Frankfurter Allgemeine Zeitung - 08.04.2020

(Ann) #1

SEITE N4·MITTWOCH,8.APRIL 2020·NR.84 Forschung und Lehre FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Gibt es eineReplikationskrise in derWis-
senschaft?Im„Merkur“ (Heft849,Febru-
ar2020)behauptet deramerikanischeMa-
thematikerAubreyClayton, dieWelt der
Wissenschaftzerbreche sichderzeit den
Kopf darüber,warum so vieleStudiener-
gebnisse „in Astronomie bisZoologie“
nicht reproduzierbar seien. Bisher hätten
nur einigeWissens chaftler darin einen
Anlassgesehen,potentiell alle bisherigen
Forschungsarbeiten inFragezustellen,
dochvon einer wissenschaftlichenRepli-
kationskrise „in großem Maßstab“ ist
Clayton überzeugt.
Auch Holger Spamann,Rechtswissen-
schaftler in Harvard und derzeitFellow
am BerlinerWissenschaftskolleg, sprach
kür zlichineinem Vortrag unter Berufung
auf Studien wie das „Social ScienceRepli-
cation Project“voneinem „schockierend
hohen Anteil“ empirischer Ergebnisse,
die nichtreplizierbar „und dahervermut-
lichschlicht falsch“ seien. Seit 2012 habe
es jedenfalls in der Psychologiegeradezu
eine Welle vonsystematischenReplikati-
onsstudiengegeben, aber auchähnliche
Studien aus der Krebsforschung zeigten,
dasswir es hier nicht nur mit einem Pro-
blemderSozialwissenschaftenzutunhät-
ten, so Spamann.
Dessen Harvard-KollegeStevenSha-
pin schreibt in der „Los AngelesReview
of Books“ unterdessen, eswäre ja gerade-
zu „pervers“, die aktuelle „Krise der wis-
senschaftlichen Wahrheit“ zu leugnen.

Aber bedeuten Replikationsprobleme
wirklichschon eineveritable Krise?
Natürlic hwar es imFrühjahr 1989 nur
eine Fragevon Wochen, bisweltweit For-
scher teamsfieberhaftversuchten,das sen-
sationelle ExperimentvonFleischmann
und Pons zumNach weis der kalten Fusi-
on nicht nur zu wiederholen, sondern
zum gleichen positiven Ergebnis zukom-
men.BekanntlichwaralldiesenReplikati-
onsversuchen kein Er folg beschieden.
Die Beispiele, die Clayton zur Illustration
seiner Krisendiagnose heranzieht, ent-
stammen anderen Niederungen wissen-
schaftlicher Kreativität.Beanstandet
wirdbeispielsweise das Experimentdes
kanadischen Psychologen AraNorenzay-
an, der 2012 zwei GruppenvonStuden-
tenwahlweise aufRodins Skulptur „Der
Denker“ sowie den antiken Diskuswerfer
vonMyron starrenließ, um daraus zu
schlussfolgern, dassder AnblickvonRo-
dins Werk den Atheismusfördere.
Man könntebei der immerhin in „Sci-
ence“ erschienenenStudie aucheinfach
fragen,welchen wissenschaftlichenWert
solchein Unfug überhaupthat –und da-
mit in derReplikationskrise eher eine Kri-
se der Seriosität so mancher publizierten
Forschung vermuten. ImVergleichetwa
zur Arzneimittelentwicklung mit ihren
striktenRegularien zurReplizierbarkeit
klinischerForschungmangeltesindenSo-
zialwissenschaften schlicht an den institu-
tionellen Anreizen, die Befunde der lie-
ben Kollegen unter dieLupe zu nehmen.

Es sei denn, man isteinem spektakulä-
renPlagiatsfall auf der Spur.Dochgene-
rell stündenreplizierendeKollegenrasch
im Verdacht, mangels eigener Ideen nur
an denFundender anderen herummä-
keln zu können, so Spamann aus eigener
Erfahrung. Reputationsgewinne lassen
sichsojedenfalls nicht einstreichen. Die
Wissenschaftprämiertdas Neue, nicht
das Bestätigen vonAltem.
Experimentewie dievonNorenzayan
zu replizieren erscheint eigentlichnoch
sinnloser,als sie überhauptzuverans tal-
ten. Vermutlichwerden jährlichweltweit
AbertausendevonwissenschaftlichenStu-
dien publiziert, die in dieseRubrik fallen.
Man wirdalso keinesfallsvoneiner Krise
der Wissenschaftsprechenkönnen,was
auchSpamann amWissenschaftskolleg
betonte. Oder wie es Shapin ausdrückt:
Die Suche nachreproduzierbaren wissen-
schaftlichenFakten und Naturgesetzen
mag fürFächer wieKernphysik,Astr ono-
mie oder Hirnforschung sozusagen der
Goldstandardder Forschung sein.Aber
nicht für Seismologie, Politikwissen-
schaf todergardieForschung aufdemGe-
bietder Softdrinkherstellung. Man müss-
te erst einmal fragen,wasvon wissen-
schaftlichen Disziplinen im Einzelnen er-
wartet wird–und wasnicht .Materialfor-
schung, die darüber entscheidet, wieTal-
sperrenoderAtomkraftwerke gebaut wer-
den müssen, hat anderszuarbeiten als
Forschung, die sichmit dem Anstarren
vonSkulpturen beschäftigt.

Man solltedie angebliche Krise der
Wissenschaftalso zutreffender als einRe-
plikationsproblem einzelnerFächer be-
zeichnen und sichdann Gedanken ma-
chen, welche institutionellen Maßnah-
men dem entgegenwirkenkönnten. Clay-
tonsieht wie Spamanneinen Grund in
der Verwendung des heutevorher rschen-
den Standardansatzes zur Beurteilung
wissenschaftlicher Hypothesen: die soge-
nannteSignifikanzprüfung. Sie bringe
viel zu viele „positivfalsche“ Ergebnisse
hervor, es mangele ihr anStrengeund au-
ßerde msuggerieresiesignifikante undpu-
blikationswürdigeZusammenhänge,wo
essic hbestenfallsuminteressanteAuffäl-
ligkei tenhandele.Strenger estatistische
Verfahrenkönnten hierAbhilfeschaffen.
Generell bräuchteesaber ein vielgröße-
resöffentlichesInteresseanReplikations-
studien, klagteSpamann, darauf speziali-
sierte Journals undAuszeichnungen für
gelungene Arbeiten auf diesem Gebiet.
Natürlic hist dieReplikationskriseauch
eine Wachstumskrise. Schließlichist jede
wissenschaftliche Veröffentlichung das
Ergebnis eines Projektes, also eines ent-
sprechenden Forschungsantrages. Und
sollten Publikationen nicht zunächst
durch kritischePeer-R eview-Verfahren ge-
gangen sein?Würden Gutachter ihreAr-
beit machen, also deutlichhöhereAbleh-
nungsquotendurchsetzen, dannverlöre
auchdasProblemderReplikationanRele-
vanz. GERALDWAGNER

Wissenschaftliche Irrtümer in Serie


Experimentelassen sichzunehmend oftnicht wiederholen.Woranliegt es?


M


enschenexistieren nicht
einfach, sie fügen sich
nicht nahtlos in eineUm-
welt ein, sondernneh-
men ihr Leben in die Hand undgestal-
tenihreWelt.Oder andersausge-
drückt:Menschen leben, indem sie ihr
Leben führen. In diesemKerngedan-
kender philosophischen Anthropolo-
gie des zwanzigstenJahrhunderts
steckt auchdie These, dassMenschen
zu sichStellung nehmen, wozu ein
Bild, eine „Deutungsformel“gehört.
Ohne eine solche Deutungsformel
steht die natürliche Existenz des Men-
schen als kulturelles Lebewesen auf
dem Spiel–als ein Lebewesen, daset-
wasauf sic hund seineWelt hält.
Angesichts der aktuellen Krisenlage
sind einigeDeutungen imUmlauf, de-
renTauglichkeit durchaus fragwürdig
ist. Denn weder is tein vonCarlSchmitt
inspirierterAusnahmezustandausgeru-
fen, noc hleben wir in einer paradoxen
SituationvonNähe und Distanz, die
nicht gehandhabtwerden könne. Es ist
demgegenübergerade derTopos derso-
zialen Distanzierung, in dem mehr
stecktalseineschlichteVerwaltungsver-
ordnung. Mit Distanz und Distanzie-
rung is tzugleic hdas Prinzip angedeu-
tet, nicht nur ein Leben zu haben, son-
dernein Leben zu führen. Möglichkei-
tender Distanzierung bestimmen das
menschliche Leben und dieWelt des
Menschen, dieKultur.
UnterdenBedingungeneinersichra-
sant ausbreitenden, lebensbedrohli-
chen Pandemieunddendamiteinherge-
hendenrigorosen Maßnahmen der Ein-
dämmung,könnte man allerdings mei-
nen, dasssowohl die menschliche Le-
bensführung außer Kraftgesetzt als
auchdie Deutungsmusterunserer Exis-
tenz abgeschafft worden sind. Men-
schen, so einigeunüberhörbareStim-
men,seieninräumlichemAbstandvon-
einander zueinander nicht mehr in der
Lage,ihrLebenzuführen.Undbewähr-
te Deutungsformeln unseres persönli-
chen, sozialen und politischen Selbst-
verständnisses gingen verloren, etwa
dasjenigeder Selbstentfaltung.
Dochist eine solche Angstberech-
tigt? Leben wir wirklichineinem nicht
mehrkontrollierbaren und auf Dauer
gestellten politischen Ausnahmezu-
stand? Undist soziale Distanz etwas
Ungewöhnliches, Fremdartiges, Be-
drohliches, das man fürchten müsste?
Wird die Versammlungsfreiheit zeit-
weilig beschränkt,werden Schulen und
Universitäten,aberauchteilweiseGe-
schäft ebefristet geschlossen und der
öffentliche sowie privateRaum stark
reglementiert, dann erkennt Giorgio
Agamben darin einen politisch diktier-
tenAusnahmezustand, der zumNor-
malfall erklärt wird. Die menschliche
Existenz werdeauf das pureFaktum
des nackten Lebensreduziert, Frei-
heitsrechtewürden grundsätzlichin
Fragegestellt .Agamben meint, eine
solcheEntwicklung aktuell in Italien
zu beobachte nangesichts derstrikten
Maßnahmenzur Bekämpfung derdorti-
genCorona-Epidemie.
Es ähnelt allerdings eher einerfilm-
reifen Dystopie, zuglauben, dassdies
alle Regierungen derWelt unabhängig
vonihrer jeweiligen politischenVer-
fasstheit und ideologischen Ausrich-
tung gleichzeitig tun und sichauch
nochdie komplett eMenschheit einem
solchen Diktat widerspruchslos fügt.
Undeshilftauchnichts, einen solchen
Ausnahmezustand wieAgamben her-
beireden zuwollen.
Man darfaber auchverwundertsein,
wenn SlavojŽižek behauptet, das sdie
Normalität nachder Pandemie eine an-
deresei als zuvor.Die Fragen sind er-
laubt,vonwelcherNormalitätgenau
die Rede is tund vonwelcherPosition
hierso sichergeurteiltwird.Nach Žižek
sei es zudem eine metaphysische Her-
ausforderung, zu begreifen, dassdie all-
täglichen Gewohnheiten wie das Besu-
chen vonFreunden und dasgemeinsa-
me FeierninFrage gestel lt werden.
Aber weder der Metaphysik noch dem
Lebenwerden solche Thesengerecht.
Es is tauchalles andereals ein Para-
doxon, das sSolidarität und Distanz zu-
sammen auftreten. Sie schließen sich
nicht aus.Wenn Solidarität auf Intimi-
tätangewiesen wäre,könnteesinmo-
dernen Gesellschaftenweder Solidari-
tätnochSolidargemeinschaftengeben.
Um anderefür dasgemeinsame Einste-
hen für eine Sache zugewinnen, muss
mansie nichtvereinnahmen.Undeben-
so bes teht Sympathie nicht darin, sich
an dieStelle des anderen zu setzen und
ihm seinen Platz streitig zu machen
(unddabeidieeigene Position zuverlie-
ren). Das "Wunderbare" der Sympathie
(Scheler) besteht vielmehr in der dem
Menschen eigenen Möglichkeit eines
Mitfühlens auf Distanz.

Wenngege nwärtig von„socialdistan-
cing“ als einer Maßnahmegegendie
Ausbreitung der Corona-Pandemiege-
sprochen wird, so handelt es sichzum
einen um einentechnischen Begriff.
Mit ihm wirdein gesundheits- undge-
sellschaftspolitisches Werkzeug be-
nannt, um Epidemien zustoppen oder
zuverlangsamen. DasKonzeptbezeich-
neteine nichtpharmazeutische Maß-
nahme,wobeidieÜbersetzungvon„so-
cial distancing“ mit sozialer Distanzie-
rung zumindesterklärungsbedürftig
ist.Denn gemeintist einräumlicherAb-
stand und nicht einegesellschaftliche
Bewertung.
ZumanderenallerdingsistDistanzie-
rung nicht nur ein sozialtechnisches
Steuerungsmittel zumStoppenvonIn-
fektionsketten.Esbezeichnetebenso
ein Prinzip der menschlichen Lebens-
führung und der Gestaltung einerge-
meinsamenWelt.Distanzierung istuns
alles andereals fremd. Man musswe-
der davorerschrecken nochesverteu-
feln. Denn Menschen führen ihr Leben,
indem Distanzen gesetzt, modifiziert,
gestaltet,ausgehalten oder überbrückt
werden. Ohne Distanzwahrungwären
Menschen nicht lebensfähig; und ohne
Distanzvermittlung könnteeskeine
Welt geben, in der Menschen leben.
Diese DialektikvonNähe und Distanz
wirdwieder sichtbar,sie wir ddie Ge-
sellschaftauchweiter beschäftigen.
Die Möglichkeit, sichzudistanzieren
undmitDistanzenumzugehen,zeichnet
die menschliche Lebensform aus.Das
steteAustarieren vonNähe und Distanz
istalles andere als neu oder außerge-
wöhnlich, es hat seinenSitz im Leben
des Menschen.Auch die größte Nähe ist
nur durch Distanzals ein emenschliche
Nähe zuverstehen. GeorgSimmel be-
schreibtan derWende zum20. Jahrhun-
dertinder Philosophie des Geldes „das
Aneinander-Gedrängtsein und das bun-
te Durcheinander desgroßstädtischen
Verkehrs“,welches ohne dieVermitt-
lung des Geldes als einer distanzieren-
den Instanz „einfachunerträglich“ sei.
„Dassmansic hmit einer soungeheuren
Zahl Menschen so nahe auf den Leib
rückt wie die jetzigeStadtkultur mit ih-
remkommerziellen,fachlichen,geselli-
genVerkehr es bewirkt, würde den mo-
dernen, sensiblen und nervösen Men-
schenvöllig verzweifeln lassen.“ Selbst
die dichteste Nähe is timmer einever-
mittelte, einedistanzierteNähe. Und
auchdie größte Distanz istnicht ohne
eine vermittelnde Annäherung zu ha-
ben. DieseDialektik zeichnetdie Kultur
als Welt des Menschen aus.

H

elmuth Plessnerweistden
Habitus der Distanz als eine
Tugend der modernen Ge-
sellschaftaus, die unter an-
derem in derNotwendigkeit desTaktes
zum Ausdruc kkommt.Der Dis tanzlose
isttaktlos. In der modernen Gesell-
schaf tlässt sichnicht einfachdarüber
verhandeln, ob „das Spiel dergegensei-
tigen Distanz gespielt“ wird. Mankann
nur die Spielzügeund die Spielregeln
kultivieren oder auchverlernen und da-
mit taktlos werden. Es verwundert
nicht, dassHans Blumenberg, bestens
geschultin derphilosophischenAnthro-
pologie und derKulturphilosophie, auf
die Frage, wie der Menschmöglic hsei,
schlicht antwortet: „durch Distanz“.
Menschen gehen auf Distanz, umdas
Lebenzusiche rn,sie managen Distan-
zen,umdasLebenzuführen ,undsie ver-
mittelnDistanzen,umneueFormenindi-
rekter Nähe zu schaffen. Natürlic hwird
manüberdieVerhältnismäßigkeiteinzel-
ner aktueller politischerMaßnahmen
sprechen müssen. Die wirtschaftlichen
Folgen, diekaum mehrkalkulierbar,ge-
schweigedennübers ehbarsind, prägen
scho njetzt das politische Geschäft; und
sie werden esweiterhinnational,aber
auchinternational bestimmen. Auch
gibt es einen Unterschied zwischen
selbstgewählter ,empfohlener ,erlittener
und verordneterDistanzierung, der
nicht aus dem Blickgeraten darf.Und
selbstverständlichwerdenEinschränkun-
geninbestimmten Lebenslagenals be-
drückend erlebt, imfamiliärenUmfeld,
unter Freunden, aber auchimBeruf.
Die politischeUrteilskraft, die mehr
als nur einePerspektiveimBlickhaben
muss, kann in solchen Situationen nicht
delegiertwerden, sie istgerade hierbe-
sondersgefragt .Auchist überdie frag-
würdigeRhetorikzudiskutieren, die
sichgelegentlichaufdrängt.Denn im
Krieg beispielsweisebefinde tsichnie-
mand. Ebensosinddie Floskeln, dass
eineGesellschaftins Koma versetzt,
runter gefahren oderstillgestelltwerde,
wenig hilfreich. Das Gegenteil, höchste
Aufmerksamkeit undWachsamkeit, ist
allerortenzubeobachten.
Undman wird, dies istsicherlich
eine der komplexesten Fragen, sich
sehr rasch überlegen müssen, wie man
die Maßnahmen zurücknimmt.Politi-
sches Handelnkann sic hnicht darauf
beschränken, allein die Gegenwart zu
meistern,der Blickmussauchund ge-
radejetztweiter reichen.Denndie Plas-
tizität deskulturellen SpielsvonNähe
und Distanz, diegegenwärtig auf eine
Probegestellt wird, darffür die Zu-
kunftnicht außer Kraftgesetztwer-
den. CHRISTIAN BERMES

DerAutor istProfessor für Philosophie
an derUniversitätKoblenz-Landau.

„There is no suchthing as society“, dekla-
rierte MargaretThatcher 1987 in einem
Interviewfür das„Women’s Own“-Maga-
zin. Damalsgalt ihr Ausspruc hals Inbe-
griffeines kalten neoliberalenRadikalin-
dividualismus.Undals Frontalangriff auf
die Sozialwissenschaften, denen bei der
Gelegenheit die Existenz ihres Gegen-
stands abgesprochen wurde. Dochinzwi-
schen scheint dieA-Sozialität der eiser-
nenLady bis in die Mitteebendieser Sozi-
alwissenschaftenvorgedrungen zu sein,
wo sie nunalsAusweiswissenschaftstheo-
retischerReflexion und sprachkritischen
Bewusstseins gilt.„Gesellschaft“ sehen
viele Soziologen nämlichmittlerweile als
begriff liche Schimäreohne Realitätsge-
halt, auf die man besserverzicht et.
Neuist das nicht:Schon MaxWeber
warnte davor, mit der „Gesellschaft“ ein
Kollektivsubjekt zukonstruieren, das es
ohne diesen Begriff garnicht gäbe. Doch
mittlerweile hat sichdiese gesunde Skep-
sis in eine pauschaleAblehnungvonKol-
lektivbegriffen schlechthin gewandelt,
wie die BambergerSoziologin HeikeDe-
litz berichtet (Mittelweg 36, 6/2019 bis 1/
2020). Nicht nur „Gesellschaft“, sondern
auch„Kultur“, „Klasse“ und sogar „Grup-
pe“ stehen unter Ideologieverdacht .Den
Benutzernsolcher Substantivewird nicht
nur die unzulässigeVerdinglichung theo-
retischer Gebilde, sondernauchmoralpo-
litischesFehlverhalten vorgeworfen: In-
demsie die Existenz homogener,naturge-
gebener Kollektivesuggerierten, verleug-
netensie Diversität,grenzten Menschen
aus und spielten denVertretern ethni-

scher Reinheit und identitärerStrömun-
genindie Hände.Folgt man dieser Argu-
mentation, müssteman wohl auc hdie ge-
genwärtig vielbeklagte„Spaltung der Ge-
sellschaft“ als Obsession homogenitätsfi-
xierterZwangscharaktereverbuchen.
HeikeDelitz kritisiertzuRecht diese
Kritik ,die in ihrer pauschalisierenden
Heftigkeit übersieht, dassnicht jeder Ge-
brauc hvon Kollektivbegriffen automa-
tisc h„essenzialistisch“und „homogenisie-
rend“ ist. Eine Sozialwissenschaft, die
statt vonGruppen nur nochvon „Akteu-
ren“, „Netzwer ken“, „Handlungen“ und
„Praktiken“ sprechen möchte, zahlt einen
hohen Preis: Sie blendetzentraleFragen
wie die nachder gesellschaftlichenFor-
mung der Individuen aus.
Delitzverfolgt dieWurz eln dergegen-
wärtigen Kollektivphobie zurückbis zur
FranzösischenRevolution, derKeimzelle
der modernen demokratischen Gesell-
schaf t.Um derIdeedesvonGottgeheilig-
tenKönigsetwa sentgegenzusetzen, er-
klärtendie Revo lutionäredas Individuum
für heilig.Zugleicherhoben sie aber auch
dasVolkzumSouverän.Indiesembisheu-
te wirkenden Spannungsfeld orientiert
sichdie aktuelle Begrif fskritik der Sozio-
logen amPoldes Individuums, das zum
einzig legitimenAusgangspunkt erklärt
wird. Delitz sieht hier eineTradition, der
sichseit 1945 insbesonderedie deutsche
Sozialwissenschaftverpflichtetsieht.
Dochreicht diekollektivitätskritische
Haltungwirklic hsoweitzurück? Immer-
hin waren„Gesellschaft“, „Klasse“,
„Gruppe“, ja selbstdas „Volk“ alsrevolu-

tionäresSubjekt in densechziger bisacht-
ziger Jahren Schlüsselwörtereiner links
orientiertenSozialwissenschaftund ih-
respolitischenUmfelds in der Bundesre-
publik–ganz zu schweigenvomMarxis-
mus-Leninismus der DDR.Überzeugen-
der is tDelitz’ Verweis auf die neuereGe-
schichte: Angesicht sderseit 1989wieder-
aufgeflammten Kämpfe um nationale
und ethnische Identitäten siehtsie hinter
der soziologischen Leugnung derKollek-
tivedas Motiv,die Individuengegenihre
Vereinnahmung oder Ausgrenzungzu
verteidigen. Interessantwäreallerdings,
ob sic hdiese sozialtheoretische Aversion
auchgegen die neuenKollektivbildun-
gender Geschlechts-, Moral- und Opfer-
identitätenrichtet, die die Diversitätspo-
litik hervorbringt.
Wasbei Delitz ausgeblendetbleibt, ist
dielangesprachkritischeTradition,in der
die soziologischenAttacken auf dieKol-
lektivbegriffe stehen.Derdahinterstehen-
de Nominalismus, geko ppelt mit dem
GlaubenandieWirkmächtigkeitvonWör-
tern,reicht vonFriedric hNietzsche über
Fritz Mauthner und Benjamin Whorfbis
zu den heutigenVerfechter n„geschlech-
tergerechten“ und moralischkorrekten
Sprechens. Mauthner,österreichischer
Schriftsteller und Philosoph desFin de
Siècle,verstand seine Sprachkritik als
Kampfgegen einen„Wortaberglauben“,
der Wirklichkeitsillusionen erzeuge.Tat-
sächlichberuhtdiese ArtderSprachkritik
jedochselbstauf einem Aberglauben,
nämlichdem, dassWörterden Verstand
verhexen –ausgenommen natürlichden

der Sprachkritiker–und auf dieseWeise
auchdie Gesellschaft.
DassWortbedeutungen nichtsFestes
sind, sondernchangieren und sichwan-
deln, dassBegriffeauchvon „normalen“
Sprechernreflektiertund mit derRealität
abgeglichen werden, fällt unter den
Tisch. Tatsächlichweistdie Semantikvon
Kollektivbezeichnungen wie„Volk“, „Na-
tio“, „Klasse“ oder „Gruppe“ in der Ge-
schichte wie in der Gegenwart verschie-
denartigste Facettenauf.Ihnenwohntkei-
ne magische Macht inne, die die Sprecher
nötigt,monolithischeSozialblöcke mitih-
nen zu assoziieren.
Wassolche Bezeichnungen allerdings
spiegeln,is tdieEr fahrungvonZugehörig-
keiten, die sichvon derNach barschaft
über denFreundeskreis, die Dorfgemein-
schaf toder das Sozialmilieu bis zum
Staatsvolk erstrecken. Diese Bindungen
können auf den Zwängen sozialerNor-
men ebenso beruhen wie aufgemeinsa-
men Lebensstilen, geteilten Erfahrungen
oder Gefühlen derZusammengehörigkeit
und dem Bewusstsein, „dieselbe Sprache
zu sprechen“.
Dasssolche sozialenRealitäten sogar
für denexistie ren, der ihreNamen lö-
schen möchte, dafürist Fritz Mauthner
selbst ein eindrückliches Beispiel:Dass
er „Sprachmythen“ und insbesondere
Kollektivbegriffeins sprachkritischeSäu-
rebad tauchte, hinderte ihn nicht an der
Herausbildung einerglühendendeutsch-
nationalen Gesinnung. FürMauthner
existierte dasVolk, ob wohl er das„Volk“
demontierte. WOLFGANGKRISCHKE

Der amerikanische MathematikerAubrey Clayton istüberzeugt, dieWissenschaftsteckeineiner Replikationskrise. Blickinein Labor der Quantenforschung. FotoFabian Steinlechner

Elf Einzelkämpfersollt ihr sein


Nachder Gesellschaft:Die Soziologie beschäftigt sichmitdemZerfall vonKollektivenund Kollektivbegriffen


Wie man


Dis tanzg ewinnt


DasVirus verändert


das Spiel vonNähe


undDistanz. Aber es


änder tnicht alles,wie


manche Krisenr hetorik


glaubenmacht.

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