Die Welt - 04.04.2020

(Barry) #1

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04.04.20 Samstag, 4. April 2020DWBE-HP


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DIE WELT SAMSTAG,4.APRIL2020 DIE LITERARISCHE WELT 27


M


anhätte es wissen
können: Kaum ist der
realistische Roman ge-
boren, erzählt er
schon von einer Epide-
mie. 1720 ist die Pest
zurück im lebenslusti-
gen Marseille, bald hört man von Ausbrüchen
im quirligen Wien, und Daniel Defoe, der mit
seinem „Robinson Crusoe“ den realistischen
Roman soeben erfunden hat, ist, wie eigent-
lich immer in seinem Leben, nicht aufzuhal-
ten. Jahrelang hat er in seiner eigenen Zeitung


  • „The Review“, eine der ersten überhaupt –
    vor der Pest gewarnt und eine vernünftige
    VVVorbereitung auf sie angemahnt, jetzt machtorbereitung auf sie angemahnt, jetzt macht
    er, was er seit dem „Robinson“ am besten
    kann: Er schreibt eine Doku-Fiktion.


VON WIELAND FREUND

Tatsächlich wird das noch ungeübte Publi-
kum Jahrzehnte brauchen, sein „Journal of
the Plague Year“ (zu Deutsch: „Die Pest in
London“) überhaupt als Roman zu erkennen:
So realistisch ist der Tagebuchton, so gut ist
der Schrecken des Pestjahres 1665 recher-
chiert. Dabei hat es die „regelmäßigen Auf-
zeichnungen“ von damals, auf die sich der
Verfasser namens „H.F.“ zu stützen vorgibt,
nie gegeben, tatsächlich gibt es nicht mal den
Verfasser „H.F.“, zumindest nicht in dieser
Funktion. Denn Defoe hat sich seinen Onkel
H(enry) F(oe) nur geborgt, weil er auf eigene
Erinnerungen nicht zurückgreifen kann: 1665
war er erst fünf und wohl auch gar nicht in
der Stadt; „H.F.“ jedenfalls erzählt von

einem Bruder, der Frau und Kinder rechtzei-
tig nach Bedfordshire geschickt hat, ihnen
selbst sogleich nachreisen wird und auch für
„H.F.“ nur eine einzige Botschaft hat: „Herr,
rette dich selbst!“
Doch Defoe, das ist das Geniale an ihm, ist
ein Mann voller Widersprüche. In Corona-
Begriffe übersetzt, predigt er den Shutdown,
aber er befolgt ihn nicht. „H.F.“ schreibt
eine Chronik zum Zweck der Abschreckung,
aber sie schreckt ihn nicht. Er appelliert an
die Vernunft aller, aber als Einzelner lässt er
sie nicht walten. „Ich aber blieb am Leben“,
lautet der berühmte letzte Satz seines Jour-
nals, und falls das in Ihren Ohren nach Dank-
barkeit oder Gottesfurcht klingen sollte,
sind Sie Defoe, wie so viele vor Ihnen, schon
auf den Leim gegangen.
Denn dieses „Ich aber blieb am Leben“,
das ist der reine Trotz. Wie Robinson auf der
einsamen Insel hat Defoe seine ganze Exi-
stenz mit ihm bestritten: zunächst als Unter-
nehmer, der vor allem Schulden machte,
dann als Schriftsteller, der diese Schulden
mit seinem einsamen Tagwerk tilgte, und
schließlich wieder als allzu sorgloser, gerade-
zu tollkühner Kaufmann, der 1731 auf der
Flucht vor seinen Gläubigern starb. Als
Schriftsteller schrieb Defoe Geschichte und
erntete ewigen Ruhm, seine Biografie aber
legt nahe, dass er eigentlich viel lieber Unter-
nehmer gewesen ist.
Für „H.F.“ und sein Verhalten ist das
wichtig, es rührt an seine innerste Motivati-
on. Denn obwohl er die Pest nahen spürt und
ihren Weg in die Londoner City akribisch do-
kumentiert (die beiden toten Franzosen in

Drury Lane Ende 1664, den kalten Winter,
der die Stadt in trügerischer Sicherheit
wiegt, die lang und länger werdenden Todes-
listen ab April, die Hölle der Sommermona-
te), bleibt er selbst seltsam tatenlos. Er sieht
„Leute aus den reichsten Schichten und Per-
sonen, die unbelastet von Gewerben und Ge-
schäften waren“ rechtzeitig die Stadt verlas-
sen; er rühmt jene, die sich – quasi mit dem
Geschick Robinsons – wappnen und für Mo-
nate in ihren Bürgerhäusern einbunkern;
und er bewundert, was er auf einem seiner
unvernünftigen Streifzüge „über die Felder
gen Bow zu“ entdeckt, nämlich dass sich die
Allerschlauesten beizeiten auf den Fluss zu-
rückgezogen haben, wo sie die Epidemie auf
Schiffen überdauern wollen: „Ich kann die
Zahl der Schiffe nicht erraten, aber ich glau-
be, es müssen mehrere hundert Segel gewe-
sen sein, und ich konnte nicht umhin, der Er-
findsamkeit Beifall zu zollen: denn zehntau-
send und mehr Menschen, die mit der Schiff-
fahrt zu tun hatten, waren hier vor der Hef-
tigkeit der Seuche zuverlässig geschützt und
lebten sehr sicher und ganz unbesorgt.“
„H.F.“ selbst hat kein Schiff, aber ihm
bliebe die Flucht zum Bruder, nur scheint
immer etwas dazwischenzukommen: Erst
kann man „wochenlang ... in der ganzen
Stadt kaum ein Pferd kaufen oder mieten“,
dann, als er sich schon entschlossen hat, zu
Fuß zu gehen (mit einem Zelt, um die mut-
maßlich infizierten Gasthäuser zu meiden),
verliert der Diener, der ihn begleiten soll, die
Nerven und verdünnisiert sich vor der Zeit,
und so wird „die Festsetzung des Aufbruchs
immer durch dieses oder jenes Ereignis

durchkreuzt“, bis ausgerechnet der liebe
Gott den geheimsten Wunsch des Erzählers
erfüllt. „H.F.“ nämlich kommt darauf, dass
„diese Vereitelungen“ seiner Abreise „von
Gott sind“ und „dass es Gottes Wille sei, ich
solle nicht gehen“.
Praktischer ist Frömmigkeit selten gewe-
sen, denn sie verschleiert die wahren Motive
des Erzählers, die der Botschaft seines Textes
zuwiderlaufen. „H.F.“ nämlich betreibt ein
Sattlergeschäft, das sich, wie er stolz zu Pro-
tokoll gibt, „nicht auf ein Laden- oder Gele-
genheitsgeschäft“ stützt, „sondern auf die
Kaufleute, die mit den englischen Kolonien in
Amerika“ handeln. Er ist also einer jener frü-
hen Weltwirtschaftler, die neben allerlei Gü-
tern auch Erreger transportieren, die Defoe
rückhaltlos bewundert und deren Apologie er
wieder und wieder geschrieben hat.
„Ich hatte zwei wichtige Dinge vor mir“,
notiert „H.F.“, seine Lage zusammenfas-
send: „Das eine war mein Geschäft ..., das
beträchtlich war und in dem alle meine irdi-
schen Güter angelegt waren, und das andere
war die Erhaltung meines Lebens in einem
so grässlichen Unglück.“ Der Konflikt ist in
der Corona-Krise wohlbekannt, die Politik
hat ihn damals wie heute zugunsten des Le-
bens entschieden. „H.F.“ aber begibt sich
an seine Arbeit, „wie ich es gewohnt“ war
und schreibt danach nicht nur die berühmte
Chronik der Pest und ihrer hunderttausend
Toten, sondern ebenso eine des wirtschaft-
lichen Niedergangs, die in den Literaturge-
schichten jedoch ungleich weniger Beach-
tung fand. Dabei scheint dies der zentrale
Konflikt des Pestjournals zu sein: Wieder
und wieder stellt es die Frage Geld oder Le-
ben?In einer Szene stehen „H.F.“ und eini-
ge Passanten buchstäblich vor einer verlo-
renen Geldbörse und trauen sich nicht, sie
aufzuheben. Geld geht in diesen Tagen, be-
vor es den Besitzer wechselt, normalerwei-
se durch ein Essigbad.
So manches kommt einem im April 2020
auf gespenstische Weise bekannt vor: „Alle
Gewerbe außer jenen, die unmittelbar zum
Unterhalt“ gehören, kommen „zum Still-
stand“, Handwerksmeister schließen ihren
Betrieb, der Handel kommt fast zum Erliegen,
der Export steht still und „eine unzählbare
Menge von Lakaien, Bedienten, Krämern, Ge-
hilfen, kaufmännischen Buchhaltern“ erhal-
ten „den Abschied“. Ein soloselbstständiger
Pfeifer, der sonst die Kaschemmen unterhält,
wacht auf dem Totenwagen auf, je ärmer je-
mand ist, desto wahrscheinlicher setzt er sich
als Totengräber, Pfleger oder Wächter vor
einem infizierten Haus der Seuche aus.
Und vielleicht ist auch das ausgestorbene
London, das Defoe beschreibt, dem London
dieser Tage weniger unähnlich, als dreihun-
dert Jahre Abstand nahelegen würden. Kut-
schen fahren nicht mehr, weil sie plötzlich
als „gefährliche Dinger“ gelten und die Leute
keine Lust haben, „sich in sie hineinzuwa-
gen“, und auf der Straße „nach der Kirche
von Whitechapel“ wächst auf einmal wieder
Gras. „H.F.“ allein, den es nicht einmal in
der schlimmsten Zeit im Sommer 1665 länger
als vierzehn Tage in seinem Haushalt hält,
kann die Pfade nicht austreten. Aber er er-
hält sein Geschäft und rettet sogar das Haus
seines Bruders vor Plünderung. Er hat das
Geld gewählt, das Leben hat er am Ende ge-
schenkt bekommen.
Die Pest in London nimmt ab der letzten
Septemberwoche ab; „H.F.“ deutet die To-
tenliste wie die Corona-Gesellschaft die Da-
ten der Johns-Hopkins-Universität. Die letz-
ten Seiten seines Journals aber behält er der
unvergleichlichen Erleichterung vor, die wir
noch vor uns haben. „Es ist alles wunderbar;
es ist alles ein Traum“, hört er etwa jeman-
den auf der endlich wieder belebten Straßen
sagen. Ein paar Monate später brennt Lon-
don bis auf die Grundmauern ab.

„Die Pest in London“ erwirbt man
am besten antiquarisch.
Für eine Neuausgabe ist es höchste Zeit.

1 665 fuhren in London Tausende in die Pestgrube ein. Illustration von John Franklin aus dem 19. Jahrhundert, als Defoes „Journal of the Plague Year“ schon ein Klassiker war

PICTURE ALLIANCE / PHOTO12/ANN RONAN PICTURE LIBRARY

/

Geld


oder


Leben


Shutdown anno


1665: Mit seinem


„Robinson Crusoe“


prägte


Daniel Defoe


den bürgerlichen


Roman, in seinem


Pestjournal stellte


er den bürgerlichen


Helden


auf die Probe


D


er italienische Schriftsteller Paolo
Giordano ist Mathematiker, sein De-
bütroman „Die Einsamkeit der
Primzahlen“ war ein Weltbestseller. Auch
sein jetzt in 20 Ländern zeitgleich erschei-
nendes Corona-Tagebuch mit dem Titel „In
Zeiten der Ansteckung“ beginnt mit Mathe.
Die „Mathematik der Ansteckung“ ist neben
der Virologie längst zur zweiten großen Seu-
chen-Disziplin geworden, wenn über „reprä-
sentative Tests“ gesprochen wird oder über
die Infizierten-Dunkelziffer, die sich desto
günstiger zur Sterblichkeitsrate verhält, je
höher sie ist.

VON MARC REICHWEIN

Giordano schreibt als Gesunder und
stellt sich die Menschheit in Form von sie-
beneinhalb Milliarden Kugeln vor, die zu-
nächst von einer einzigen infizierten Kugel
(R-Null) mit Wucht getroffen wird und Ket-
tenreaktionen auslöst, weil jede getroffene

Kugel ihrerseits wieder zweieinhalb weitere
Kugeln trifft.
Was man von dem Buch nicht erwarten
darf (nur weil es ein Italiener geschrieben
hat), dass es die italienischen Verhältnisse
besonders berücksichtigt oder verarbeitet,
die unser kollektives Nachrichtengedächtnis
in den letzten Wochen geprägt haben: Der
Militärkonvoi von Bergamo, der Leichen ab-
transportiert, oder der 101-Jährige von Rimi-
ni, der die Infektion mit dem Coronavirus
überlebte – all die grausamen und im Einzel-
nen auch wieder Mut machenden Bilder und
Meldungen sind bei Giordano kein Thema.
Dazu entstand sein Tagebuch zu früh. Es be-
ginnt am 29. Februar und führt nur bis in die
ersten Tage des März.
Da war in Deutschland gerade mal die
Leipziger Buchmesse abgesagt worden, wäh-
rend die Champions-League-Partie RB Leip-
zig gegen Tottenham noch am 10. März vor
und mit 40.000 feiernden Fans stattfand.
Ende Februar dachte man auch in Rom, wo

Giordano lebt und schreibt: „in einer Woche
ist alles vorbei“. Zunächst „erfasst uns eine
Regung des Protests: Ich lasse mich nicht
fremdbestimmen, ich werde keinem Virus
erlauben, mein Sozialleben kaputt zu ma-
chen. Keinen Monat lang, auch keine Woche,
nicht einmal eine Minute lang.“ Giordanos
Tagebuch führt Protokoll über dieses in un-
seren westlichen Ländern ungewohnte Ge-
fühl individueller Entmachtung: „In Zeiten
der Ansteckung sind wir ein einziger Orga-
nismus. In Zeiten der Ansteckung werden
wir wieder zur Gemeinschaft.“
Giordano sinniert, was Globalisierung
wirklich ist, und fragt, ob die Spezies Mensch
zu invasiv war mit ihrer Hypermobilität, er
notiert, dass auch falsche Nachrichten sich
verbreiten wie Infektionen – und Ressenti-
ments sowieso: „Ein Freund von mir hat eine
Japanerin geheiratet. Sie leben in der Pro-
vinz Mailand und haben eine fünfjährige
Tochter. Gestern waren Mutter und Tochter
im Supermarkt und ein paar Typen fingen an

herumzuschreien, das sei alles ihre Schuld,
sie sollten nach Hause gehen, nach China.“
Es ist ein Buch voller kurzer Notate – und ein
banaler erster Versuch, mit Schreiben auf ei-
ne Gegenwart zu reagieren, deren literari-
sche Qualität sich nicht in aktuellen Corona-
Tagebüchern erschöpfen wird.
Die Stunde der Literatur schlägt bekannt-
lich erst dann, wenn die Gegenwart sich
längst erledigt hat. Das zeigt, mit dem Ab-
stand von 30 Jahren, die Zeitmarke 1989/90:
Über Jahre hinweg erwartete die literarische
Öffentlichkeit dringend denWenderoman
und verhaftete wechselweise Ingo Schulze,
Thomas Brussig oder gar Günter Grass („Ein
weites Feld“) dafür. Am Ende zeigt sich, dass
Lutz Seiler mit „Stern 111“ und 30 Jahren Ab-
stand den Roman geschrieben hat, den da-
mals alle wollten, während das Etikett selbst
erfreulich unwichtig geworden ist. Will sa-
gen: Große Ereignisse bringen selten simul-
tan große Literatur hervor. Müssen sie auch
gar nicht. Für das Versprechen darauf steht

die Zukunft, für den schieren Trost die Ge-
genwart, in der Giordano notiert: „Viel in
dieser Krise hat mit der Zeit zu tun. Mit un-
serer Art, die Zeit zu organisieren, auszufül-
len und zu erleiden. Wir sind in der Gewalt
einer mikroskopisch kleinen Macht, die die
Arroganz besitzt, für uns zu entscheiden.
Wir sehen uns eingeschlossen und sind wü-
tend, wie wenn man im Verkehr feststeckt,
aber ohne jemanden ringsherum. In diesem
unsichtbaren Würgegriff möchten wir zur
Normalität zurückkehren, fühlen wir, dass
wir das Recht dazu haben. Auf einmal scheint
die Normalität unser höchstes Gut, nie hat-
ten wir ihr diese Bedeutung beigemessen,
und wenn wir es genau bedenken, wissen wir
nicht einmal genau, was sie ist: Sie ist das,
was wir wiederhaben wollen.“

Paolo Giordano: In Zeiten der Ansteckung.
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner.
Rowohlt, 80 S., 4,99 € (E-Book),
8 € (Taschenbuch, ab 21. April).

Auf einmal scheint Normalität unser höchstes Gut


Italienische Verhältnisse: Der Mathematiker Paolo Giordano schreibt ein Tagebuch der Corona-Krise


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