von martina knoben
J
åul! Jåul!“, winselt ein Wikingerhund
(mit nordischem Akzent!) im Nebel
des Eismeeres. Zu sehen ist nichts.
Nur eine Sprechblase öffnet sich kläglich
in einem sonst leeren weißen, die ganze
Heftbreite füllenden Panel. So beginnt
„Die große Überfahrt“, eines der klassi-
schen „Asterix“-Alben. Mit einem Gag.
Wenn die echte Welt ein Comic wäre,
dann wäre nun auf vielen, vielen Seiten
lautstarkes Heulen in Sprechblasen zu
sehen. Papa Asterix ist tot. Der Zeichner
und Miterfinder des wohl berühmtesten
gallischen Dorfs, Albert Uderzo, ist am
Dienstag in der Nähe von Paris gestorben.
Er wurde 92 Jahre alt.
Neben Walt Disney ist er der wohl be-
kannteste Comiczeichner der Welt. 1959
kreierte er mit seinem Freund und Kolle-
gen René Goscinny, der die Storys und
Dialoge schrieb, die Saga um die wider-
ständigen Gallier, die in ihrem Dorf an der
nordgallischen Küste dem römischen Im-
perium trotzen – einen Millionenerfolg.
Dabei waren Asterix und Obelix recht
klägliche Männlein, als sie 1959 in der neu-
gegründeten JugendzeitschriftPiloteins
Licht der Comicwelt traten. Asterix war ein
wenig sympathischer, ältlicher Junggesel-
le mit dünn herunterhängendem gelbem
Schnauzbart; Obelix ein dümmlicher Riese
mit Schweinsäuglein, dessen blau-weiße
Hose über seinem nur leicht gewölbten
Leib schlabberte. Der Erfolg der Serie wird
gern dem genialen Texter Goscinny zuge-
schrieben, der all die unvergesslichen
Sprechblasen-Sentenzen schuf wie „Die
spinnen, die Römer ....“
Aber Uderzo war eben auch ein großer
Zeichner. Seinen Galliern verlieh er schon
bald nach dem ersten kläglichen Auftritt
die weichen, runden, mäßig naturalisti-
schen Formen, die auch Disneys Figuren
so populär machten. Die Schnauzbärte der
Gallier wurden kürzer und buschiger.
Obelix bekam seinen von Wildschweinen
und Zaubertrank geformten Körper. Und
Asterix’ Flügelhelm zeigte die Stimmun-
gen seines Trägers an. Uderzo war er ein
großer Menschenzeichner.
Unvergessen der herrlich unsympa-
thische Intrigant Tullius Destructivus in
„Streit um Asterix“, der immerzu Zwie-
tracht säht. Die Sprechblasen färben sich
in seiner Gegenwart giftgrün ein. Mancher
Asterix-Experte wollte in dieser Figur den
kommunistischen Politiker Georges Mar-
chais erkennen – eindeutig ist das keines-
wegs. Uderzo wollte nicht mit politischer
Satire erschrecken – er porträtierte das
allgemein Menschliche. Was für herrliche
Knollennasen er seinen Galliern gemalt
hat! Was für sprechende Augen und Kinne!
Gewissermaßen als Bonus für die Leser
(und Privatspaß der Künstler) tauchten im-
mer wieder Prominente in Nebenrollen
auf. So ist in „Asterix und Kleopatra“ eine
herrlich spitznasige Elizabeth Burton als
Kleopatra zu sehen und haben die Komiker
Stan Laurel und Oliver Hardy als römische
Legionäre in „Obelix GmbH & Co KG“
einen Auftritt. Der gelangweilte Präfekt
Gracchus Überdrus in „Die goldene Sichel“
trägt die Züge von Charles Laughton.
Die Karikaturen in den Bänden zu
erkennen, wurde ein Sport der „Aste-
rix“-Gemeinde, die eben nicht vor allem
aus Kindern und Jugendlichen besteht,
sondern aus Menschen, die Anspielungen
aus Politik und Kunstgeschichte erken-
nen. Es gibt Anspielungen auf Laokoon
und Pieter Bruegel oder auf Géricaults
„Schiffbrüchige“. „Asterix“ ist Hochkultur
und Slapstick – denn Uderzo beherrschte
beides, dazu den Umgang mit Sprechbla-
sen und Typografie.
Zur Kunst der Menschenzeichnung
kam die Bewegungslust der belgischen
École Marcinelle (mit Vertretern wie Jijé,
André Franquin oder Morris). Was Uderzo
zeichnerisch draufhatte, hatte er schließ-
lich schon vor „Asterix“ bewiesen, etwa in
der Indianer-Serie „Umpah-Pah“ (eben-
falls mit Goscinny), in der viele den Prototy-
pen von „Asterix“ sehen.
Uderzo, der mit vollem Namen Alberto
Aléandro Uderzo hieß, wurde am 25. April
1927 im französischen Fismes in der Nähe
von Reims geboren, als Sohn eines italieni-
schen Geigenbauers. 1934 erhielten die El-
tern die französische Staatsbürgerschaft.
Es sei eine „fröhliche, aber arme Kindheit“
gewesen, erzählte Uderzo. Dass er zeich-
nen konnte, wusste er früh. Der junge
Albert bewunderte Walt Disney; er wollte
„ein europäischer Disney werden“, sagte er
in einem Interview mit dieser Zeitung. Das
Handwerk des Comiczeichnens brachte er
sich teilweise selber bei. Erste Werke ver-
öffentlichte er mit Jean-Michel Charlier
als Texter des Comics „Belloy, Ritter ohne
Rüstung“. Ebenfalls mit Charlier entstan-
den in den 1960ern Geschichten von „Mick
Tangy“. 1951 begann dann die Zusammen-
arbeit mit René Goscinny, mit dem er diver-
se Serien schuf, „Pitt Pistol“, „Luc Junior“
und „Benjamin & Benjamine“.
Ein „Fuchsroman“, eine Tierfabel nach
dem Vorbild von Reineke Fuchs, sollte
folgen. Doch kurz vor der Veröffentlichung
kam Uderzo und Goscinny ein anderer
Zeichner mit der Idee zuvor. Es musste
dringend ein neuer Einfall her, der eben-
falls lustig sein sollte und französisch, ame-
rikanische Superhelden gab es genug. Die
Legende besagt, dass die beiden auf dem
Balkon von Uderzos Wohnung die französi-
sche Geschichte Revue passieren ließen,
von den Höhlenmenschen zu Vercingeto-
rix, dem Krieg gegen Cäsar. Uderzo wollte
angeblich einen großen Helden, Goscinny
einen kleinen. Der Rest ist Geschichte.
Aus dem Fuchs wurde Asterix, aus den
Ohren die Flügel an dessen Helm. 1961 er-
schienen die ersten Abenteuer als Album,
in „Asterix der Gallier“. Es folgten weitere
27 Bände, bis René Goscinny 1977 überra-
schend starb. Für viele Fans war auch Aste-
rix damit gestorben, aber Uderzo arbeitete
allein weiter; 1980 erschien das erste von
ihm allein geschaffene Album „Der große
Graben“. Die Zeitabstände zwischen den
Bänden wurden nun größer, die Geschich-
ten waren nicht mehr so brillant wie frü-
her. Aber immer noch fieberte die weltwei-
te „Asterix“-Gemeinde dem Erscheinen
neuer Abenteuer entgegen, die in Millio-
nenauflagen erschienen.
Eine Goldgrube: Mehr als zehn „Aste-
rix“-Zeichentrick- und Realverfilmungen
entstanden, ein „Asterix“-Freizeitpark bei
Paris, Hunderte Merchandising-Artikel,
neue „Asterix“-Bände werden wie Staats-
geheimnisse behandelt. Uderzo sammelte
Ferraris und zeichnete weiter. Um die Rech-
te an „Asterix“ entbrannte ein hässlicher
Familienstreit, bei dem der Zeichner sogar
seine Tochter und den Schwiegersohn ver-
klagte. Er war schon über achtzig, als er die
Comicreihe an jüngere Kollegen übergab.
Der erste „Asterix“-Band von Jean-Yves
Ferri und Didier Conrad erschien 2013.
Albert Uderzo erlag in Neuilly, einem
Vorort von Paris, im Schlaf einem Herz-
infarkt, wie seine Familie mitteilte. Seit
Wochen sei er müde gewesen. Man möchte
sich vorstellen, wie Uderzo nun an einem
Bankett in einem gallischen Paradies teil-
nimmt. Wildschweine für alle! Und kein
Barde stört.
DEFGH Nr. 71, Mittwoch, 25. März 2020 HF2 9
Als „Rettungsschirm für den Kulturbe-
reich“ hat Kulturstaatsministerin Monika
Grütters das 50 Milliarden schwere Hilfs-
programm bezeichnet, mit dem der Bund
Selbständige und kleine Unternehmen
unterstützen will. Doch das stimmt nicht
wirklich. Zwar gibt es in der Kultur beson-
ders viele Selbständige und viele kleine
Betriebe, die jetzt mit geringen Einnah-
men dastehen – oder ganz ohne. Grütters
sprach von 80 000 abgesagten Veranstal-
tungen bis Mai und einem Schaden von
1,25 Milliarden Euro. Doch das Rettungs-
programm folgt einzig strukturellen und
wirtschaftlichen Kriterien, nicht inhaltli-
chen. Es ist nicht auf die Kultur gemünzt
und unterscheidet daher nicht zwischen
einem Programmkino und einem Friseur-
laden, einem Pianisten und einem Taxi-
fahrer.
Dennoch wird es einem Musiker, der
nicht mehr auftreten kann, natürlich hel-
fen, dass er jetzt Grundsicherung beantra-
gen kann, ohne erst sein Vermögen aufzu-
brauchen und sich für die Größe seiner
Wohnung rechtfertigen zu müssen. Selb-
ständig oder mit bis zu fünf Mitarbeitern
Arbeitende können bis zu 9000 Euro für
die nächsten drei Monate bekommen. Bei
Firmen mit bis zu zehn Mitarbeitern sind
es 15 000 Euro. Und wer die Miete für seine
Wohnung, sein Atelier oder seinen Probe-
raum gerade nicht bezahlen kann, steht
unter Kündigungsschutz.
Die Maßnahmen, die Grütters in ihrem
eigenen Ressort angekündigt hat, nehmen
sich im Vergleich eher vage aus. Sie zielen
darauf ab, die Gelder des vorhandenen
Kulturetats so umzuschichten, dass sie „in
Not geratenen Künstlerinnen und Künst-
lern gezielt zugutekommen“.
Allerdings ist Kultur vor allem Sache
der Bundesländer. Und diese haben inzwi-
schen ihrerseits etliche Hilfsprogramme
für Selbständige und kleinere Firmen ge-
startet. Die meisten von ihnen ähneln den
am Montag vorgestellten Maßnahmen des
Bundes, die am Mittwoch vom Bundestag
beschlossen werden sollen. Im Detail fin-
den sich aber jeweils Unterschiede.
Auch hier gibt es kaum Sonderregeln
für Kulturschaffende. Am ehesten findet
man sie in ostdeutschen Ländern. Zum
Beispiel in Sachsen-Anhalt, das 400 Euro
Soforthilfe monatlich an Künstler und
Schriftsteller zahlt. Der Betrag kann zwei-
mal beantragt werden. Sachsen und Thü-
ringen bieten immerhin Entschädigungs-
zahlungen für Veranstaltungen, die nach
den behördlichen Verboten abgesagt wer-
den mussten. Auch wer sich in Quarantäne
begeben muss, kann Hilfen beantragen.
Die parallelen Hilfen von Bund und Län-
dern sind einerseits zu begrüßen, anderer-
seits dürften sie zu einer enormen Verwal-
tungsschlacht führen. Nicht nur, weil jeder
zweimal Unterstützung beantragen muss,
sondern auch, weil die Länder ihre eigenen
Gelder und zusätzlich die des Bundes ver-
teilen. Wie „unbürokratisch“ und „unkom-
pliziert“ das in der Praxis aussehen kann,
wird sich zeigen.
Auch sonst gibt es hier und da kleine
Erleichterungen, die aber für die meisten
keine substanzielle Hilfe darstellen wer-
den: So können bei der Künstlersozial-
kasse Versicherte auf Antrag ihre monat-
lichen Vorauszahlungen reduzieren, wenn
ihre Einkünfte gerade einbrechen. Auch
die Verwertungsgesellschaften, die im Auf-
trag von Musikern, bildenden Künstlern
und Autoren für Werke Tantiemen eintrei-
ben, leisten Hilfe. Die Gema, die die Rechte
von Komponisten und Songschreibern
wahrnimmt, will 40 Millionen Euro bereit-
stellen. Die Gesellschaft zur Verwertung
von Leistungsschutzrechten, die Interpre-
ten, also etwa klassische Musiker, vertritt,
bietet ihren Mitgliedern als Sofortmaß-
nahme 250 Euro für ausgefallene Konzerte
und Produktionen.
Beim Sozialfonds der VG Wort können
sich Autoren um Hilfe bewerben. Für Film-
schaffende gibt es einen Fonds der Verwer-
tungsgesellschaft der Film- und Fernseh-
produzenten. Die VG Bild-Kunst will Aus-
schüttungen vorziehen. Viele Kulturstif-
tungen, so die Deutsche Orchesterstiftung
oder die Hamburgische Kulturstiftung,
sammeln Spenden (eine Sammlung der In-
itiativen findet sich unter padlet.com/krea-
tivedeutschland/zu41puas9yk3).
Klar ist, dass in absehbarer Zeit noch
sehr viel mehr Menschen in der Kultur
Hilfe brauchen werden: Alle nämlich, die
mit befristeten Verträgen arbeiten und
demnächst ihre Jobs verlieren könnten.
jörg häntzschel
Würde Woody Allen die Veröffentlichung
seiner Autobiografie als Woody-Allen-
Film inszenieren – sie würde vermutlich
punktgenau in eine Virenpandemie fallen.
Erstens entspricht ein solches Szenario
seiner pessimistischen Lebenseinstellung.
„Für manche Leute“, schreibt er schon auf
den ersten Seiten des Buchs, „ist das Glas
halb leer, für andere halb voll. Für mich
war stets der Sarg halb voll.“
Und zweitens ist aus der Perspektive
des 84-jährigen Filmemachers eine Pande-
mie die diesem Buch angemessene Kata-
strophe, wenn man sich dessen bisherige
Entstehungsgeschichte anschaut. Wäh-
rend er das Buch schrieb, holten ihn die
Missbrauchsvorwürfe aus dem Jahr 1992
ein, von denen zumindest Allen dachte, sie
seien langsam aus der Welt. Seine Exfreun-
din Mia Farrow beschuldigt ihn, damals
ihre gemeinsame Adoptivtochter Dylan
sexuell missbraucht zu haben, als diese sie-
ben Jahre alt war. Allen wiederum sagt, Far-
row habe sich den Missbrauch ausgedacht,
um ihn im Sorgerechtsprozess um die drei
gemeinsamen Kinder zu diskreditieren.
Obwohl sich in der Sache seit 1992
nichts geändert hat, weiterhin Aussage ge-
gen Aussage steht und keine der beiden
Seiten neue Beweise für Schuld oder Un-
schuld vorlegen konnte, ist die Stimmung
gegen Allen in Amerika gekippt. Schauspie-
ler haben ihn fallen lassen, sein Filmdeal
mit Amazon platzte, und es fand sich zu-
nächst kein Verlag, der seine Memoiren
herausbringen wollte. Dann bekam er
doch einen Vertrag bei der Verlagsgruppe
Hachette. Aber kurz vor der Veröffentli-
chung zog diese das Buch zurück. Allens
Sohn Ronan Farrow, der fest auf der Seite
seiner Mutter Mia steht und als Enthül-
lungsjournalist unter anderem im Fall
Harvey Weinstein große Prominenz ge-
nießt, hatte den Verlag kritisiert. Auch in-
tern protestierten Mitarbeiter – Hachette
knickte ein. Das war ein erstaunlicher Vor-
gang, da alle bekannten Fakten ja schon
vor dem Deal auf dem Tisch lagen und die
Verantwortlichen sich vorher hätten Ge-
danken machen können, ob sie mit Allen ar-
beiten wollen oder nicht. Nun hat er einen
anderen Verlag gefunden, Arcade brachte
„Apropos of Nothing“ kurzfristig am Mon-
tag in die amerikanischen Buchläden.
Der deutsche Verlag Rowohlt zieht nach
und bringt das Buch am Mittwoch als
E-Book und am Samstag als Hardcover un-
ter dem Titel „Ganz nebenbei“ auf den
Markt. Knapp 450 Seiten hat es in der (et-
was schludrigen) deutschen Übersetzung.
Und auch wenn Allen schreibt, er hoffe, die
Menschen würden es „nicht nur wegen die-
ser Geschichte“ kaufen, geht es über weite
Strecken um die Schlammschlacht des Jah-
res 1992 und ihre Folgen.
Zwar schildert er zunächst in dem launi-
gen Tonfall, den man aus seinen Filmen
kennt, knapp seine Woody-Allen-Wer-
dung, die er selbst mit dem größten Erstau-
nen zur Kenntnis genommen habe: „Ich
war gesund, beliebt, sehr sportlich, wurde
immer als Erster in die Mannschaft ge-
wählt, spielte Ball, war Läufer, und doch
entwickelte ich mich irgendwie zu einem
ängstlichen, nervösen, emotionalen
Wrack, das gerade so den Kopf über Was-
ser hält, menschenfeindlich, klaustro-
phob, abgeschottet, verbittert und pessi-
mistisch bis in die Haarspitzen.“
Schnell steuert er aber auf „die Metzelei
napoleonischen Ausmaßes“ zu, als die er
die Anschuldigungen empfindet. Man
merkt den Aufzeichnungen an, dass hier
ein Mann auf der allerletzten Strecke sei-
nes Lebens noch mal geraderücken möch-
te, was die Menschheit über ihn denkt –
auch wenn er beteuert, das sei ihm egal.
Im Nachhinein, schreibt Allen, sehe er
„Warnsignale an jeder Ecke“, wenn er an
seine Beziehung zu Mia Farrow zurückden-
ke. Damals aber habe er sie einfach „um-
werfend schön“ gefunden, zudem sei sie
eine tolle Schauspielerin. Detailliert be-
schreibt er, wie sie eine Beziehung began-
nen, zwölf Filme drehten. Dreizehn Jahre
waren sie ein Paar, hatten zwei Adoptivkin-
der – Dylan und Moses – sowie einen leibli-
chen Sohn, Ronan. Auch wenn Mia Farrow
heute behauptet, Ronan sei das Produkt
eines Seitensprungs mit ihrem Ex-Mann
Frank Sinatra, schreibt Allen, er glaube
trotzdem fest, „dass er mein Sohn ist“.
Wie er sich schließlich in Soon-Yi ver-
liebte, Farrows Adoptivtochter aus der Ehe
mit André Previn, und mit ihr eine Bezie-
hung einging, wie Mia in seinem Apart-
ment Nacktfotos von Soon-Yi fand, „die
den Blutdruck steil in die Höhe“ treiben,
schildert er ebenfalls ausführlich. Mias
Schock, ihre Bestürzung und ihre Wut kön-
ne er nachvollziehen – „es war die ange-
messene Reaktion“. Nicht verzeihen könne
er ihr aber den anschließenden Rachefeld-
zug. Zunächst habe sie verbreitet, er hätte
ihre minderjährige Tochter Soon-Yi verge-
waltigt, obwohl diese damals weder min-
derjährig gewesen sei noch aus Zwang mit
ihm geschlafen habe – wofür ihre bis heute
glückliche Ehe der beste Beweis sei (Soon-
Yi ist das Buch auch gewidmet).
Um zu verhindern, dass er das Sorge-
recht für Dylan, Moses und Ronan bekom-
me, habe Farrow Dylan eingeredet, Allen
habe sie missbraucht. Er sei sich sicher,
dass seine Tochter wirklich daran glaube,
weil ihre Mutter sie so meisterhaft manipu-
liert habe. Allen verlor den Sorgerechtspro-
zess, obwohl er für die Vorwürfe nie juris-
tisch belangt wurde. Seine Version der Ge-
schichte ist nicht neu, er hat sie für das
Buch nur ausführlicher aufgeschrieben. Er
zitiert auch mehrmals aus dem Blog seines
Adoptivsohnes Moses, der auf seiner Seite
steht und seine Mutter Mia als intrigante,
manipulative Spinnerin charakterisiert.
Was allerdings neu ist, sind die Angriffe
auf die damals Beteiligten. Zum Beispiel
auf Elliott Wilk, den verstorbenen Richter,
der Allen das Sorgerecht aberkannte. Der
sei nicht der strahlende Verteidiger von
Missbrauchsopfern, als den ihn die Far-
rows gerne darstellten. Allen behauptet:
„Wenn man unter sexueller Belästigung
versteht, dass ein Mann versucht, sich von
einer Frau aufgrund seiner beruflichen
Position sexuelle Vorteile zu verschaffen,
müsste dieser Mann auf der Anklagebank
von #MeToo Blut und Wasser schwitzen.“
Auch einen der Ermittler von damals,
Frank Maco, der behauptete, die Untersu-
chung nur eingestellt zu haben, um Dylan
einen Prozess zu ersparen, macht Allen als
„armseligen Schlemihl“ nieder, der aus
Karrieregeilheit alles gegeben hätte, um
ihn vor Gericht zu bringen. Die Kritikerin
derNew York Post, Maureen Callahan, be-
zeichnet Allens Buch unter anderem we-
gen dieser Abrechnungen als die „wider-
lichsten, selbstmitleidigsten Memoiren
seit ,Mein Kampf‘“.
Abgesehen davon, dass der Komiker
Woody Allen das vermutlich als Kompli-
ment verstehen würde, zeigen solche Reak-
tionen, dass der Hass aus der Anti-Allen-
Fraktion wegen des Buches wieder große
Wellen schlägt. Man muss dieser Fraktion
aber in keiner Weise angehören, um trotz-
dem die Frage zu stellen, ob er sich mit die-
sem Buch, in dem er sich als „Paria“ stili-
siert, einen Gefallen tut. Denn fürs Dreck-
schmeißen waren bislang vor allem Far-
row und ihre Unterstützer zuständig. Sie
versuchen, als Trittbrettfahrer der „Me
Too“-Bewegung Woody Allen mit immer
neuen Angriffen gesellschaftlich mehr
und mehr zu ächten. Jeder, der sich ernst-
haft mit dem Fall beschäftigt, zum Beispiel
das Gutachten des Sorgerechtsprozesses
liest, kann eigentlich nur zu dem Schluss
kommen, dass man nicht weiß, was pas-
siert ist. Daraus folgt keinerlei Verpflich-
tung, Woody Allen zu mögen – aber die Un-
schuldsvermutung gilt in einem Rechts-
staat zum Glück auch für Menschen, die
man nicht mag.
Leider verlässt Allen in seiner Autobio-
grafie das Terrain des vernünftig Argumen-
tierenden ein bisschen zu oft für Behaup-
tungen und Beleidigungen, weshalb er mit
dem Versuch, sich zu verteidigen, strecken-
weise das Gegenteil erreicht. Was auch ein
bisschen an seinem flapsigen Plauderton
liegt, der gut zu den lustigen Geschichten
über seine jüdische Übermutter passt,
aber beim Thema Kindesmissbrauch de-
platziert wirkt. Dabei schreibt er selbst,
dass er nie einen öffentlichen Freispruch
verlangt, sondern sich lediglich gewünscht
habe, dass „mehr Leute hätten sagen sol-
len, ich weiß nicht, wie es wirklich gewesen
ist, ich erlaube mir kein Urteil“.
Deutlich gelungener als seine Verteidi-
gungsrede ist deshalb sein Porträt der USA
heute, wo sich die Leute fast nur noch Ur-
teile bilden, obwohl sie nicht wissen, wie es
gewesen ist. Hillary Clinton, die seine Wahl-
kampfspende ablehnt; der Schauspieler
Timothée Chalamet, der mit ihm dreht,
sich öffentlich dafür entschuldigt und ihn
über drei Ecken wissen lässt, dass ihm die
Entschuldigung leidtue, aber die Öffent-
lichkeit, er wisse ja...
Dass Allen aufgrund solcher Opportu-
nisten momentan in einer misslichen Lage
steckt, macht ihm zu schaffen. Er beklagt
„Probleme mit dem dritten Akt“ – und
meint damit vermutlich nicht nur sein
Buch, sondern auch sein Leben.
Welches Fazit kann man ziehen aus so ei-
ner Geschichte? „Ich bedauere“, schreibt
Woody Allen am Ende, „dass ich so viel
Raum auf die falschen Anschuldigungen
gegen mich verwenden musste, aber die
ganze Situation war dem Schreiben un-
term Strich eher zuträglich, fügte sie doch
einem ansonsten ziemlich gewöhnlichen
Leben ein faszinierendes dramatisches
Element hinzu.“ david steinitz
Eine Kritikerin bezeichnet
das Buch als die widerlichsten
Memoiren seit „Mein Kampf“
Hier und da gibt es kleine
Erleichterungen, aber kaum
gezielte Maßnahmen
Uderzo war ein großer
Menschenzeichner.
Die Gallier – das sind wir
Literatur
Instabile Grenzen, Klimawandel und
Pandemien: Kyle Harper über
den Untergang Roms 12
Wissen
Besser jetzt aufhören:
Rauchen erleichtert
Sars-CoV-2 den Angriff 14
http://www.sz.de/kultur
Ein Pizzabäcker
ist kein Pianist
Das Hilfspaket der Regierung
hilft den Künstlern – ein bisschen
Die Trennung von Mia Farrow
endete in einer „Metzelei
napoleonischen Ausmaßes“
Ganz Gallien weint
Der französische Comic-Zeichner Albert Uderzo ist gestorben. Ohne ihn
gäbe es weder Asterix noch Obelix – und ihre herrlichen Knollennasen
Woody Allen mit Tochter Dylan auf dem Arm, rechts seine damalige Freundin Mia
Farrow und ihre Kinder auf Besuch in Sankt Petersburg. FOTO: GLOBE PHOTOS / MEDIAPUNCH
„Pessimistisch bis in die Haarspitzen“
Woody Allen hat seine Autobiografie geschrieben und verteidigt sich gegen den Vorwurf, er habe seine Tochter sexuell missbraucht
Er sammelte Ferraris und
zeichnete, erst mit über achtzig
gab er die „Asterix“-Reihe ab
FEUILLETON
HEUTE
Albert Uderzo 1927–2020.FOTO: SEBASTIEN SORIANO/LE FIGARO/LAIF