß dieser Schaden aus-
fällt, hängt wesentlich davon ab, wie lange
die derzeitigen Reisebeschränkungen auf-
grund der Corona-Gefahr aufrechterhal-
ten werden: Die Volkswirtschaft des Lan-
des stützt sich zu mehr als einem Viertel
auf den Tourismus. Sollte dieses Jahr die
Sommersaison, die normalerweise im Juni
beginnt, weitgehend ausfallen, wären die
jüngsten Erholungseffekte der griechi-
schen Wirtschaft großenteils zunichte.

London– Kurz nachdem der britische Pre-
mierminister am Montagabend mit unge-
wohnt ernster Stimme Ausgangsbeschrän-
kungen für das ganze Land angekündigt
hatte, begann die Debatte: Sind Sportläden
nicht wichtig für die Volksgesundheit und
müssen deshalb offen bleiben? Wieso dür-
fen Zweitwohnungsbesitzer nicht in ihre
Landvillen fahren? Schadet die Pflicht, die
neuen Regeln durchzusetzen, dem Image
der Bobbies als Freund und Helfer?
Vorerst sollen nur Geschäfte geöffnet
bleiben, die für die Grundversorgung nötig
sind, Fahrten zur Arbeit sollen, soweit mög-
lich, unterlassen werden, und nur eine
sportliche Betätigung an der frischen Luft
wie Joggen oder Radfahren ist pro Tag er-
laubt. Aber immer noch bleiben die neuen
Regeln für das Zusammenleben der Briten
in der Corona-Krise hinter dem zurück,
was andere Staaten von ihren Bürgern ein-
fordern. Das zeigt sich auch in Ton und In-
halt: Premierminister Boris Johnson
sprach vom „nationalen Notstand“, wählte
aber das Verb „sollen“ statt „müssen“.
Auch Minister Michael Gove, der am Diens-
tag seine Runde durch Radio- und TV-Stati-
onen machte, blieb britisch-höflich und
mahnte: „Wir hoffen, dass die Menschen
vernünftig sind.“
Zudem ist die Liste der Ausnahmen, wel-
che die Regierung am Morgen nach John-
sons Ansprache nachreichte, unerwartet
lang: Baustellen dürfen weiter betrieben
werden, wenn die Arbeiter den Sicherheits-
abstand einhalten, die Fahrt zum Tierfut-
tergeschäft ist noch erlaubt, Kinder von ge-
trennt lebenden Eltern dürfen zwischen
den Wohnungen pendeln. Fotos in den sozi-
alen Medien zeigten folglich auch am
Dienstag volle U-Bahnen in London.
Die Regierung hatte lange gezögert mit
ihren Ankündigungen. Nach einem Wo-
chenende, an dem Parks und Strände voll
waren, zog Downing Street dann nach hefti-
gem internen Streit und einem kritischen
Medienecho die Reißleine: Experten hat-
ten intensiv gewarnt, dass die Insel, was In-
fektionsrate und Überforderung des chro-
nisch überlasteten Gesundheitssystems


angeht, etwa zwei Wochen hinter Italien lie-
ge. Wenn nicht sofort aus den Appellen ein
kollektiver Zwang werde, sei eine Katastro-
phe unvermeidlich. Johnson soll sich, Insi-
derberichten zufolge, schwer getan haben
mit der radikalen Einschränkung von Frei-
heitsrechten, deren Durchsetzung ohne-
hin nicht garantiert ist: Bisher hat die Poli-
zei noch nicht die nötigen Befugnisse.
Aber die Kritik am Vorgehen der Regie-
rung war immer lauter geworden: Der Pre-
mier habe in den vergangenen Wochen zu
zögerlich agiert. Eine klare Krisenkommu-
nikation sei ausgeblieben. Und vorange-
gangene Schlagzeilen über die von der Re-
gierung verfolgte Theorie der Herdenim-
munität, also der Infizierung und Immuni-
sierung der breiten Masse. Dass viele Bri-
ten daraus bis vor Kurzem ihre Rechtferti-
gung für eine exzessive Freizeitgestaltung
samt Pub-Besuchen zogen, hätte die fal-
schen Signale gesendet.

Ein hitzig diskutierter Artikel in der
Timestat dann ein Übriges: Am Wochenen-
de berichtete das Blatt, im Februar, als das
Ausmaß der Krise schon klar absehbar ge-
wesen sei, habe der Chefberater des Premi-
erministers, Dominic Cummings, gesagt,
die Strategie der Regierung sei es, die soge-
nannte Herdenimmunität anzustreben
und die Wirtschaft zu schützen. Wenn das
bedeute, dass dabei ein paar Menschen
sterben: „Pech gehabt.“ Downing Street de-
mentierte die Zitate heftig, und auch Cum-
mings-Kritiker betonten, der Berater sei
mittlerweile ein überzeugter Befürworter
der radikalen sozialen Isolierung, um das
Virus zurückzudrängen. Aber die öffentli-
che Debatte über den Text dürfte die Ent-
scheidung für Ausgangsbeschränkungen
noch einmal beschleunigt haben.
Bevölkerung und Medien reagierten po-
sitiv auf Johnsons Rede an die Nation. Die
Zeitungen waren voll von Weltkriegsrheto-
rik und Verweisen auf den berühmten
„Blitz-Spirit“, und eilig durchgeführten
Umfragen zufolge unterstützen vier Fünf-
tel der Briten die jüngsten Beschlüsse der
Regierung. Johnsons Umfragewerte stei-
gen; auch Labour-Wähler finden jetzt, er
manage die Krise gut. Zudem gibt es einige
gute Nachrichten aus dem NHS, dem natio-
nalen Gesundheitsdienst. Die Zahl der zur
Verfügung stehenden Intensivbetten, die
im internationalen Vergleich niedrig ist,
konnte durch die Kooperation mit privaten
Krankenhäusern erhöht werden. Die ers-
ten Technik-Firmen haben ihre Produkti-
on auf Beatmungsgeräte umgestellt. 7500
Ärzte und Schwestern haben sich aus dem
Ruhestand zurückgemeldet.
Gleichwohl ist die Lage weiter bedroh-
lich. Wegen des Brexit haben viele medizi-
nische Fachkräfte aus der EU das Land ver-
lassen; die von Johnson während des Wahl-
kampfs versprochene Rekrutierung von
50 000 Krankenschwestern ist noch gar
nicht angelaufen. Der echte Notstand auf
der Insel hat noch nicht einmal begonnen.
cathrin kahlweit

München– Auch die USA können den in-
nerafghanischen Konflikt nicht mehr ent-
schärfen. Trotz Corona-Krise war Außen-
minister Mike Pompeo nach Kabul gereist,
auf der Agenda stand der ungewöhnliche
Besuch bei zwei Präsidenten: Aschraf Gha-
ni und Abdullah Abdullah. Beide hatten in
der letzten Amtszeit noch unter Vermitt-
lung der USA in einer Regierung zusam-
mengearbeitet. Doch nach der Präsident-
schaftswahl im September, deren Ergeb-
nis erst im Februar bekannt gegeben wer-
den konnte, ließen sich beide zum Staats-
chef vereidigen. Zwar hatte Ghani nach An-
gaben der Wahlbehörde eine absolute
Mehrheit der Stimmen geholt, doch Abdul-
lah wollte das nicht akzeptieren – seiner
Meinung nach waren die Unregelmäßigkei-
ten so gravierend, dass eigentlich er der
Wahlsieger sei.
Pompeo war nach seiner Visite bei den
beiden Politikern so verärgert, dass die
USA nun ihre Hilfszahlungen an das kriegs-
versehrte Land um eine Milliarde Dollar
kürzen wollen. Washington sei auch zu wei-
teren Einschnitten bereit, so Pompeo. Gha-
ni und Abdullah sollten sich „am Riemen
reißen“, dann würden die Einschnitte nicht
nötig sein, sagte Pompeo beim Rückflug
nach Angaben der Nachrichtenagentur AP.
Zuvor hatte der Außenminister eine scharf
formulierte Erklärung abgegeben, in der
er die Unfähigkeit Ghanis und Abdullahs
zusammenzuarbeiten eine „direkte Bedro-
hung“ der US-Interessen nannte.
Washington fürchtet um den Friedens-
prozess am Hindukusch: Nach 18-monati-
gen Verhandlungen mit den Taliban hat-
ten die USA Ende Februar ein Abkommen
mit den Islamisten geschlossen. Demnach
zieht sich der Westen bis Ende April 2021
aus Afghanistan zurück, im Gegenzug le-
gen die Taliban die Waffen nieder und ver-
pflichten sich, dass Terroristen Afghanis-
tan nicht wieder als Rückzugsort nutzen
dürfen. Aber ein innerafghanischer Frie-
densprozess, also die Aussöhnung zwi-
schen der Regierung und den Taliban, hat
noch nicht begonnen – und durch das Cha-
os in Kabul wird er komplizierter. toma


Nun wird wirklich geredet


EU-Beitrittsgespräche mit Westbalkanländern können beginnen


Idealbedingungen fürs Desaster


Noch gibt es keine Infizierten in den überfüllten griechischen Flüchtlingslagern.
Breitet sich das Virus aus, wäre das Gesundheitssystem des Landes überfordert

Moskau/München/Tel Aviv/Rom– Wäh-
rend die Anzahl der Infizierten weltweit
steigt und nun auchIndienlandesweit Aus-
gangsverbot verhängt hat, gibt es inChina
Hoffnung auf Besserung. Am Dienstag wur-
de die Ausgangssperre für den Großteil der
vom Virus betroffenen Provinz Hubei auf-
gehoben. Wer nachgewiesen gesund ist,
darf seit der Nacht zu Mittwoch aus der Re-
gion ausreisen. Die Provinzhauptstadt Wu-
han jedoch, in der das Coronavirus Ende
Dezember ausgebrochen war, bleibt noch
bis 8.April abgeriegelt. In Hubei wurden
seit mehr als einer Woche kaum neue Infek-
tionen gemeldet. Doch von Montag auf
Dienstag meldeten Behörden 78 neue Fäl-
le, 74 davon „importiert“, weshalb Ankom-
mende in Peking auf das Coronavirus ge-
testet werden. In denUSAforderte Präsi-
dent Donald Trump unterdessen, dass die
Amerikaner zurück an ihre Arbeitsplätze
gehen und Abstandsregelungen weiter ein-
halten. „Die Beschwernisse werden enden,
sie werden bald enden“, sagte er am Mon-
tag in Washington.

ImGazastreifenwächst die Sorge, nach-
dem zwei infizierte Palästinenser aus Pa-
kistan eingereist sind. „Das ist eine Heraus-
forderung, denn hier leben die Menschen
auf engstem Raum zusammen“, sagt Ge-
rald Rockenschaub der SZ. Er ist der für die
palästinensischen Gebiete zuständige Di-
rektor der Weltgesundheitsorganisation
WHO. Im Gazastreifen leben mehr als zwei
Millionen Palästinenser in prekären Ver-
hältnissen, 1,2Millionen sind auf Nah-
rungsmittelhilfe durch das UN-Flücht-
lingshilfswerk UNRWA angewiesen.
Laut Rockenschaub kommen auf alle Be-
wohner des Gazastreifens derzeit nur
60 Betten für Intensivmedizin, „und die
sind auch nicht alle funktionsfähig“. Im ab-
geriegelten Küstenstreifen fehlen auch
sonst häufig Medikamente, Krebspatien-
ten können nicht behandelt werden. Im
Westjordanland, mit rund 2,5 Millionen
Einwohnern, gibt es 150 Intensivbetten.

Die beiden positiv getesteten Männer sind
Rockenschaub zufolge „relativ wohlauf“.
Sie wurden gleich nach der Einreise iso-
liert, ebenso 29 weitere Personen, die mit
ihnen Kontakt hatten. Bisher wurden
118Tests im Gazastreifen durchgeführt,
300 sind noch vorhanden. Im Westjordan-
land wurden 9000 Menschen getestet, 900
Tests stehen noch zur Verfügung.
InItalienhat Angelo Borrelli, Chef des
Zivilschutzes, in der ZeitungLa Repubblica
Hoffnungen auf schnelle Verbesserung der
Lage gedämpft. „Auf jeden registrierten In-
fizierten kommen etwa zehn weitere, die
nicht registriert sind”, sagte Borrelli. Wäre
dem so, gäbe es in Italien nicht 60 000 posi-
tive Fälle, sondern mindestens 600 000,
die meisten ohne erkennbare Symptome.
Bei einer real sehr viel höheren Fallzahl
würde auch die dramatische Sterblichkeits-
rate in Italien stark sinken. Nach zwei Wo-
chen Lockdown war die Zahl der Neuanste-
ckungen in der offiziellen Statistik etwas
weniger stark gestiegen als zuvor, auch in
der Lombardei. Die Todeszahlen bleiben
aber hoch, auch wenn sie schwanken: 793,

651, 601, 703 in den vergangenen drei Ta-
gen. Auf die Frage, ob bis Sommerbeginn
die Krise überstanden sei, sagte Borrelli:
„Niemand kann das jetzt sagen.“
In der russischen HauptstadtMoskau
müssen von Donnerstag an alle Menschen,
die älter als 65 Jahre sind, zu Hause blei-
ben. Insgesamt betrifft das etwa 1,8 Millio-
nen Menschen. Bürgermeister Sergej Sob-
janin versprach betroffenen Senioren je-
weils 4000 Rubel als Entschädigung,
knapp 50Euro. Der Kreml beeilte sich zu er-
klären, dass die Regel nicht für Präsident
Wladimir Putin gelte, er ist 67 Jahre alt. Bis-
her gelten in Russland 495 Menschen als in-
fiziert. Sobjanin sagte erstmals öffentlich,
dass die reale Anzahl der Erkrankten wohl
weitaus größer sei, weil viele Menschen un-
getestet zu Hause säßen. InTschetscheni-
enhat Ramsan Kadyrow derweil als erstes
Oberhaupt einer russischen Teilrepublik
alle Cafés und Restaurants schließen las-
sen. Gerüchte darüber, dass die Haupt-
stadt Moskau bald abgesperrt werden
könnte, bestreiten die Behörden.
afs, clli, om, sibi

Wenn Appelle


nicht wirken


Ausgangssperren sollen nun die Krise im Königreich eindämmen


Wegen des Brexits haben viele
medizinische Fachkräfte aus
der EU Großbritannien verlassen

„Die Zukunft der
Westbalkanländer
liegt in der EU“, kom-
mentierte Kommissi-
onspräsidentin Ursu-
la von der Leyen die
Einigung über Ge-
spräche mit Nordma-
zedonien und Albani-
en.FOTO: AFP

DEFGH Nr. 71, Mittwoch, 25. März 2020 (^) POLITIK HF2 7
Alle außer Putin
Moskauer Senioren bleiben zu Hause, andere Länder stellen sich auf das Schlimmste ein
Boris Johnson hatte lange mit Verboten ge-
zögert und stattdessen auf die umstritte-
ne Herdenimmunität gesetzt. FOTO: DPA
Vermittlungen
gescheitert
USA kürzen Hilfzahlungen
für Afghanistan drastisch
Menschen leben in den Flüchtlingslagern, hier auf Lesbos, in dünnen Zelten und auf engstem Raum gedrängt. Hilfsorganisa-
tionen fürchten dort einen unkontrollierten Ausbruch des Coronavirus. FOTO: ALEA HORST/OBs
Ein Hochzeitspaar im Gazastreifen schützt sich beim Fototermin vor Covid-19. Im
palästinensischem Gebiet sind nun zwei Corona-Fälle bestätigt. FOTO: SAID KHATIB/AFP
Die Regierung ist bemüht,
die Ängste der Griechen
zu zerstreuen
In Italien dämpft der
Zivilschutz Hoffnungen
auf eine schnelle Besserung

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