Frankfurter Allgemeine Zeitung - 08.04.2020

(Ann) #1

V


ierhundertTagesaß Kardinal
George Pell in einem Hochsi-
cherheitstrakt in Haft. Jetzt be-
fand das Obersteaustralische
Gericht, esgebe eine „signifikanteMög-
lichkeit“, dassPell unschuldig sei und hob
seine Verurteilungwegensexuellen Miss-
brauchs zweier Chorknaben auf. Miss-
brauchsopfer sind entsetzt.
Als Kardinal George Pell aus dem Ge-
fängnis gefahren wurde, sah man auf den
Fernsehbilderndurch das Autofenster
nicht viel mehr als einen Schatten. Der
einstmächtigste Mann der australischen
Kirche,großgewachsenundmitimposan-
terFigur,ist seit Beginn des Prozesses
starkgealter t. Mehr als 400Tage lang hat
George Pell im Hochsicherheitstraktver-
bracht.Dabei hatteerstets seineUn-
schuld beteuert. Nunist Kardinal George
Pell überraschend freigekommen. Das
obersteGerichtdes Landeshatam Diens-
tagder Berufung des 78 Jahrealten ehe-
maligenPräfektendesWirtsc haftssekreta-
riats imVatikan stattgegeben. DasUrteil,
unterdemPellzusechsJahrenHaftverur-
teilt worden war, vondenen er mindes-
tens drei Jahreund acht Monateabsitzen
sollte, istdamit aufgehoben.Statt frühes-
tens im Oktober 2022,wurde er nun
schon am Dienstagaus dem Barwon-Ge-
fängnis in Melbourne entlassen.
Als Kardinal warPell warder höchste
katholische Würdenträger, der jemalswe-
gendes sexuellen MissbrauchsvonKin-
dernverur teilt worden war. Er solltein
den neunziger Jahren in derKathedrale
vonMelbournezweiChorknaben sexuell
missbraucht haben.IneinererstenReakti-
on bezeichnete Pell die Entscheidung des
Gerichts als Heilmittelgegendie „Unge-
rechtig keit“, die ihm widerfahren sei. Je-
dochgab er an, er hegekeinen Grollge-
genden Belastungszeugen und wolle
nicht, dasssein Freispruchzum Schmerz
und zur Bitterkeit beitrügen, die so viele
Missbrauchsopfer fühlten.Aber sein Pro-
zess dürfe auchnicht als Referendum
überdiekatholischeKircheoderüberden
Umgang der australischen Kirchenbehör-
den mitPädophiliegesehenwerden. „Es
ging darum, ob ichdiese schrecklichen
Verbrechen begangen hatte, und das habe
ichnicht“, sagtePell.
Tatsächlichhat derFreispruchinAus-
tralien vielevorden Kopf gestoßen. Der
Vatereines der Chorknaben, der im Jahr
2014 an einerÜberdosisgestorbenwar,
befand sichlaut seiner Anwälteunter
Schoc k. „Er sagt, er habekein Vertrauen
mehr in das Justizsystemunseres Lan-
des“, teilteseine Kanzlei mit.Viele Miss-
brauchsopferreagiertenmit Entsetzen,
weil ihrer Meinung nachein verurteilter
Kinderschänder freigekommen ist,der in
seinen Machtpositionen außerdem dafür
gesorgt habe, dassder Missbrauchande-
rerüber Jahrzehntevertuschtworden sei.
Der harte Kern der Unterstützer,die Pell
über Jahredie Treue gehalten hatten und
in dem Prozesseine Hexenjagd sahen,se-
hen sichdagegen bestätigt.Sie warender

Meinung,Pell sollt ezum Sündenbock für
das Versagen der Kirchebei der Aufarbei-
tung vonFällen des sexuellen Miss-
brauchsgemachtwerden.
Für mancheKatholiken dü rfte es ni cht
unerheblichsein,dassderFreispruchaus-
gerechnetinder Karwoche erfolgt is t.
Der Vatikan begrüßteden Freispruch.
Pell habestetsseine Unschuld beteuert
und daraufgewartet,dassdie Wahrheit
ans Lichtkomme, heiß tesineiner Erklä-
rung desvatikanischen Presseamtes.
Ohne Pell namentlichzun ennen, hatte
PapstFranziskus seine Morgenmesse
aber denjenigengewidmet, die unter „un-
gerechten Strafen“ zu leiden hätten. Als
„Vorsichtsmaßnahme“ hatteder Papst
Pell aberschonimJahr2017vorerstunter-
sagt, sein Priesteramt in der Öffentlich-
keit auszuübenund in Kontakt mit Min-
derjährigen zu treten. Das Berufungsur-
teil heißtwomöglichnicht, dassPell nun
in Ruhe seinen Lebensabendverbringen
kann. Wiedie australische Presse berich-
tet, bereiten derzeit anderemutmaßliche
Opfer Zivilklagengegenihn vor.
Einigedavon sollen sichunter ande-
remaufdie Vorwürfe auseinemursprüng-
lichzweiten geplanten Prozessbeziehen,
wonachPell in einem Schwimmbad sei-
ner Heimatstadt Ballarat mehrereJungen
unsittlichangefasst haben soll. Diesen so-
genannten „Schwimmer-Prozess“ hatte
die Staatsanwaltschaftnicht weiter ver-
folgt.Außerdemwarenaufgrund des lau-
fendenVerfahrensAussagen voreinerUn-
tersuchungskommission zurückgehalten
worden, dieAufschlussüber George Pells
Rolle bei der Vertuschung vonMiss-
brauchsfällenkatholischer Priesterund
Ordensmännergebensollen.DiesePassa-
genkönnen nunveröffentlichtwerden.
Juristischist Pell nun aber erst einmal
vonallen Vorwürfenbefreit .Das Beru-
fungsurteil am Dienstagerfolgteweniger
als einen Monat nachder Anhörung. Die
Richterin Susan Kiefel sprachesine inem
Gerichtssaal in Brisbane,der aufgrund
derwege nderCoronavirus-Pandemiegel-
tendenBeschränkungenfast leer war. Die
insgesamt sieben Richter befanden, dass

die Geschworenen sowie das Berufungs-
gerichtunter Berücksichtigung aller Be-
weismittel Zweifel an der Schuld des An-
geklagten hätten haben müssen, hieß es
in einerZusammenfassung ihresUrteils.
Esgebedie„signifikanteMöglichkeit,wo-
nacheine unschuldigePerson verurteilt“
worden sei. Dabei wurde auf dieZeugen
verwiesen, die ausgesagt hatten, dasses
zur vermeintlichenZeit nac hder Sonn-
tagsmessegarkeineGelegenheitdafürge-
gebenhabe, unbemerkt einesolcheTatzu
begehen. Das widerspricht dieAussage
des einzigen Belastungszeugen, der sich
vorrund fünf Jahren an diePolizei im
Bundesstaat Victoriagewandt hatte.
„Kaltschnäuzig undgewalttätig“
Dem heuteMitteDreißig Jahrealten
Mann zufolgehatteder damaligeErzbi-
schofvonMelbourne Ende des Jahres
1996 in der Sakristeider Kathedrale ihn
und den zweiten Chorknaben zum Oral-
sexgezwungen. Die beiden Jungenwaren
zum Zeitpunkt des Missbrauchs 13 Jahre
alt.Keiner vonbeiden hattejemals über
die Ereignissegesprochen. DerToddes
ehemaligen GefährtenimJahr 2014 hatte
den übriggebliebenen ehemaligen Chor-
knaben den eigenen Angaben nachdann
aber dazu bewogen, sic handie Polizei zu
wenden.
Der eigentliche Prozesshatteerstim
August2018 begonnen. Erwarzunächst
darangescheitert, dassdie Jur ynicht zu
einem einstimmigenErgebnis gekommen
war. Im Dezember 2018 hatteein zweites
Geschworenengericht in Melbourne den
Kardinal in fünf Anklagepunkten dann
aber einstimmig für schuldigbefunden.
Das StrafmaßwarimMärzdes Folgejah-
resfestgesetztworden. Der Richter hatte
Pells Tatendamals als „kaltschnäuzig und
gewalttätig“ und „atemberaubend arro-
gant“ bezeichnet. Im August2019 bestä-
tigteein Berufungsgericht des Bundes-
staatsVictoriamehrheitlichdasUrteil. Al-
lerdings äußerte einer derdrei Richter die
abweichende die Meinung, dassdie
SchuldPells nicht zweifelsfrei bewiesen
sei. Dieser Einschätzungfolgten nun
auchdie Richter in letzter Instanz.

Für denWeltgesundheitstag am Dienstag
warimzentralasiatischenTurkmenistan
ein Freudenfestdes Sportsgeplant, mit
dem Massenfahrradfahren Tausender
Turkmenenals Höhepunkt.Iminternatio-
nalenVergleichmag das angesichts der
Gefahren durch das neuartigeCoronavi-
rusunangebracht wirken.Aber im Reich
des AlleinherrschersGurbangulyBerdy-
muchammedow,derseinengut5,8Millio-
nen Untertanen unter anderem als Musi-
ker, Sportler,Pferde- und Pflanzenfach-
mannvoranschreitet,soll Miserekeine
Heimstätte haben.
Nach barländer wieKasachs tan, Usbe-
kistanundAfghanistanhaben mittlerwei-
le Dutzende Corona-Fällegemeldet, Iran
im Südwestengar Zehntausende Infektio-
nen und einigetausendTote. Turkmenis-
tanhatdagegenbisheralseinesvonweni-
genLändernder Welt noc hkeinen einzi-
genFall gemeldet; Medienberichte über
mindestens zwei Infizierte in der Haupt-
stadt Aschgabat Anfang Märzhaben die
Behörden zurückgewiesen.
DasLeugnenhatTradition;Turkmenis-
tanbehauptetbeispielsweise auch, nie-
mand im Land sei mit dem HI-Virusinfi-
ziert. Aschgabat istganz inWeiß gehal-
ten, selbstAutos müssen dieseFarbe ha-
ben:NichtssolldiescheinbareMakellosig-
keit im Umfeld des früherenZahnarztes
trüben. Der turkmenische Dienstvon Ra-
dio Free Europe/Radio Liberty berichtete
aus Aschgabat, Leute, die über diePande-
mie öffentlichsprächen oder Gesichts-
masken trügen, würdenvonAgenten in
Zivil abgeführt; es drohten Bußgelder
und Arreststrafenvon zehnTagen.
Es gibt aberVorsichtsmaßnahmen. Die
Grenzen Turkmenistans sind geschlos-

sen, internationale Flügegibt es nicht
mehr,mancherorts wirddesinfiziert.
Schulkinder hattengerade eineWoche
längerFerien. AmMontaggingderUnte r-
richtsbetrieb aber wieder los und Eltern
sind jetztgehalten, für den Erwerb von
Steppenrautezuspenden. Mit demVer-
brennendieses Gewächseswerd enöf fent-
liche Orte ausgeräuchert, denn im März
hatBerdymuchammedowderSteppenrau-
teantiviraleWirkung zugeschrieben.Auf
den dazuverbreit eten Bildernsah man
den Herrscher in einem modifizierten
Mercedes-Benz-Geländewagenaufgigan-
tischenRäderndurch die Steppe rasen.
Steppenraute kommt auchinBerdy-
muchammedows„Heilp flanze nTurkme-
nistans“ vor, einemvon Dutzenden
Herrscherwerken,die Pflichtstoff für
Schüler wieMinisterimLand sind.Im
Staatsfernsehenwirdauf dieser Grundla-
ge ein gesunderLebenswandelgepre-
digt, um „saisonalen,akuten Atemwegs-
erkrankungen“vorzubeugen.Zudem hal-
tenBehörden dazuan, Nasenregelmä-
ßig mit Oxolinsalbe einzuschmieren.
Aber das Wort „Coronavirus“ist Tabu.
EineInformationsbroschüre,die noch
im Februa rüberdie Gefahrendurch das
Virusund Hygiene-und Di stanzregeln
aufklärte, wu rdezurüc kgezog en.
Berdymuchammedowlasse Medien
und Behörden dasWort„Coronavirus“ so
wenig wie möglichnutzen, berichtetedie
OrganisationReporterOhne Grenzen, in
deren Pressefreiheits-Rangliste Turkme-
nistanhinter Nord koreaauf dem letzten
Platz von180 Ländernliegt.Nachdem
viel über diese Kritik berichtet worden
war, hielt Berdymuchammedowjetzt eine
Sitzung mit seinen Ministernab, in der es

um dieVerringerung der negativenAus-
wirkungen derPandemie aufTurkmenis-
tanging. Versprochen wurden wirtschaft-
liche Unterstützungsmaßnahmen. Doch
auchhier sind Zweifel angebracht, denn
der Einbruchbei denRohstoffpreisen hat
das auf den Exportvon Öl und Gas ange-
wiesene Land am Kaspischen Meer in
eine schwierigeLagegebracht.Seit An-
fang dieses Monats sind Barabhebungen
in ausländischenWährungen untersagt.
Hinterden Kulissen sieht es düster
aus. Aschgabatist seit zweieinhalbWo-
chen ohne Erklärung abgeriegelt,Ver-
kehr zwischen den Landesteilen einge-
schränkt.Lebensmittelpreisesind stark
gestiegen, es sollVersorgungsengpässe
geben. Laut Medienberichten dürften
Leute mitSymptomen wieFieber nicht
an Bordvon Zü genoderBussen.Wem
dortoderaneinem Stra ßenkontroll-
punkt erhöhteTempe ratu rgeme ssen
wird, der wirdinein Krankenhausge-
bracht.Angebli ch werden Krankenhäu-
ser auf die Behandlung vonCo-
vid-19-Krankenvorbereitet.Esgibt auch
Quarantänezonen fürVerda chtsfälle und
Rückkehrer aus demAusland.
Werdank Schmiergeld aus der Zwangs-
unterbringung dortflieht, soll ein hohes
Bußgeld zahlenund bis zu ein Jahr in
Haft. Dabei erscheint Fluchtverständlich,
wie einvorkurzemveröffentlichtesVideo
verdeutlicht, das in der Quarantänezone
der Stadt Türkmenabat im Ostendes Lan-
des aufgezeichnetworden sein soll: Dut-
zende Insassen sind in Doppelstockbetten
in Zelten auf engstemRaumunter ge-
bracht. Dazu sagteeine (aus Sicherheits-
gründenverfremdete)Stimme, einigesei-
en symptomfrei, anderehätten Fieber.

Freier Mann:Pell nachseiner Entlassung aus dem Gefängnis am Dienstag FotoGetty

Auffreiem Fuß


Kein einziger Corona-Infizierter?


WieTurkmenistans Alleinherrscher einProblem leugnet/VonFriedrich Schmidt


Das obersteaustralische


Gericht hatKardinal


Pell vomVorwur fdes


sexuellen Missbrauchs


freigesprochen.


VonTill Fähnders,


Singapur


BRIEFE AN DIE HERAUSGEBER


Zu Claus Leggewie „DerRoman nicht
nur zur Stunde“ (F.A.Z.vom28. März):
Klug undverdienstvollruft der Verfas-
ser denRoman „DiePest“von Albert
Camus in Erinnerung. In derTatsind
die Parallelen zwischen der im Buchge-
schildertenEpidemieunddergegenwär-
tigen Situation bestürzend und beklem-
mend .DocheinEinspruch odereineEr-
gänzung scheint notwendig. Der Jesuit
Paneloux istkeineswegs eine „Randfi-
gur“, sondern ein wichtiger Gesprächs-
partner des Arztes Rieux. Am Ende ei-
ner zweiten Predigt, nachdem er anders
zu denkengelernt hat, sagt der Jesuit, in
Erinnerung an diegroße Pest vonMar-
seille,vorder alleflohen, außer einem
Priester:„Meine Brüder,man mussder
sein, der bleibt.“Panelouxbleibt und
stirbt.Der „Existentialist“Rieux auf der
einen Seite, der„Theologe“Paneloux
auf der anderen Seite: Beide treffensich
in demgemeinsamenKampfgegen das
Böse, vondem weder der eine nochder
anderesagen kann, woher eskommt.
Camus hatPaneloux nachdem Jesuiten
JeanDaniélougezeichnet,einemVertre-
terder „nouvelle théologie“ inFrank-
reichund Wegbereiterdes ZweitenVati-
kanischenKonzils. Beidewarenmitein-
anderbekannt;derJesuithieltdenDich-
terfür einenverkapptenChristen, der
Dichter den Jesuiten für einenverkapp-
tenExistentialisten.
DR.NORBERTERNST,WILLEBADESSEN

ZumArtikel „Todeszone Italien“von
MatthiasRübinderF.A.Z.vom20.
März: DieUrsache der Corona-Epide-
mie lässtweiter Fragen offen. In die-
sem Artikel berichtet der Autoraus
Prato. Dorthat sic hüber vieleJahre
die größteGemeinschaftvon zirka
50 000 Chinesen in Italiengebildet,
fast nur in derTextilwirtschaftbeschäf-
tigt.Aber imRaum Pratogab es kaum
Corona-Fälle. Er schreibt, dassdie
Chinesen dorthauptsächlichaus der
RegionumWenzhoustammen, die
aber ungefähr vierhundertKilometer
weiter westlichimLandesinnerenvon
Wuhan liegt,wo die Epidemie ihre
Wurzeln hat.Kann es sein, dassinder
lombardischen Textilwirtschaftpri-
mär Wuhan-Chinesen arbeiten, die
aus ihrer Heimatdas Virusmitge-
bracht haben?

In derF.A.Z. vom25. März„Warum
Italien?“ wirdberichtet, dassItalien
zwar relativ früh, ab dem 31. März, Flü-
ge aus Chinaausgesetz that, das sChine-
sen aber dann überNach barländerquasi
aufde mLandwegunddannsogarunkon-
trollierteingereist sind undsoVirus-Trä-
gerhätten seinkönnen.Ist eventuel lso-
garbekannt, inwelchemRaum in der
Lombardei Schwerpunktevon Wuhan-
Chinesensindund is tdamit sogar eine
gewisse KorrelationzudenSchwerpunk-
tender Corona-Epidemie erkennbar?
Wenn dieseFragen zutreffen, wäre
dies wohl eine Haupterklärung,warum
Italien derartstarkgetroffenist mit
den geschätzten fünfhunderttausend
Chinesen im Land–imVergleich zu
Deutschland.

ANTONSINGER,DINKELSCHERBEN

ZumLeserbrief General a. D. Brug-
manns„Wosind siegeblieben?“ (F.A.Z.
vom2.April): Leser Brugmann fragt
nachdem Verbleib derReservelazaret-
te der Bundeswehr,die noc h1990 flä-
chendeckend vorgehaltenworden wa-
renund derenPotential in der derzei-
tigen Krise möglicherweise hilfreich
wäre.Hierbeidarfnicht vergessen wer-
den,dassderBlickaufdie rein mat eriel-
le Vorhaltung nur einTeilaspekt dar-
stellt, denn der Betrieb dieserReserve-
lazarette warzufasthundertProzent
auf die Einberufung vonReservisten
(Ärzte,Fachpersonal) auf die entspre-
chenden Dienstpostenangewiesen.Für
die Pflegeindiesen Reservelazaretten
warauchPflegehilfspersonal (Schwes-
ternhelferinnen) vorgesehen,die auf
Kosten des Bundes imRahmen seiner
Zuständigkeit nachArtikel 73 GG
durch die Hilfsorganisationen (wie
DRK oder Malteser) ausgebildetwor-
den waren.
Die Schwesternhelferinnen sollten
darüber hinaus auchdas Pflegefachper-
sonal in zivilen Krankenhäusernver-
stärkenund entlasten.Der Bundhat die
Ausbildung diesesPersonals bereitsvor
Jahren eingestellt.Die materiellen Be-
ständederReservelazarettewu rdenauf-
gelöst, dieReservis tenwurden ausge-
plant, die Wehrpflicht wurde abge-
schaf ftunddamitdie„Friedensdividen-
de“ erzielt.Mithin sind sowohl dieRe-

servis tenwieauc hdieSchwesternhelfe-
rinnen ersatzlosweggebrochen.
Analog zu den Reservelazaretten
beim Militärwurden im zivilen Bereich
neben SanitätslagernauchHilfskran-
kenhäuser mit jeweils 200 Betten mate-
riell vorgehalten, die–angelehnt an
eineKlinik–derenBetten- undBehand-
lungskapazitäten erweiter nsollten.
Auchfürdiesen zivilenTeilderDaseins-
vorsorge (im Verteidigungsfall)warder
EinsatzvonSchwesternhelferinnen vor-
gesehen. Die Hilfskrankenhäuser wur-
den imZuge des Gedankens, Deutsch-
land sei nur nochvon Freunden umge-
ben, ebenfalls abgeschafft.
SelbstwenndasMaterialdergenann-
tenEinrichtungenvornehmlichfür den
Verteidigungsfallvorgesehenwarund
sicher nicht modernstenmedizinischen
Ansprüchen genügen sollte, könnte
manheutedochnochaufdaspersonel-
le Potential der Schwesternhelferinnen
zurückgreifen, um Pflegefachpersonal
in den Kliniken zu entlasten, wenn der
Bund seine Aktivitäten auf diesemFeld
nicht eingestellt hätte. Dies ungeachtet
derFrage, aufwelcher Rechtsg rundlage
heuteder Rückgriffauf Schwesternhel-
ferinnen erfolgen könnte. Eine solche
Rechtsgrundlagenotfallsraschzuschaf-
fenwäredann eine zumutbareAufgabe
des Gesetzgebers.

CHRISTOPHKLAUSMANN,
HAUPTMANN D.R.A.D.,TENINGEN

InderF.A.Z.vom3.AprilbringtHelene
Bubrowski ein freundlichesPorträtdes
BundesbeauftragtenfürDatenschutzUl-
rich Kelber,MdB, das dieser engagierte
Politiker durchaus verdient hat.Freilich
istese twas kühn, Kelber dafür beson-
derszurühmen, dasser„mehr Transpa-
renz bei denNebeneinkünften derAb-
geordneten“geford ertund sogar seine
Steuererklärungveröffentlicht habe.
Die Erwähnung des konsequenten
Einsatzes für das BonnerUnternehmen
Solarworldund der sehr engen Bezie-
hungen desAbgeordneten zu dessen
Hauptaktionär Asbeckwäreind iesem
Zusammenhang unumgänglichgewe-
sen. Asbeckhat dieWahlkampfkasse
desstellvertretendenSPD-Fraktionsvor-
sitzendenundfraktionsinternenKoordi-
nator sunter anderem fürUmwelt- und
Klimaschutz mit erheblichen Beträgen
angefüllt, auchinder Zeit, als über die
EEG-NovellierungunddieReduzierung
der Förd erbeträgefür Solarstromver-
handelt wurde. DiegeplanteSenkung
istdann auchrecht moderat ausgefal-
len. Kelber hat immer mit Bürgern,Un-
ternehmen undVerbändengeredet, und
das wargewissrichtig undförderlich.
Aber gezielteSpenden für denWahl-
kampfeines einzelnenAbgeordne ten,
der an einer für den Spender entschei-
dendenPosition in laufende Gesetzge-
bungsverfahren eingebunden ist, sind
mit Recht kritisiertworden.
FRIEDRICHWOLF,ESSEN

Zunächst möchteich Fr au Lübbe-Wolf
herzlichfür ihr en ausgewogenen und
juristisch-pragmatischen Beitrag im
Feuilleton(„GeschlosseneGesell-
schaft“,F.A.Z. vom24. März) danken.
DieMaßnahmender Bundesregierung
undder Landesregierungen müssenan
der Erforderlichkeit,Angemessenheit
und Verhältnismäßigkeit im engeren
Sinn gemessen werden, nicht daran,
wasandere Länder für Maßnahmen in
der Corona-Kriseergreifen oderwas
die Virologenund Epidemiologen sa-
gen. Die Virologensind als Experten,
soweit sie bereitsetwas über das Virus
wissen, unentbehrlich. Die Maßnah-
men wieKontaktsperren und die
Schließung desgesamten öffentlichen
Lebens muss jedochdie Exekutive ver-
antworten un dsichanden Maßstäben
der Verfassung messen lassen.
Es hat sichnun herausgestellt, dass
die sehr alten Menschen mitVorerk ran-
kungen diejenigen sind, bei denen
schwerebis tödlicheVerläufeviel häufi-
gerauftreten als bei jungengesunden
Menschen, diewohl zumgroßen Teil
symptomfrei bleiben. Die Idee, über die
Risikogruppen für schwerebis tödliche

VerläufestrengereAusgangs- undKon-
taktsperrenzuverhängenistimSinneei-
nes verstärkten, notwendigen Schutzes
der Risikogruppen absolut nicht abwe-
gig. Je länger dieKontaktsperre besteht,
je stärkerdie Wirtschaf teinbricht und
vorallem, je überstrapazierter das Ge-
sundheitssystem ist, umso eher sind die
schweren Verläufedurch Quarantäne
zu vermeiden. DassQuarantäne aus-
grenzt, istihr Sinn und Zweck.
Dies stellt auchimGegensatz zu der
MeinungvonDr. Gabriele Lademann-
Priemer in ihrem Leserbrief vom31.
Märzkeine Diskriminierung der Risiko-
gruppen dar.Die Risikogruppen wer-
den, wenn überhaupt,vondem Virus
„diskriminiert“, das bei ihnen zu schwe-
renbis tödlichen Verläufen führen
kann. Wenn die schwerenVerläufeda-
durch,dassdie Ansteckungsgefahr so
weitwiemöglichreduziertwird, vermie-
den werden, is tdies keine Diskriminie-
rung, sondernein wichtiger Schutz der
Risikogruppen.KeinedervonFrauLüb-
be-Wolf angestellten Überlegungen ist
schockierend. Man solltesie mitküh-
lem Kopf bedenken.

ANNETTEKROHN,BERLIN

ZumBeitrag „Ein echtes Deutschland-
Abitur“ vonMichaelKämper-van den
Boogaartund SabineReh(F.A.Z. vom


  1. März): EinAbiturzeugnis hat noch
    nie eineStudierfähigkeitverbürgt .Die-
    ser recht brutalen Aussageder beiden
    Autorenkannman in ihrerAbsolutheit
    natürlich nichtzustimmen,wohl aber
    in ihr er grundsätzlichenAussa gekraft.
    DasAbitur alsAditur warmitFragezei-
    chenverbunden.Abermankannobjek-
    tiveUnterschiededes Abiturniveau sin
    den ersten drei Jahrzehntennachdem
    Zweit en Weltkriegim Vergleichzum
    heutigenAbiturniveaufeststellen.
    DieUnter richtsmaterien un dUnter-
    richtsmethoden sowiedie Lehrenden
    unddie Le rnendenwarendamals an-
    ders als heute.Die Unterrichtsfächer
    warenindie kla ssischen Haupt-und
    Nebenfächer zerlegtund bliebenbis
    zumAbitu rerhalten.Abwählen gabes
    nicht.Und die Lerninhaltewurden in
    altbewährte Pa kete verpackt .NeueVer-
    suchsballonsgab eskaum.Auchdie
    Lehrmethoden derPädagogenfolgten
    derklassischenAusbildung andenUni-
    versitäten ,also eine mehroder weni-
    gergesunde Mischungvon Frontalun-
    terricht ,Förde rung un dForde rung der
    Mitarbeit, Prüfung desEinzelnenbis
    hin zur Klassenarbeit oderKurzklau-


sur.JenachFachkonnten die Lehrer
denUnterrichtspannend oderlangwei-
ligoderleicht-und schwerverständlich
gestalten .Die Schüler hatten einean-
dereEinstellun gzum er strebten Ziel,
welches eben nicht alltäglichwar.Oh-
nedieswarendie Schülergrundsätz-
lichdisziplinierter als heute.Dieinder
Regelwegen verfügbarenZeiten aus-
führlicheStoffbehandlung brachteden
Schülernauchein größeresStandard-
volumen an damals maßgeblichem
Wissen bei. Die Schüler hatten näm-
lichmehrZeitzurAneignungder L ern-
inhalte, lernten alsobesse rdas Ler-
nen, warenaber auchgezwungen, ih-
renTeil de rZielerreichungdurch Ler-
nen beizutragen.
Zusammengefasst: Di eQualität des
Wissens unddie QualifikationzumLer-
nen warenbesser ausgeprägt alsheute.
Beides sindMerkmale dessen, waswir
Studier fähigkeit nennen.Undwenn
man dann nochberüc ksichtigt, dass
die Studiengängevon damalsebenso
klassischstrukturiert wareninklassi-
sche Berufsbilder,dannkönnt eman
schon zum Ergebniskommen,dassAbi-
turienten bei normaler Begabung ei-
nen vielversprechenden Zugang zum
Studium habenkonnten.

DR.HARALDSCHNEIDER,SAARBRÜCKEN

ZumArtikel „So sieht Religion im
Schwarzweißfilm aus“ vonMichael
Wolffsohn (F.A.Z.vom26. März) zur
Netflix Serie „Unorthodox“:Vielen Zu-
schauernist die Geschichtevon Debo-
rahFeldman bereits seit Jahren bekannt
durch ihreBücher ,die in denVereinig-
tenStaaten oder auchDeutschland in
hohenAuflagenverkauftwerden.Umso
erstaunlicher,dassderHis torikerMicha-
el Wolffsohn sichfastschon weigert,
sichmit dem eigentlichen Thema ihrer
Geschichteund derenUmsetzung in der
neuen Netflix-Serie zu befassen: die
Selbstbefreiung aus einer autoritären
Glaubensgemeinschaftund ihrWegzu
einem eigenverantwortlichen Leben, in
dem sie ihrer Leidenschaftzur Literatur
(im Film die Musik) nachgehenkann
und sie auchzuihrem Beruf macht.
Stattdessen sorgt sichder Au tor, dass
die Zuschauer durch die Darstellung der
abgrenzenden Lebensweise der ultraor-
thodoxjüdischen Satmarer Gemeinde
in Williamsburg/Brooklyn mit ihren ar-
rangierten Ehen und derRollenzuwei-
sungderFrau als Reproduktionsmaschi-
ne,sic hzuirreführendenVerallgemeine-
rungenüberdiejüdischeReligionhinrei-
ßen lassen, die sichwie andereReligio-
nen durcheine sehrgroße Vielfalt aus-
zeichnet.Den meistenZuschauerndürf-
te aber bekannt sein, dassalle Religio-
nen ihre„extremen“ Nischen haben,
ohne dabei automatischReligionenge-
nerell zuverteufeln.
Ichhalteesnicht fürgerechtfertigt,
dem Film, weil er ein freiheitliches Ber-
lin der ultraorthodoxenGemeindege-
genüberstellt, Schwarzweißmalereivor-
zuwer fen. Wenn MichaelWolffsohn der
Serie die mangelnde Botschaftankrei-
det, dassReligiondurchausauchfürden
Menschen da seinkann, um „nicht zu-
letzt inZeiten der Epidemie“dem Men-
schen „Halt,Trost, Orientierung und
ethischerKompass“seinzukönnen,hät-
te er mit Bezug auf DeborahFeldman
aucherwähnenkönnen, dassdies eine
Befreiung vonfremdgesetzten Glau-
benssätzen und ein eigenverantwortli-
ches Lebenvoraussetzt.

RUDOLFSCHEMER,FRIEDBERG

WarumItalien?


Ersatzlosweggebrochen


Ein Aspektfehlte


Dichter und Jesuit


Schutz der Risikogruppen


UnterschiedeimAbiturniveau


Extreme Nischen


SEITE 8·MITTWOCH,8.APRIL 2020·NR.84 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

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