Frankfurter Allgemeine Zeitung - 08.04.2020

(Ann) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Geisteswissenschaften MITTWOCH, 8.APRIL 2020·NR.84·SEITE N3


V

or fünfzig Jahren,
vom6.bis zum 11.
April 1970,tagtein
Köln der 12. Deut-
sche Kunsthis tori-
ker-Kongress.Indie
Geschichte des
Fachsist die Veran-
staltung alsAustragungsorteiner Kontro-
verseeingegangen, in der zwei Generatio-
nen vonKunsthistorikern sichmit un ver-
einbaren Positionengegenüberstanden.
Im Zentrumstand dievonLeopold Ettlin-
gerund MartinWarnke geleitete Sektion
„Das KunstwerkzwischenWissenschaft
und Weltanschauung“. Warnke hat die
Vorträge wenig später publiziertund auch
die Diskussionsprotokoll edokumentiert.
Die als „affektgeladen“ beschriebene At-
mosphäre kommt in den Mitschriftenleb-
haftzum Ausdruck.„Als schlechten
Scherz“, so berichtete „Der Spiegel“,
„empfandendie Gelehrtenden Versuch,
statt ehrwürdiger Bilder,Statuen undKa-
thedralen aucheinmal dieVerfahrenswei-
senihrereigenenDisziplinsamtdenpoliti-
schen Hintergründen zu untersuchen.“
Schon die ersteWortmeldung zum ers-
tenVortrag dokumentierte den Unwillen
des Frages tellers, sichdurch Argumente
auf dasVorgetragen eeinzulassen. In sei-
nem Beitragzur Rezeptionsgeschichte
vonBerninis „HeiligerTherese“ hatte
Winfried Rankedie Tendenzder Interpre-
tenbeschrieben, in derVerehrung für das
zeitlos Gültigedes Werksdie Bedingun-
gendes eigenen historischen Standorts zu
vergessen.WarumRankedenn keine Dia-
positivegezeigt habe,wolltederFragestel-
ler wissen–eine Ermahnung,statt über
Grundsätze des Fachsnachzudenken,
dochbittezumkunsthistorischenNormal-
betrieb zurückzukehren. DasselbeUnver-
ständnisoffenbarte die anschließende
Wortmeldung: „Herr Ranke, nun machen
SIE mal eine Beschreibung“, wurde der
Vortragende aufgefordert–als sei dessen
Kritik an tradiertenRezeptionsritualen
derunlautereVersuchgewesen,sichvorei-
genen Beschreibungenzudrücken.
Der Vorschlag vonBerthold Hinz,den
„BambergerReiter“ alsWerk „nicht der
Gotik ,sonderndes zwanzigsten Jahrhun-
derts“ inAugenschein zu nehmen, sorgte
für weiteren Unmut.Ins einer Zusammen-
schau derkunsthis torischen Literatur hat-
te Hinz demonstriert, wie die Interpreten
die Skulptur widerbesseresWissen zu-
nächs tzum AusdruckdeutschenWesens
stilisierten, um anschließend zufolgern,
dassnur ein Angehöriger der deutschen
Volksgemeinschaftimstande sei, dasWe-
sen dieses Meisterwerkszuerfassen. Hinz
erinnerte daran, dassdiese Denkfigur ihre
AnfängeamAusgang des neunzehnten
Jahrhundertsgenommen hatte, aber auch
indenspätenfünfzi gerJahrennochselbst-
verständlichinAnschlaggebracht wurde.

GeschichtederKunstgeschichte
ohneNamen
Noch näherandie Beschreibungspraxis
derGegenwartführteschließlichWarnkes
Vortrag„WeltanschaulicheMotiveind er
kunstgeschichtlichenPopulärliteratur“. In
größterKlarheitdemonstriertederVortra-
gende anhand populärerWerkbeschrei-
bungen, wie denAutorendas Schreiben
überKunstunterderHandzuZ ucht exerzi-
tien geratenwar,indenen autoritäreMus-
tervon Herrschaftund Unterordnung
überlebten .DenInt erpretenalterundneu-
er Kunsterschienen dieWerkevornehm-
lichals Ausdruckvon Strenge,Zwang und
innere rNotwendigkeit.Noch eineschein-
barsachlicheBeschreibungdesKönigspor-
talsvonChartresmussteein„beherrschen-
des Zentrum“ ausmachen, amNaumbur-
gerDom sollten sichdie Einzelformen der
Skulptur dem „Ganzen unterordnen“.
Die Kritik,die de nVortragendenaus
dem Auditorium entgegenkam, folgte
meist demselbenMuster. Man versuchte,
sichüberdieNebenwege der Polemik einer
inhaltlichen Diskussion zu entledigen. Die
Zitate, hieß es, seien aus demZusammen-
hanggerissen,manhabeunbedeutendeAu-
toren„bis herunterzuVolksschullehrern“
zitiert,sichselbstgerecht in Szenegesetzt
und die saubereWissenschaftinMisskre-
dit gebracht .Überdies erinnere die Mach-
artderVorträge ankabaretthafteEinlagen,
wie man sienur vonInstitutsfestenanKar-
nevalkenne.Aufschlussreicher warda
schon der Hinweis einesalterndenKolle-
gen,seineGenerationseiebe ninderÜber-
zeugung erzogenworden, da ss im Anblick
der Werkeallesverblasse oder zum Ge-
schwätzverkomme. Erstsehrviel s päter
wurde bekannt, dass zu den Effekten die-
ser Erziehungindiesem Fall auc hder Ein-
trittindieSAundspäterdieNSDAPgehör-
te.DieheftigenReaktionenkonntenimÜb-
rigennicht darüber hinwegtäuschen,dass
die zitiertenBeschreibungenvonführen-
denVertreterndesFachsstammten,vonde-
nen nichtwenigeimAuditorium saßen.
Einervonihnen warWillibaldSauerlän-
der.„AufdemTreffeninKöln“,soerinner-
te er sic hvor wenigen Jahren, „erlaubte
sichWarnk ekeine Gefühlsausbrüche.
OhneNamen zu nennen, ohnePersonen
zu denunzieren und zu beschuldigen, nur
durch namenlose Zitatestellteereine
kunsthis torische Ekphrasis bloß,welche
die ästhetischeWertung mit Gewalt und
Zwang,Unterordnung und Macht ver-
mählte.“ Im historischenAbstand nahm
Sauerländer eine differenzierte, auch
selbstkritische Haltung ein.Zunächs tbe-
schrieb er indes in der „Kunstchronik“,
derZeitschriftdesvonihmgeleitetenZen-
tralins tituts fürKunstgeschichte in Mün-
chen,diefraglicheSektionals„unoriginel-
len Übertragungsversuchaus anderenGe-
bietenderWissenschaftaufdenArbeitsbe-
reichderKunstgeschichte“undmeinteda-
mit die „gesellschaftskritischen,garmar-
xistis chen Analysen“ der jüngerenKolle-
gen.Im Unte rschiedzuvielenanderensah
Sauerländeraber schon damals klar,dass
die Studienzeit derReferenten in eine
„Phase derkunsthis torischen Arbeit“fiel,
die durch eine „Spezialisierung der Sach-

forschung bei fastvölligerAbsenz der Me-
thodendiskussiongekennzeichnetwar“.
Das alles istlangeher.Viele der Prot-
agonistensind verstorben,Warnk eimver-
gangenen Dezember,Sauerländer im Jahr
zuvor .Wie stellt sichnachfünfzig Jahren
eineBilanz derKölnerDebattendar? In
vielen Punkten hat sichdie kritischePer-
spektivevon damals durchgesetzt .Die Po-
lemik,dieUlrichKellermitseinemVor-
trag über „Rembrandt alsWare“erntete,
weiler die populärwissenschaftlicheRem-
brandt-Rezeptionals Echo der akademi-
schen Kunstgeschichte beschrieb,wäre
heutekaum mehrdenkbar.

Die Legendevom
Künstlerrebellen
Die Kunstgeschichte hat sicherweitert
und ausdifferenziert, die außerkünstleri-
sche Bildproduktion istebenso zu ihrem
Gegenstand geworden wie die außereuro-
päischeKunst. ZurZeit derKölnerTa-
gungdominierte auchnochdie Vorstel-
lung, die akademischeKunstgeschichte
müsse eine ArtSicherheitsabstand zur
Kunstproduktion der eigenenZeit wah-
ren. Dahinterstand die Ideevomhistori-
schen Reifungsprozessder Kunst, die wie
ein gutes StückFleisch zuerst im Vorraum
der Geschichte abhängen musste, be vor
man sichein Urteil zutrauenkonnte. Die-
se Fiktion einer neutralenWissenschaft-
lichkeithat sic hnicht haltenkönnen.

Ein Generationenkonflikt wie 1970 ist
gegenwärtig nicht erkennbar. Die Dro-
hung mit Klagen, wie sieWarnke mehr-
fach errei chte, gehörtnicht mehr zumRe-
pertoirewissenschaftlicherAuseinander-
setzung,überhauptistdieSchärfe derPole-
mik verschwunden.Diese positiveBilanz
beschreibt die Lageaber nur unvollstän-
dig. Es istnicht leicht zu entscheiden, ob
die neueFriedlichkeit Ausdruck endlich
erreichterToleranz istoder die schlechte
Unendlichkeit einervon„turn“ zu „turn“
mitlaufenden Wissenschaft. Ausdruck
vonPluralismusoder allgemeinerIndiffe-
renz und Betriebsamkeit im Leerlauf?
Einigesvondem,wasinKölnzurDebat-
te stand,wäreheutenochaktuell,mit an-
deren Zielsetzungen.WarnkesBeschrei-
bung derKunstgeschichte alsFach,„in
demman nochimmer gernefür ‚Kunstkri-
tik‘ –‚Kunstbetrachtung‘ setzt“,kommt ei-
nem nochimmernicht fremdvor. Im Be-
reichder Gegenwartskuns tmussein nicht
geringer Teil der Textproduktion als
Dienstleistungverstanden werden. Eine
„sprachkritische Untersuchung“, wie
Warnke sievornahm,wäreauchhierange-
bracht, ihr Gegenstand hat sich allerdings
radikalverändert. Kriti kanautoritären
Sprachmusternmussheutenichtlängerge-
übt werden. Der Jargon hat sich beinahe
ins Gegenteilverkehrt. Tautologisch wird
die Widerständigkeit derKunstbeschwo-
ren: DasKunstwerkwidersetzt sich, ent-
larvt und unterläuft.Als Grundeinstel-

lung istdas zweifellos sympathischer als
die vonWarnk ebeschriebenen Zuchtexer-
zitien. Eine fundierte Kritik derKunst
fällt paradoxerweise aber auchhier aus,
weil man dieKunstper se zur Sache der
Subversion erklärt–als sei ihr kritisches
Potential seit denAvantgarden auf Dauer
gestellt und müsse im Einzelnennicht
mehr argumentativ begründet werden.
Eine andere Variantezeitgenössischer
Kunstscheintdie Verabschiedungvom
Modusder Kritik schonvonsichausnahe-
zulegen: die Suche nachEntspannungin
der Immersion. Der Betrachter sollaktiv
ins Werk einbezogenwerden. Sein reflek-
tierterAbstand zumWerk,früher notwen-
digeBedingung der Kunstbetrachtung,
gilt nun als Hindernis auf demWegzum
unmittelbaren Erleben. An dieStell evon
Kritik tritt die Affirmation, das Eintau-
chen, Mitmachen und Dabeisein,mithin
derselbeImperativ,der in allen anderen
Räumen derKonsumption auchgilt.
Kunstgeschichte, so hatteHinz in Köln
bemerkt, gibt „notwendig auchAuskun ft
über dengeschichtlichen Ortihrer Metho-
dik“. Eine Selbstbefragung, wie sievor
fünfzig Jahren unternommenwurde, wäre
heutewieder angebracht.Warnke hatte
daran erinnert, dassKunstwerke „niemals
Objektesind oderwaren, denenwertfrei
und interesselos begegnetwordenwäre,
sonderndassihnen jede Generation im-
mer auchdas antut,wassie sic hselbstan-
tut“. PETERGEIMER

Die Publikation des voluminösen
Spätwerks„Auch eine Geschichte der
Philosophie“vonJürgenHabermas
(F.A.Z.vom9.November 2019)stellt
unbestritten ein philosophisches Er-
eignisdar.Dasseinöf fentlichsowirk-
mächtiger Philosophzum krönenden
Abschlus ssoetwas wie eine Gesamt-
schau entfaltet,ist auchfür jene ein
Glücksfall ,die seinePositionennicht
in jeder Hinsichtteilen. Die eigentli-
cheNeuigkeit zeichnetsichindes
nicht auf inhaltlicher Ebene ab. Denn
die Ausdifferenzierung derVernunft
schreitetinderDarstellungdesVerfas-
serserwartungsgemäß in geradezu
gleichmäßig anmutenden Schritten
auf jenen Punktzu, den er mit der ei-
genen Positionmarkier that.Um-
ständlicheNebenwege sind hier nicht
nötig. In einem Interviewmit dem
„KölnerStadt-Anzeiger“ hat Haber-
massoebenerläutert,warumerNietz-
sche nicht berücksichtigt hat:„Ichin-
teressieremicheigentlich nur noch
für einen bestimmtenAspektseiner
Wirkungsgeschichte–und zwar für
die fatale Neigungmancher Philoso-
phen,verdrängtereligiöse Erfahrun-
genins Ästhetischegewissermaßen
zu sublimieren.“
Überraschender als der Inhalt ist
die Form,denn die titelgebende „Ge-
schichte“ hat narrativeQualitäten.
Wenn Habermasdie Leser ins nördli-
cheGangestal führtund dortdie mit
Suspensegeladene Geschichtevom
Aufstieg des Buddhismus erzählt,
hörtman das Lagerfeuer knistern:Ja,
so wardas damals mit der Brahma-
nen-Kaste und dem erwachten Prin-
zen Siddhartha Gautama. Das sind
wissenssoziologischeRäuberpistolen,
die man immerwiedergerne hört.
Erstaunlichbleibt, dassHabermas
diesenÜbergangzurnarrativenPhilo-
sophie im Titel ankündigt undgleich-
wohl im Textzurückweist.Paradigma-
tischdeutlic hwirddies in der Artund
Weise,in derermit HansBlumenberg
verfährt. Dieser wirdgelobt für den
AufweisdesArguments, dassdie Neu-
zeit ihreLegitimationaus sic hselbst
schöpfenkönne. In der Auseinander-
setzung mit CarlSchmitt undKarl Lö-
with istBlumenbergein gerngesehe-
ner Bundesgenosse, der jedoch, wie
Habermas kritischanmerkt, negativ
aufdenMonotheismusalsKontrastfo-
lie fixiertgewesensei. Immerhin, so
Habermas, habeBlumenberg„die Le-
gitimität derNeuzeit gegenüber allen
Konstruktionen einer Verfallsge-
schichte als eine dank besserer Argu-
menteerstrittene Entkoppelungvon
ihren geschichtlichen Bindungenver-
teidigt“. Dochhier endetder Satz
nochnicht. Er setzt sichhinter einer
Klammer mit dem Hinweis fort,Blu-
menberghabe all dies getan, „um
dann freilichselbstindie Rhetorik ei-
ner ‚Arbeit am Mythos‘ auszuweichen
...“Als Tigeroder mit Sibylle Lewi-
tscharoffvielleicht als Löweder Auf-
klärunggesprungen,alsFaulbettvorle-
gerdes neuenMythos gelandet.
DieseEinschätzung erstaunt nicht
nurinihrerKürze. WennmanderMei-
nung ist, Blumenbergsei nach dem
Neuzeit-Buchirgendwannfalschabge-
bogen,könnteman dies durchausaus-
führlicher begründen. Istdie Frage
nachder Vernunftdes Mythos,dem
IneinandervonArgumenten und Er-
zählungen, so abwegig?Habermas
selbst betreibt nicht nur einenarrati-
ve Philosophie, sondernräumt aus-
drücklichdie Legitimitäterzählender
Interessenartikulation im demokrati-
schen Prozess ein. In der empirischen
Deliberationsforschung heißt das
„Storytelling“: Marginalisierte Grup-
pen müssen sichnicht vonAnfang an
in geschliffenen Plädoyers äußern
und ausformulierte Gesetzesvorschlä-
gezurAbstimmungstellen, sondern
könnenersteinmal erzählen,wassie
erleben undwasihnen widerfahren
ist. So manches Argumentkommt zu-
nächs timGewand einer Geschichte
daher, ja womöglichkann es sichvon
diesen Hüllennie frei machen.
DassHabermasBlumenbergsVer-
suche,solchemythomorphenFormen
vonVernunftgenauer zuverstehen,
einfac hals Rhetorikabtut, entbehrt
nicht einergewissen Ironie. Dennge-
radedieLeitdifferenzvonbloßerRhe-
torikeinerseits und echterVernunft
andererseits istaus Blumenbergs
Sicht inFragezustellen.Dassschon
Platons Kritik der Rhetorikmit recht
groben rhetorischen Mitteln arbeitet,
istlängsteinGemeinplatz.Ausgerech-
netBlumenberg,der da vorwarnte,
der Vorwurfder Rhetorikkönnezum
Exklusionstrickwerden, musssich
nun vonHabermas sagen lassen, er
habe sichinRhetorikgeflüchtet.
Eigentlichlägeesnahe,die Pointe
des titelgebenden„Auch“ mit Blu-
menberg zu erläutern. Denngenau
im Modus einessichselbstrelativie-
rendenVorschlagens, einesAnsin-
nens, wieKant formulieren würde,
tritt auch Blumenberg in „Arbeitam
Mythos“ auf.Sokönnteesgewesen
sein, gibt er zuverstehen,wenn er
über den frühen Menschen speku-
liert. Undsowäredenn auchdie Ge-
schichtevon JürgenHabermas eine
mögliche Art,voneinerSache zu er-
zählen,die wiralsGanzesnievorAu-
genhaben können.Man könnteauch
eine andereGeschichte erzähl en –
ein andermal. FELIX HEID ENREICH

Und wobleiben


die Diapositive,


Her rWarnke?


Noch immerräumtendie Kunsthistorike rdem


Gutenund Schönenden lee renPlatzüberm Katheder ein,


als sievorfünfzig JahreninKöln zusammentraten.


Seit dieserTagung istdas Fach ein anderes. Di edamals


vorgetragene Kritik an denRoutinender Kunstbetrachtung


istheute unter veränder temVorzeiche nwiede raktuell.


Derfing


ja gutan


Habermasals Erzähler


Die disputierenden Prophetenander Chorschrankedes BambergerDoms bleiben „in der Haftder ornamentalgesteuerten
Linie“: DieseFormulierung zitierte MartinWarnke in seinemKölner Vortragaus dem 1962 in derReihe der „blauen Bücher“
erschienenenWerk „Deutsche Plastik derFrüh- und Hochgotik“vonAlexanderFreiherrvon Reitzenstein. Im Druckfettete
Warnke die Wörter„Haft“ und „gesteuerten“, um zu illustrieren, dass sichseine Disziplin aus der Gefangenschafteiner autoritä-
renDenkungsartnochnicht befreit hatte.Reitzenstein war1928 vonWilhelm Pinder in München mit einer Arbeit über das Grab
vonPapstClemens II. im BambergerDom promoviertworden; ein Jahr zuvor hattePinder das Buch„Der BambergerDom und
seine Bildwerke“herausgebracht, illustriertmit FotografienvonWalter Hege. FotoZentralinstitut fürKunstgeschichte/VGBild-Kunst, Bonn 2020

Im zweiten Jahr des Peloponnesi-
schen Krieges, 430vorChristus,wa-
rendie spartanischenTruppengerade
inAttikaeingefallen,alszuerstimHa-
fenPiräus, dann inAthen selbsteine
Seuche zugrassieren begann. Ihrfiel,
soschätztman,innerhalbwenigerJah-
re ein Viertelder attischen Bevölke-
rung zum Opfer.Thukydides, der
selbsterkrankte, abergenas,schildert
den Krankheitsverlauf bestechendge-
nau: Fieber,eine Entzündung derAu-
genund ein pustelartiger Ausschlag
begleiteten eine Infektion des Ra-
chens und der Zunge, die in denKör-
per hinabstieg, in die Brust,wo hefti-
gerHustenentstand, in den Magen,
der mit Durchfall reagierte,schließ-
lichindie Genitalien und Extremitä-
ten, die Überlebendeoftverloren. Ein
inneres Brennenverzehrte diePatien-
ten, die Durst littenund keine Kleider
mehr ertrugen. Die meistenstarben
nachsiebenbis neunTagen.
Althistorikerhaben versucht, diese
Epidemie mitPest,Typhus und einer
ganzenReihe viraler Infektionen zu
identifizieren, darunter Masern, Ebo-
la undPocken, aberkeine Diagnose
passt zu dem Symptombild, das Thu-
kydideszeichnet. Man hatvermutet,
den Erregergebe es heute nicht mehr.
Um welche Krankheit es sichauchge-
handelthaben mag, bemerkenswert
ist, dassThukydides ihren anstecken-
denCharaktererkannte.Esgabin der
zweiten Hälfte des fünften Jahrhun-
derts vorChristus schon eineflorie-
rende Medizin, abersiescheint den
Ansteckungswegen keine besondere
Beachtunggeschenkt zu haben.Thu-
kydidesbemerkte sogar ,dassgenese-
ne Patienten Immunitätgenossen.
Er weistder Seuche den Charakter
einer Zäsur zu, indem ervonihr un-
mittelbar nach derRede desPerikles
auf die Gefallenen erzählt.Hartstößt
die zivilisatorischeKatastrophe auf
das Idealbild, dasPerikles vonAthen
entwirft.Die Gegenüberstellung
leuchtetdie Fragilität politischer und
kulturellerErrungenschaftengrell
aus. Schon zu Beginn seinesGe-
schichtswerksführtThukydides die
Epidemie als Belegdafü ran, das sder
Peloponnesische Krieg die bisher
größteErschütterung der grie-
chischenWelt gewesen sei.
Die Darstellungder Seucherelati-
viertauchseinen eigenen historiogra-
phischen Anspruch.Thukydidesver-
spricht den Lesern Nutzen: Dank sei-
ner Aufzeichnung en seien sie imstan-
de,auchzukünftigeEntwicklungen
besser zuverstehen, die aufgrund der
menschlichenNatur so oder ähnlich
wie dievonihm erzählten Ereignisse
ablaufen würden.Will der Historiker
demnachmit seiner detaillier tenBe-
schreibung der Seuche dem Leserdas
Wissen vermitteln, um die Krankheit,
solltesie erneut auftauchen, zuerken-
nen? Kein Heilmittel wurdegefun-
den, keine Möglichkeitausgemacht,
der Krankheitvorzubeugen.
Die politischen Folgen der atti-
schen Seuche sind offensichtlich. Sie
schwächte Athen am Beginn des
KriegsundverringertedieZahlseiner
wehrfähigen Männer drastisch. Ande-
rerseits hielt der Anblickder Scheiter-
haufen die spartanischen Truppen da-
vonab, wiedernachAttikaeinzufal-
len. Auch propagandistisch wurde die
Epidemie ausgeschlachtet. Au fder ei-
nen Seiteinterpr etierte man sie als
ein Zeichen dafür, dassdie Götter die
Spartanerunterstützten,aufderande-
renSeite beschuldigteAthen Sparta,
Brunnenvergifte tund damit die Seu-
cheausgelöstzuhaben.
Vorallem aberbeobachtete Thuky-
dides dieWirkung der Epidemie auf
das soziale Leben:AusFurchtvor An-
steckung hätten sicheinigeAthener
isoliert; vonihnen seien vielegestor-
ben, da sichniemand mehrumsie
kümmerte. Das massenhafteSterben
habe die Begräbnisriten außer Kraft
gesetzt, Leichname seien sogar auf
fremde Scheiterhaufen geworfen wor-
den.Schlie ßlichhabedieKrisedieRe-
ligionunterminiertunddieRechtsord-
nung zersetzt.
Bemerkenswer tist,was Thukydi-
des nicht schreibt. Er bietetnicht nur
keinereligiöseErklärung,wiesieZeit-
genossenvorbrachten, sondern ver-
zichte tdarauf ,die Gründefür die Epi-
demie überhauptzubestimmen.Bei
einem Historiker, der begrifflichzwi-
schen verschiedenenFormen vonUr-
sachen unterschied und es als sein
Kerngeschäf tansah, Kausalbeziehun-
genzuerkennen, istdiese Beschrän-
kung auf einebloße Beschreibungder
Phänomene erstaunlich. Interessierte
ihn nicht,welche Umstände dieVer-
breitungder Seu chebegünstigten?
Der in derrömischenKaiserzeit
über dieselben Ereignisse schreiben-
de Historiker Diodor erwähnt die
kriegsbedingteKonzentration vieler
Menschen in Athen, einenfeuchten
Winter ,der stehendesWasser zurück-
ließ,Missernten,diezueinerungesun-
denErnährungzwangen,unddasAus-
bleibenvon Winden, dieAbkühlung
zubringenpflegten.Thukydidesdage-
gensahdasEinbrechenderSeuchean-
scheinendals ein eKontingenz an, die
über die Athener hereinbrachund
durch ihr Handeln nicht erklärtwer-
denkonnte. JONASGRETHLEIN


Ursache


unbekannt


WarumThukydides die


Seuche nicht erklärte

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