Berliner Zeitung - 25.03.2020

(Joyce) #1

Politik


4 * Berliner Zeitung·Nummer 72·Mittwoch, 25. März 2020 ·························································································································································································································································································


NACHRICHTEN


Sexueller Kindesmissbrauch


starkangestiegen


DieZahlderpolizeilichregistrierten
Straftatenistimverg angenenJahr
erneutgesunken.Dasgehtausder
Kriminalstatistikhervor,diedas
Bundeskriminalamt(BKA)am
Dienstagveröffentlichte.Danach
wurden 2019 bundesweitrund5,
MillionenStraftatenvonderPolizei
erfasst. DasentsprichteinemRück-
gangum2,3Proz entgegenüber
demVorjahr.DieZahlderFällevon
sexuellemKindesmissbrauchlagim
verg angenenJahrmit13670regis-
trierten StraftatenumfastelfPro-
zentüberdemWertvon2018.Die
ZahlderpolizeilichenErmittlungs-
verfahren wegenVerbreitungkin-
derpornografischerSchriftenstieg
sogarumknapp65Proz entan.
(dpa)


Haftstrafen gegen Neonazis


der „Revolution Chemnitz“


MehrjährigeHaftstrafenfürdieNeo-
nazisder„RevolutionChemnitz“:Im
Proz essumdierechtsextremeTer-
ror-VereinigunghatdasOberlandes-
gericht Dresden(OLG)dieachtAn-
geklagtenzuFreiheitsstrafenzwi-
schenzweiJahrenunddreiMonaten
biszufünfeinhalbJahren verurt eilt.
DamitwurdeamDienstagdieunter-
schiedlicheTatbeteiligungderMän-
nerzwischen22und32Jahrenge-
ahndet.DerSenatsahbeiallendie
Mitgliedschaftineinerterroristi-
schenVereinigungalserwiesenan
undnurbeimRädelsführerauchdie
Gründung.(dpa)


Sozialbeiträge können bis


Mai gestundetwerden


DieArbeitgeberinDeutschland
müssenimFalleinerfinanziellen
NotlagewegenderCorona-Krisezu-
nächstkeineSozialversicherungs-
beiträgeabführen.AufAntragdesAr-
beitgeberskönnendieBeiträgestatt-
dessenbisMaigestundetwerden,er-
fuhrdieDeutschePresse-Agentur
amDienstaginBerlinausKreisen
derSozialversicherungsträger.(dpa)


Schutzmasken inKenia


spurlos verschwunden


BeiderLieferungvonsechsMillio-
nenSchutzmaskennachDeutsch-
landgegeneineweitereVerbreitung
vonCorona-Infektionenhateseine
Pannegegeben.DieMaskender
SchutzstufeFFP2seienaufeinem
FlughafeninKenia„spurlosver-
schwunden“,berichtetederSpiegel
amDienstag.DieBeschaffungvon
dringendbenötigtemmedizini-
schemMaterialinderCorona-Krise
istunterFederführungdesBeschaf-
fungsamtesderBundeswehrorgani-
siert.(dpa)


Abi ohne Abschlussprüfung


in Schleswig-Holstein


Schleswig-Holsteinplantalserstes
BundeslandeineAbsageallerSchul-
abschluss-Prüfungeneinschließlich
desAbitursindiesemSchuljahr.Sie
haltedieseEntscheidunginderder-
zeitigenSituationfürgeboten,sagte
BildungsministerinKarinPrien(CDU)
amDienstag.DieSchülersollenstatt-
dessenAbschlusszeugnisseaufBasis
bisherigerNotenerhalten.(dpa)


China hebt Beschränkung


für Provinz Hubei auf


InChinawirddienach Ausbreitung
desneuartigenCoronavirus ver-
hängteAbriegelungderProvinzHu-
beiweitgehendaufgehoben.Gesun-
denBürgernistesab Dienstagum
Mitternacht(Ortszeit)erlaubt,die
Provinzzu verlassen,wiedieörtli-
chenBehördenankündigten.Hubei
giltals AusgangspunktderPande-
mie,dieProvinzwarzweiMonate
langvonderAußenweltabgeschot-
tet.(AFP)


Verlassene


Senioren,


totimBett


DramatischeLagein
SpaniensAltenheimen

VonMartin Dahms, Madrid

I


nMadridistamDienstagderPala-
cio de Hielo –der Eispalast –zur
Leichenhalle umfunktioniertwor-
den. Eigentlich ist das einEinkaufs-
und Freizeitzentrum mit Eisbahn.
Aber die Bestattungsinstitute und
Krematorien derHauptstadt kom-
men mit derrasant steigendenZahl
derCorona-Totennichtmehrmit.
DieZahlen für Spanien vom
Dienstag: 39 673 positivGetestete.
2696Tote.2626PatientenaufInten-
sivstationen.DieZahlderpositivGe-
testeten ist kaum aussagekräftig,
weilzu weniggetestetwird.DieZahl
der Intensivpatienten wächst jeden
Tag. Auch die Zahl der Toten steigt,
aber immerhin mit inzwischen
leicht abnehmenderRate.War sie
am Sonnabend imVergleich zum
Vortagnochumgut32Proz entange-
stiegen, waren es zuletzt 23,5Pro-
zent.DieKurvebeginntabzuflachen.
EsisteinsehrdünnerLichtstreif.

FluchtausAngstvorAnsteckung
Ganz schlimm ist die Lage in den
Pflegeheimen.AmMontaghatteVer-
teidigungsministerinMargarita Ro-
bles berichtet, dass dieMilitärische
Notfalleinheit (UME) der Armee 74
Altenheime im ganzen Land aufge-
sucht habe.Ineinigen Fällen seien
„absolutverlassene,wenn nicht tot
inihren BettenliegendeAlte“gefun-
denworden.DieUME,diesonstbei
Naturkatastrophen aktiv wird, sollte
dieHeimedesinfizieren.
Seit Tagen kommenMeldungen
vonmassenhaftenTodesfällen aus

Trauernde bei der Bestattung eines Coro-
na-Toten in Madrid AFP

Altenh eimen. Im Madrider„Monte-
hermoso“starbenbisher18Bewoh-
ner,75w eiterestecktensichan.Das
Personal ist überall überfordert.
VielePflegerhabensichinfiziert,an-
deresollenausSorgevorAnsteckung
geflohen sein, derRest arbeitet bis
zur völligenErschöpfung.DieNetz-
zeitung El Confidencial berichtete
voneiner Altenpflegerin inVillanu-
evadel Pardillo,die am Dienstag-
morgen vergangenerWocheihr eAr-
beit angetreten hatte und amFrei-
tagnachmittagnachHauseging.
EinHandyvideozeigtden Flurder
Notaufnahme desMadrider Kran-
kenhausesInfanta Leonor,woP ati-
entenaufLakenaufdemFußboden
liegen. DasregionaleMadrider Ge-
sundheitsministerium bestätigte,
dassesdortamF reitagabend„punk-
tuell“einengroßenZustromanP ati-
enten gegeben habe.Mittlerweile,
nach derEröffnung einesNotfallla-
zaretts für bis zu5500 Patienten in
den Madrider Messehal len, sei die
Lageetwasentspannter.
Nichtnur Betten, Beatmungsge-
räte,Schutzmaskenwerden knapp,
sondernauchMenschen, die sich
um die Kranken kümmernkönnen.
BisDienstag hatten sichrund 5400
ÄrzteundPflegermitdemCoronavi-
rusangesteckt.
Werdie Kurven der Corona-To-
desfällevergleicht,kommtschnellzu
dem Schluss,dass die Entwicklung
inSpaniennochdramatischeristals
diein Italien.DorthattedieKriseet-
was früher begonnen, dieGesamt-
zahlensinddeswegenhöher.

Bewegungsprofileund Testautomaten


WieesS üdkoreageschaffthat,dieEpidemieohneAusgangssperrenzubremsen


VonJulia Grass

U


mdie Verbreitung des
Coronavirus zuverlang-
samen, setzt ganzEu-
ropaauf Kontaktverbote
oder Ausgangssperren.Vorbild ist
China, das durch einen massiven
LockdowndasVirusjetztnacheige-
nen Angaben unterKontrolle hat.
DochesgibteinBeispieldafür,wiees
auchandersgeht:Südkorea.
Südkorea lagvorwenigen Wo-
chenaufPlatzzweideramstärksten
vonCorona betroffenen Länder,di-
rekt nach China.Noch am 29.Fe-
bruar wurden mehr als 900Neuin-
fektionen gemeldet.Innerhalbvon
nur dreiWochen sank dieZahl ver-
gangeneWoche auf etwas über 70.
Auch die Sterblichkeitsrate ist mit
etwaeinemProz entrechtgering.Im
weltweiten Corona-Vergleich liegt
das Land mittlerweile nur noch auf
Platzacht.Unddas,obwohlesdich-
terbesiedeltistalsDeutschland.

ShoppingMallsbleibengeöffnet
SüdkoreaistimGegensatzzuChina
eineDemokratie.Undeshatbislang
nie eineAusgangssperreverhängt.
„Wir finden, dass ein Lockdown
keine vernünftige Lösung ist“, sagte
KimWoo-Joo ,einVirologederKorea
University ,dem Wissenschaftsma-
gazin Science.Südkoreaverzichtet
weitgehend auf Freiheitsentzug.
Zwar wurden Schulen geschlossen.
Restaurants,Geschäfte und Shop-
pingMallsaberbliebengeöffnet.Ein
AusgangsverbotfürdieBevölkerung
gibtesbislangnicht.
Wiehat es das Land also ge-
schafft, dasVirusunter Kontrolle zu
bekommen?

ErstenstestetesvielmehrMenschen
als Deutschland. Science berichtet,
Südkorea habe schonTests entwi-
ckelt, als dasVirusnoch kaum in
Umlauf war .Etwa 12000Menschen
werden im Schnitt täglich getestet,
etwa84000proWoche–imVerhält-
niszur Gesamtbevölkerungfastdrei-
mal so viele wie inDeutschland.
Möglichwirddaszum Beispieldurch
Testautomaten oderDrive-through-
Teststationen: Südkoreaner fahren
im Auto durchZeltstationen. Dort
bekommensiestattBurgerund Cola
einenRachenabstrichvonmedizini-
schemPersonaldurchsAutofenster.
Anders alsDeutschland, wo fast
nurbei SymptomenoderKontaktzu
Infizierten getestet wird, testet Süd-
koreadiebreiteMasse.Fälltein Test
positiv aus,ermitteln dieBehörden
alle Kontaktpersonen desBetroffe-
nen und stellen gezielt unterQua-
rantäne.Soe rkennt Südkorea auch
symptomfreie Fälle.Ess ind unter
anderem diese,die Länder wieSpa-
nien oderItalien überfordern. Als
Grund dafür,dass Italien eine so

hohe Sterblichkeitsquote hat,ver-
mutenExperteneineriesigeDunkel-
ziffer anInfektionen.Diemacht es
quasi unmöglich, denweiteren Ver-
lauf derEpidemie zu kontrollieren.
Andersgesagt:InEuropamüssendie
Menschen auch deshalb zuHause
bleiben, weil die Staaten schlicht
nichtwissen,wodasVirusüberallist.
Südkoreawertet außerdem de-
tailliertDaten aus und nutztInfos
per App. Diebei den Tests gesam-
melten Daten verknüpft es mit aus-
geklügelterDigitaltechnik und mas-
siven EingriffenindenDatenschutz.
Über infizierte Personen werden
teils hochsensibleDaten wie Bewe-
gungsprofile auf demSmartphone
oder Kreditkarten-Informationen
gesammelt.Solässtsichfastlücken-
losnachvollziehen,wosicheinInfi-
zierterwannaufgehaltenhat.
PerAppversendenBehördenund
RegierungdannHinweiseandieBe-
völkerung. Patienten werden grob
anonymisiert–derNamewir ddurch
eine Nummer ersetzt, Geschlecht
und Alter bleiben erhalten. Sämtli-

cheOrte ,andenendieinfiziertePer-
sonwar ,werdenaufgelistet.Derbri-
tischeGuardianhateinenEinblickin
solche SMS erhalten: „EineFrau in
den 60ernwurde gerade positiv ge-
testet“,heißtesetwa,„klickenSieauf
den Link, um eine Liste der Orte zu
erhalten, die sie besucht hat.“Trotz
AnonymisierungseieneinigeBetrof-
feneidentifiziertundim Internetde-
nunziertundbedrohtworden.
DieRegierungschicktauchtäglich
Hygiene-HinweiseaufdieSmartpho-
nesundpropagiertmitLautsprecher-
durchsagenundPlakaten,dieHände
zu waschen.Nicht zuletzt sind die
Südkoreaner angehalten, soziale
Kontaktezumeiden.
DassSocialDistancingbesonders
dann funktioniert,wenn es schon
immerpraktiziertwurde ,zeigeauch
Japan, berichtet die österreichische
ZeitungStandard.Obwohldichtbe-
siedeltundmiteinemhöherenSeni-
orenanteil als überall sonst auf der
Welt, verzeichnet es erstrund 1000
Infektionsfälleund41Tote.AuchJa-
pan hat keineAusgangssperre. Ge-
testet wirdnur bei schwerenSymp-
tomen. Dagegen gehörtSocial Dis-
tancing zurKultur.Zur Begrüßung
gibt man sich nicht dieHand, son-
dernverneigt sich.Undschon Kin-
derlernenkonsequenteHygiene.
EuropaliegtmitKontaktverboten
und Ausgangssperren nicht falsch.
Auch in Südkorea undJapan halten
die Menschen Abstan dzueinander.
DerUnterschied:Sietunes freiwillig.

Julia Grass
hofft, bald wieder mehr
Freiheiten zu haben.

Entwicklung der COVID-19-Fälle ...


35 000

30 000
25 000

20 000
15 000
10 000

5000
0

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30 000
25 000

20 000
15 000
10 000

5000
0

in Deutschlandrund 83 Mio. Einwohner in Süd-Korearund 52 Mio. Einwohner

BLZ/GALANTY; QUELLE: JOHNS HOPKINS UNIVERSITY, STAND 24. MÄRZ, 19 UHR


  1. Januar 24. März 27. Januar 24. März


9037

32 781

KosmetischeSeuchenbekämpfung


FürRusslandsPräsidentWladimirPutinscheintdasCoronavirusinersterLinieeinpolitischerFaktorzusein


VonStefan Scholl, Moskau

D


ie russischenMilitärflugzeuge,
die Ärzte und medizinisches
Gerät in das schwervomCoronavi-
rusgetroffeneItalien flogen, hätten
einen Umwegüber Sotschi machen
müssen, schrieb dieZeitung Mos-
kowski KomsomoljezamD ienstag.
Polen soll seinenLuftraum für die
russische Luftwaffe gesperrthaben.
„DasiststaatlicheNiedertracht“,er-
bostesichSenatorAlexejPuschkow.
„Umsomehr,alsdiese Hilfefüreinen
EU- und Nato-Verbündeten be-
stimmtwar.“
Dass Russlands Militär in einem
Nato-Land agiert, ist angesichts der
schweren politischen Spannungen
zwischenMoskau und demWesten
eine kleineSensation. AmDienstag
landetendreiweitereFlugzeugedes
Typs Iljuschin Il-76 in der Nähevon

Rom,wiedieStaatsagenturTassmel-
dete.Damitsindnun14Maschinen
mit medizinischerAusrüstung nach
Italienverlegtworden.
In Russland wirddie Hilfsaktion
als Bewe is eigener moralischer
Überlegenheitgefeiert–undals Be-
weisdafür ,dassder Staatim Gegen-
satzzumWestengegendasVirusge-
wappnet ist. Kremlsprecher Dmitri
Peskowversicherte,die Hilfe für die
Italiener habe nichts mit demBe-
strebenRusslands zu tun, die EU-
Sanktionen gegenRussland zu be-
seitigen.„VonirgendwelchenBedin-
gungen,Hoffnungen odervonBe-
rechnung kann keineRede sein.“
Allerdings würden dieSanktionen
angesichts derPandemie und der
globalenWirtschaftskrise die Lage
nurnochverschlimmern.
Kritische Beobachter glauben,
dass Moskau mit der Italienhilfe

„Das Ziel ist, Misstrauen gegen na-
tionale und europäischeBehörden
und Gesundheitssysteme zu säen.“
Gegenüber dem russischenPubli-
kum werdedasVirusals Form aus-
ländischerAggressiondargestellt.Es
stamme aus US-Laboratorien, treffe
aber vorallem demokratische Län-
der,während RusslanddieKrankheit
erfolgreichbekämpfe,heißees.
NachoffiziellenAngabensindbis-
her495 Russeninfiziert,keineristam
Coronavirus gestorben. Landesweit
sind die meisten Schulen geschlos-
sen. Aber selbst inMoskau, wo über
dieHälftederFälleregistrier twurden,
sind Cafés undEinkaufszentren ge-
öffnet, und Verkehrsmittel fahren
normal. NurMoskauerüber65müs-
senzu Hausebleiben.Russlandwolle
dieEpidemiemitkosmetischenMaß-
nahmen bekämpfen, schreibt die
PublizistinJuliaLatynina.

durchausPolitikmachenwill.„Viele
Leute fragen, warum wirItalie nun-
terstützen und nichtSibirien und
den Ural.Schutzmasken sind aus-
verkauft,esmangelt an Ärzten, an
medizinischemGerät, vorallem in
derProvinz“,sagtederOppositions-
politiker Wladimir Ryschkowder
Berliner Zeitung. „Offenbar speku-
liertunsereFührungaufdiePopulis-
ten in Romund darauf, dassItalien
inderEUdieAbschaffungderSank-
tionenzurDiskussionstellenwird.“
Auch in der EU bestehenZweifel
an Moskaus Selbstlosigkeit.DerEu-
ropäische AuswärtigeDienst wirft
kremlnahen Medien vor, täglich
DesinformationenzumCoronavirus
zuverbreiten:Meldungenfürdasin-
ternationalePublikum konzentrier-
ten sich aufVerschwörungstheorien
überglobaleEliten,diedasVirusan-
geblich für eigene Zielenutzten.

Eimer voller Medizinabfälle aus der Behandlung von Corona-Patienten in einem Krankenhaus im südkoreanischen Daegu AP/LEE MOORYUL
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