Die Welt - 04.04.2020

(Barry) #1
WWWürde man den Schriftsteller als Handwerker derürde man den Schriftsteller als Handwerker der
Wörter verstehen, wäre sein Schreibtisch wohl das
eigenartigste Gerät, das er besäße: Werkbank und
Schwelle zu metaphysischen Höhen zugleich.

VON MARA DELIUS

Nun kennt inzwischen jeder, der in diesen Tagen
zu Hause arbeitet, die Abläufe, den Rhythmus, die
Schritte des alltäglichen Tanzes: ein kurzes Schlei-
chen um den Schreibtisch, der plötzlich zum
Fluchtpunkt der Wohnung geworden ist, schnell

noch einen Tee machen, den Alltagskrempel weg-
schieben, das Browserfenster schließen, die Kinder
vertreiben und dann, langsam andämmernd, Mo-
mente intensiver Konzentration, ein anderer Zu-
stand mitten in der Wirklichkeit. Was soll also den
Schreibtisch eines Schriftstellers zu etwas Beson-
derem machen, außer dass eben, na ja, ein Schrift-
steller an ihm schreibt?
Abgesehen von der existenziellen Frage nach
Schreibgerät (Bleistift, Füller oder Kugelschrei-
ber?) und Notizbuch (No-Name, Moleskine oder
Smythson?) gibt es wahrscheinlich keinen anderen
Gegenstand im Leben eines Schriftstellers, an dem
sich wilder Exegese betreiben ließe, als den
Schreibtisch. Was dem Rockstar die Aufnahme im
zerwühlten Bett ist, ist dem Schriftsteller der ge-
dankenzerfurchte Blick über den Tisch. Allein die
Bilder der Großen des vergangenen Jahrhunderts
zeigen diese Schnittstelle zwischen Leben und
Werk: Hätte ein Thomas Mann je irgendwo anders
schreiben können als an einem schweren, dunklen
Holztisch, im Anzug? Hätte sich Ernest Heming-
way mit seinen weißen Shorts an ein anderes Mö-
bel setzen können als an den behäbig geschwunge-
nen, dicklichen Tisch? Ist Ingeborg Bachmann
denkbar ohne die akkurat platzierte Schreibma-
schine auf zu kleinem Tisch?
Mit so viel hermeneutischem Gepäck beladen,
droht jede Auseinandersetzung mit dem Gegen-
stand als solchem schief zu werden, ein Lauern auf
die Person im Werk und das Werk in der Person,
was dann nicht selten zu einem etwas gewollten
Psychogramm führt, bei dem jeder angespitzte
Bleistift auf eine Wendung im Spätwerk verweist
und die sauber geputzte Glasplatte auf die Poeto-
logie der Transparenz.
Klaus Siblewski hat einen etwas anderen Ansatz
verfolgt, indem er mit zehn Schriftstellern und
Schriftstellerinnen über ihre Schreibtische gespro-
chen hat, in scheinbar schlichten, fast ethnogra-
phischen Gesprächen über die Grundlagen, auf de-
nen sich ein erster Gedanke, ein Satz formt: Was
ist das für ein Tisch, wo steht er, und wie wird an
ihm gearbeitet? Nach und nach ergibt sich so hin-
ter der Banalität des Alltäglichen ein intimer Ein-

blick, einerseits durch Fotografien von Roger
Eberhard, andererseits durch den Tisch selbst, der
im Gespräch zur Chiffre für den Schreibprozess
wird, wie ein stummer Charakter, der den Eintritt
in die seltsame Zone des Entstehens eines Werkes
verspricht.
Jan Wagner, ein Mann mit zwei Schreibtischen
und einem Sessel mit Tisch zum Arbeiten an Lyrik,
springt vom „klassischen Eiermann-Schreibtisch“
zum „runden Holztisch mit der Schreibmaschine“,
wenn er an seinen Gedichten sitzt. Während er
sich dem Schreibtisch „zögerlich“ nähere, setze er
sich in den Sessel „vertrauensvoll“. Muss man sich
den Schriftstellerschreibtisch also als permanent
rufendes Über-Ich vorstellen? Ingo Schulze nimmt
es da etwas prosaischer, für ihn ist sein Schreib-
tisch „einfach der Laptop“ oder auch der „Plaste-
tisch“ in der Datscha. Terézia Mora interessieren
keine „Mythologien“ um Schreibtische, sie habe
ein „pragmatisches Verhältnis“ zu ihrem, „Haupt-
sache, er wackelt nicht“. Friederike Mayröcker da-
gegen hat ihre ganze Wohnung zum Schreibtisch
oder „Nichtschreibtisch“ gemacht, überall sind Pa-
pierstapel und körbeweise Notizen und Briefe:
„Das Ganze sind Schreibobjekte, die ich sehen
muss“, weswegen sie auch niemanden in ihre Räu-
me hineinlasse, das Gesamtkunstwerk Nicht-
schreibtisch darf nicht verändert werden. Diese
Versessenheit auf das Sehen des Geschriebenen
hat einen Grund, der Mayröckers Schaffen be-
dingt: „Ich sehe jeden Satz, bevor ich ihn auf-
schreibe, in meiner Handschrift schon vor mir.“
Ein wenig wünscht man sich am Ende von Si-
bleswkis vielschichtiger Phänomensammlung, dass
noch ein, zwei andere Autoren unter 50 zu Wort ge-
kommen wären, bei denen die modernste Form des
Schreibens vielleicht etwas anderes ist als der mor-
gendliche Gang zum auf dem Eiermann-Schreib-
tisch geparkten MacBook Air. Dennoch gibt es wohl
gerade keinen besseren Zeitpunkt, um den Schreib-
tisch zu feiern: als Ding an sich.

Klaus Siblewski: Es kann nicht still genug sein:
Schriftsteller sprechen über ihre Schreibtische.
Kampa, 192 S., 24 €.

DDDASAS


DING


AN


SICH


Was verrät ein


Schreibtisch über


den Schriftsteller,


der an ihm sitzt?


Eine ästhetische


Inspektion


Stille
PPPsychogramme:sychogramme:
Die Fotografien
von Roger Eber-
hard zeigen oben
die unterschiedli-
chen Schreibtische
von Jan Wagner
und unten den
von Ingo Schulze

ROGER EBERHARD/KAMPA VERLAG

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04.04.20 Samstag, 4. April 2020DWBE-HP


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DIE WELT SAMSTAG,4.APRIL2020 SEITE 25

Ein Journal für das
literarische Geschehen

Gegründet von Willy Haas, 1925

INHALT


Daniel Defoeschildert London im Shutdown, S. 27 Paolo Giordanozählt Viren, S. 28 Brendan Simmsanalysiert Hitler, S. 28


Susan Neimanarbeitet Geschichte auf, S. 28 Edna O’Brienkennt Grausamkeit, S. 29 Alain de Bottonfeiert das Sofa, S. 32


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