Die Welt - 04.04.2020

(Barry) #1

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04.04.20 Samstag, 4. April 2020DWBE-HP


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28 DIE LITERARISCHE WELT DIE WELT SAMSTAG,4.APRIL2020


A


ls ich Susan Neimans neu-
es Buch las, musste ich an
„„„Three Billboards OutsideThree Billboards Outside
Ebbing, Missouri“ denken,
den großartigen Film, in
dem Mildred Hayes – ge-
spielt von Frances McDor-
mand, die dafür den Oscar erhielt – öffent-
liche Anzeigetafeln mietet, um darauf den
Ortssheriff für seine Versäumnisse anzu-
klagen. Weniger rabiat als Mildred Hayes,
aber genau so meinungsstark und ent-
schlossen hält Susan Neiman den Amerika-
nern Versäumnisse in der Bewältigung ih-
rer von Rassismus und Sklaverei geprägten
VVVergangenheit vor. In einem Buch, dessenergangenheit vor. In einem Buch, dessen
Titel so lakonisch klingt wie der Slogan auf
einem Billboard und im Trump-Land als
Provokation erscheinen muss: „Learning
From the Germans“.

VON WOLF LEPENIES

Dennoch gibt der „Versuch einer Amerika-
nerin, die Verbrechen ihres Landes im Lichte
(oder im Dunkel) der deutschen Geschichte
zu betrachten“ dem deutschen Leser keinen
Anlass zur Selbstgerechtigkeit. Denn die Fra-
ge „Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ih-
rer Geschichte umgehen können“ – so der
Untertitel der deutschen Ausgabe des Bu-
ches – kann nicht ohne Rückbesinnung auf
das „Symbol des absolut Bösen“ beantwortet
werden, den von Deutschen verschuldeten
Holocaust. Die Erinnerung an den Holocaust
wiederum, mahnt Neiman, sollte andere na-
tionale Verbrechen wie die Sklaverei und den
politisch abgesicherten Rassismus nicht ver-
decken. Mit den Recherchen für ihr Buch
über die „dunklen Seiten der amerikanischen
Geschichte“ hat Susan Neiman schon wäh-
rend der Präsidentschaft Barack Obamas be-
gonnen. Der Furor ihrer Argumentation aber
wird von der Wut darüber angestachelt, dass
mit Donald Trump ein „geistig verwirrter
Schwindler“ seit 2016 die Richtlinien der
amerikanischen Politik dekretiert und sich
kritischen Rückblicken auf die Geschichte
der Vereinigten Staaten widersetzt.

Die „Vergangenheitsaufarbeitung“ in
Deutschland und den USA miteinander zu
vergleichen, ist ein Balanceakt. Susan Nei-
mans Lebensstationen in Amerika, Israel
und Deutschland bieten die Voraussetzun-
gen, um dabei nicht das Gleichgewicht zu
verlieren: „Mein Leben begann als das eines
weißen Mädchens in den von Rassentren-
nung gezeichneten Südstaaten. Enden wird
es vermutlich als das einer jüdischen Frau in
Berlin.“ In Atlanta (Georgia) geboren, stu-
dierte Neiman Philosophie, promovierte in
Harvard, kam mit einem Stipendium für
mehrere Jahre an die FU Berlin, ging dann an
die Universität Tel Aviv und kehrte 2000 als
Direktorin des Einstein Forums nach Berlin
zurück. In Harvard war sie Assistentin von
John Rawls, dessen „Theorie der Gerechtig-
keit“ die moralphilosophische Debatte der
letzten Jahrzehnte bestimmt hat, 2004 er-
schien ihr Buch „Das Böse denken. Eine an-
dere Geschichte der Philosophie“.
Es gehört zur zynischen Realität der
jüngsten deutschen Geschichte, dass mit
dem Kriegsende kein scharfer Bruch mit
dem Naziregime verbunden war. Von hohen
Regierungsstellen bis in sämtliche Funkti-
onseliten hinein blieben Nazis in Amt und
WWWürden, intellektuelle Unterstützer des Re-ürden, intellektuelle Unterstützer des Re-
gimes wie Martin Heidegger und Carl
Schmitt kehrten nicht mehr an die Universi-
täten zurück, spielten aber nach wie vor im
Geistesleben der Bundesrepublik eine große
Rolle. Ein Schuldeingeständnis fiel den
Deutschen schwer, nicht zuletzt mit Blick
auf die westlichen Alliierten, insbesondere
die USA, wurden eigene Verbrechen relati-
viert: Dresden und Hiroshima hießen die
Stichworte, auch hätten die Amerikaner die
Schwarzen schlechter behandelt als die
Deutschen die Juden. Neiman kritisiert die-
se Phase der deutschen Nichtbewältigung
der Vergangenheit mit Schärfe – um die Ent-
wicklung der letzten Jahrzehnte umso lo-
bender, ja beinahe enthusiastisch zu schil-
dern: „Erst durch die Anerkennung seiner
VVVerbrechen ist Deutschland wieder in dieerbrechen ist Deutschland wieder in die
Familie der zivilisierten Völker aufgenom-
men und zur Führungsmacht in Europa auf-
gestiegen. Der Wille, sich seiner schändli-
chen Geschichte zu stellen, kann zu einem
Beweis der Stärke werden.“
Provozierend auf westdeutsche Leser wird
Susan Neimans Feststellung wirken, in der
Aufarbeitung der Nazivergangenheit stehe
die DDR besser da als die Bundesrepublik.
Sie belegt ihre Behauptung mit sprechenden
Zahlen, ob es sich nun um die Anzahl der
Kriegsverbrecherprozesse, den Verbleib von
Nazis im Amt oder die Sicherung der ehema-
ligen Konzentrationslager zu Gedenkstätten
handelt. Überzeugender noch als die Zahlen
wirken die Interviews, die Susan Neiman mit
früheren DDR-Intellektuellen geführt hat.
Dazu gehören Friedrich Schorlemmer, Her-
mann Simon und Ingo Schulze. Aus den Ge-
sprächen mit ihnen wird deutlich, dass die
im Westen oft verspottete Antifaschismus-
Rhetorik der DDR der politischen Gefühlsla-
ge vieler Bürger entsprach. Dies zeigt eine
Äußerung von Jens Reich, der jeder DDR-
Nostalgie unverdächtig ist: „Viele waren von
der Partei enttäuscht, die sich an ihr antifa-
schistisches Gründungsnarrativ hielt, aber
dabei selbst so verkrustet und verhärtet wur-
de, dass die Jungen nicht mehr an sie zu glau-
ben vermochten. Die Älteren hätten früher
den Mund aufmachen und sagen müssen, das
ist nicht mein Sozialismus. Dennoch ist der
Vorwurf, unser Antifaschismus sei hohl ge-
wesen, keiner, den ich akzeptieren kann. In
dieser Hinsicht kann ich über nichts klagen.“
Mit der Erfahrung der deutschen Vergan-
genheitsarbeit in Ost und West kehrte Susan
Neiman in den amerikanischen Süden zu-
rück. Den strukturellen Rassismus erlebte
sie in Mississippi, dem Staat, „der auf jeder
Liste der von uns geschätzten Güter den

letzten Platz einnimmt: der höchste Kran-
kenstand, der geringste Wohlstand, die mie-
seste Bildung“. Mississippi war der erste
Staat, der die sogenannten „Black Codes“
verabschiedete, mit denen den Schwarzen
praktisch alle Rechte genommen wurden, die
ihnen nach Ende des Bürgerkriegs zugespro-
chen worden waren. 1962 musste John F.
Kennedy 30.000 Soldaten nach Mississippi
schicken, um dem schwarzen Veteranen
James Meredith den Zugang zur Universität
zu ermöglichen. Die „Ära der Neosklaverei“
ging im Grunde genommen erst zwei Jahre
später zu Ende als Präsident Johnson den
„Civil Rights Act“ unterzeichnete.
2 017 verbrachte Susan Neiman ihr Sabba-
tical am William Winter Institute for Racial
Reconciliation in Jackson, Mississippi. Sie
erlebte, wie einer ihrer Kollegen es aus-
drückte, den amerikanischen Süden als
„phantastisches Versuchslabor für die mora-
lische und politische Theorie“. Afroamerika-
ner waren fasziniert, wenn sie ihnen von den
Bemühungen der Deutschen erzählte, sich
dem Makel ihrer Vergangenheit zu stellen.
Besonders eindrucksvoll ist Neimans detail-
lierte Schilderung eines Versuchs zur Ver-
gangenheitsaufarbeitung. Es handelt sich
um den Mord an Emmett Till. Der 14-jährige
Schwarze, der aus Chicago stammte, be-
suchte 1955 in Mississippi seinen Großonkel
und wurde unter dem Vorwurf, einer weißen
Frau nachgepfiffen zu haben, von zwei wei-
ßen Männern entführt, grausam gefoltert
und ermordet. Ein weißes Geschworenenge-
richt brauchte knapp eine Stunde, um die
Männer freizusprechen. Für ein Honorar
von 4000 Dollars gestanden sie vier Monate
später in einem Interview mit der Zeit-
schrift „Look“ den Mord. In den USA kam
man wegen des gleichen Verbrechens nicht
zwei Mal angeklagt werden.
Der „Fall Emmett Till“ führte zu einer
weiteren Mobilisierung der Bürgerrechtsbe-
wegung, 1962 schrieb Bob Dylan seinen Song
„The Death of Emmett Till“. Susan Neiman
suchte die Institutionen auf, die sich in Erin-
nerung an den ermordeten Jungen mit dem
Südstaaten-Rassismus in Vergangenheit und
Gegenwart beschäftigen, dazu gehört das
Emmett Till Interpretive Center in Sumner,
Mississippi. Ihre auf zahlreichen Interviews
beruhenden Erfahrungsberichte gehören zu
den eindrucksvollsten Passagen in Neimans
Buch. Sie zeugen von großer Empathie und
verdichten sich zu dem, was der amerikani-
sche Anthropologe Clifford Geertz als „dich-
te Beschreibung“ (thick description) be-
zeichnet hat. Ich habe die Geschichte Em-
mett Tills, schreibt Susan Neiman, „von vie-
len Standpunkten aus erzählt: von dem eines
liebenden Verwandten, der damals bei dem
Kind war, von dem des Sohnes jenes Mannes,
der gezwungen worden ist, sich am Mord zu
beteiligen, von dem des Sohnes jenes Man-
nes, der auf so bösartige Weise für den Frei-
spruch der Mörder plädierte. All diese Per-
spektiven brauchen wir, wenn wir bemüht
sind, das Ganze zu verstehen.“
Susan Neimans Buch ist eine eindrucks-
volle vergleichende Ethnografie der Vergan-
genheitsaufarbeitung. Wirksam kann ein sol-
cher Vergleich nur werden, wenn er sich an
Maßstab gebenden universellen Prinzipien
orientiert. Diese Prinzipien findet Susan
Neiman in der Philosophie der Aufklärung
und nicht zuletzt in Kants „Metaphysik der
universellen Gerechtigkeit“. In diesem Sinn
versteht sie ihr Buch als eine „Einübung in
Universalismus, in der Hoffnung, dass das
Verstehen von Unterschieden uns hilft, ein
gemeinsames Verständnis zu finden.“

Susan Neiman: Von den Deutschen lernen.
Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer
Geschichte umgehen können. Aus dem
Amerikanischen von Christiana Goldmann.
Hanser Berlin, 575 S., € 28.

VergleichendeVergleichende


Ethnografie


Wie eine Amerikanerin die dunklen Seiten


ihres Landes im Licht der deutschen Vergangenheit erklärt


N


och eine Hitler-Biografie? Was gibt
es denn Neues über ihn zu sagen?
Um es kurz zu sagen: Alles. Bren-
dan Simms verneigt sich zwar bescheiden
vor seinen Vorgängern und spricht in sei-
ner Einleitung lediglich von „erheblichen
Lücken“ in unserem Hitler-Bild. Erwiesen
sich aber die „drei neuen Behauptungen“,
die er über Hitler aufstellt, als tragfähig, so
müsse, sagt er wiederum ganz unbeschei-
den, „die Geschichte des ‚Dritten Reichs‘
grundsätzlich neu überdacht werden“.

VON ALAN POSENER

Diese Behauptungen lauten: Erstens,
dass Hitlers Kampf sich nicht in erster Li-
nie gegen den Bolschewismus oder die So-
wjetunion richtete, sondern gegen „Anglo-
amerika“ und den westlichen Kapitalis-
mus. Zweitens, dass er die Deutschen kei-
neswegs als Herrenrasse sah, sondern im
Gegenteil stets ihre Minderwertigkeit ge-
genüber den „arischen Brüdervölkern“ in
England und den USA im Auge hatte. Und
drittens, dass seine mörderische „negative
Eugenik“ unter anderem gegen die Juden
und „Minderwertige“ aus dem eigenen
Volk gesehen werden muss im Zusammen-
hang einer „positiven Eugenik“, mit der die
Deutschen auf das Niveau der Amerikaner
und Engländer gehoben werden sollten.
An dieser Stelle ist ein autobiografi-
scher Einschub nötig; danach soll das
„Ich“ wieder aus der Darstellung ver-
schwinden. Diese „neuen Behauptungen“
habe ich so ähnlich in den 1960er-Jahren
von meinem deutschen Geschichtslehrer
gehört, der im Nebenberuf Vorsitzender
der erzreaktionären Kolbenheyer-Gesell-
schaft war. Und mir scheint, dass diese
Sicht auf Hitler und das Dritte Reich im
damaligen Deutschland durchaus verbrei-
tet war. In meiner englischen Heimat so-
wieso. Seitdem sind aber besonders in
Deutschland Berge biografischen Schutts
aufgetürmt worden, die den Blick auf Hit-
ler – beabsichtigt oder unbeabsichtigt –
versperren. Der 1967 in Dublin geborene
Simms hat diesen Schutt beseitigt.
Simms entwirft weder ein Psycho-
gramm Hitlers noch der Deutschen. We-
der will er Hitlers paranoiden Judenhass
noch die sonderbare Faszination der Deut-
schen für ihren „Führer“ erklären. In sei-
nem Buch – immerhin 844 Seiten ohne Ap-
parat – geht es fast ausschließlich um die
Entwicklung und Ausformulierung von
Hitlers politischem Denken und die Um-
setzung dieses Denkens in die Praxis. Bio-
grafische Details interessieren ihn eigent-
lich nur, wenn sie der Erhellung politi-
scher Sachverhalte dienen. Spekulationen


  • etwa über Hitlers Geschlechtsleben –
    meidet der Gelehrte immer. Als Quelle
    dienen ihm ausschließlich zeitgenössische
    ÄÄÄußerungen, nie die im Rückblick ge-ußerungen, nie die im Rückblick ge-
    schriebenen, oft apologetischen und im-
    mer wertenden Erinnerungen der ver-
    schiedenen Beteiligten. Es fehlen alle Be-
    schwörungen des Dämonischen, Ausdrü-
    cke der Abscheu, moralische Urteile.
    Simms historisiert Hitler im besten Sinne.
    Von den drei „neuen Behauptungen“ ist
    die erste zweifellos die wichtigste: „Die an-
    gloamerikanische Weltordnung, gegen die
    Hitler revoltierte, bestimmte seine ganze
    politische Laufbahn.“ Als Soldat in Flan-
    dern lernte er die Macht des britischen
    Empires und die materielle Kraft der USA
    kennen. Für ihn stellte der Versailler Ver-
    trag die Unterwerfung Deutschlands unter
    den globalen Kapitalismus angelsächsi-
    scher Prägung dar. Kurz nach dem Krieg
    gelangte er zur Überzeugung, dass hinter
    diesem globalen Kapitalismus die Juden
    steckten. „Sein Judenhass wurzelte also
    weniger in seinem Hass auf die radikale
    Linke als vielmehr in seiner Feindschaft
    gegenüber der globalen Hochfinanz. Wer
    nicht über Hitlers Antikapitalismus reden
    möchte, sollte auch über seinen Antisemi-
    tismus schweigen.“
    In Deutschland freilich haben unter den
    Hitler-Biografen nur Außenseiter wie Rai-
    ner Zitelmann über „Hitler als Revolutio-
    när“ gesprochen. Und Zitelmann tat seiner
    Sache keinen Gefallen, indem er – selbst
    Befürworter eines „selbstbewussten“
    deutschen Nationalismus – sein Hitler-
    Buch vor allem als Polemik gegen die deut-
    sche Linke verstand. Es war die Zeit des
    „Historikerstreits“, bei dem Ernst Nolte
    die These vom „kausalen Nexus“ aufstell-
    te: Der Nationalsozialismus, so Nolte, sei
    vor allem eine Reaktion des verschreckten
    deutschen Bürgertums auf den Terror der
    Bolschewiken in Russland, aber auch in
    Deutschland: Der Gulag sei nicht nur zeit-
    lich, sondern auch kausal dem KZ vorange-
    gangen. Für Nolte war die Periode zwi-
    schen 1917 und 1945 geprägt von einem „eu-


ropäischen Bürgerkrieg“ zwischen Kom-
munismus und Nationalsozialismus, der
mit dem Sieg des Kommunismus begann
und endete.
Noltes Thesen richteten sich auch gegen
die damalige Linke und deren allzu nach-
sichtigen Blick auf die Sowjetunion. Aber
beides kann man nicht haben: Die Linke kri-
tisieren wie Zitelmann, weil sie Hitlers So-
zialismus nicht wahrhaben wollte; und sie
zugleich wie Nolte kritisieren, weil sie die
legitime Angst des Kleinbürgers Hitler vor
dem Sozialismus nicht begriff.
Erstaunlicherweise erwähnt Simms
Nolte mit keinem Wort. Kein Werk Noltes
fffindet sich in der Bibliografie. Und dochindet sich in der Bibliografie. Und doch
nimmt Simms direkt Bezug auf Noltes
Buch „Der europäische Bürgerkrieg“,
wenn er wiederholt unterstreicht, der
Krieg sei für Hitler vor allem „eine Kon-
fffrontation von ‚Ariern‘“, nämlich Deut-rontation von ‚Ariern‘“, nämlich Deut-
sche gegen „Angelsachsen“, „ein germani-
scher Bürgerkrieg“.
Tatsächlich kann Simms mit vielen Bei-
spielen aus Hitlers Büchern, Reden, Tages-
befehlen und Unterhaltungen belegen, dass
es Hitler von 1919, dem Beginn seiner politi-
schen Tätigkeit, und seinem – als Märtyrer-
tod verkündeten – Selbstmord 1945 darum
ging, den Deutschen den „Lebensraum“ zu
verschaffen, den sie seiner Meinung nach
brauchten, um als Weltmacht unter Welt-
mächten mit den anderen beiden „ari-
schen“ Mächten zu konkurrieren: dem Em-
pire und den USA. Zwar verabscheute er
den Kommunismus als Ideologie, weil er
seiner Meinung nach Deutschland spalte
und schwäche; doch vor der Sowjetunion
als Macht hatte er weder Angst noch – bis
Stalingrad – viel Respekt.
Der Angriff auf Stalin erfolgte, um ihm
die Ukraine zu entreißen, die als Kornkam-
mer und Siedlungsraum, Rohstofflieferant
und Binnenmarkt dienen sollte, vielleicht
auch das Öl des Kaukasus. Nur auf diese
Weise konnte er hoffen, die „Angelsach-
sen“ zu einem Verhandlungsfrieden zu
zwingen, die nicht nur materiell und von
der Volkszahl her dem Deutschen Reich
überlegen waren, sondern nach Hitlers
Meinung – und merkwürdigerweise trotz
der Kontrolle durch „das Weltjudentum“ –
auch „rassisch“.
Das Wort „Herrenrasse“ etwa verwen-
dete Hitler nur zur Bezeichnung der eng-
lischen imperialen Oberschicht, die bei
der Eroberung des Weltreichs jene Selbst-
disziplin, „Rassensolidarität“ und Herr-
schermentalität herausgebildet habe, die
der Österreicher bei den Deutschen so
schmerzlich vermisste. Bei den Amerika-
nern habe die Eroberung des Westens
einerseits, andererseits die Einwanderung
der besten Elemente des deutschen Volkes
eine starke Rasse hervorgebracht, deren
materiellen Wohlstand, technischen Fort-
schritt und Selbstbewusstsein Hitler
durch die Eroberung und Besiedlung des
Ostens hervorzubringen hoffte: eine Jahr-
hundertaufgabe.
Simms, der an der Universität Cam-
bridge eine Professur für die Geschichte
der internationalen Beziehungen innehat,
erledigt nebenbei die neueren Thesen
deutscher „postkolonialistischer“ Gelehr-
ter wie Jürgen Zimmerer, die eine Linie
„von Windhuk nach Auschwitz“ ziehen –
so der Titel eines Buchs von Zimmerer,
vorsichtshalber mit Fragezeichen verse-
hen. Nach Zimmerer seien die deutschen
Kolonien in Afrika eine Art Erprobungs-
raum gewesen für die spätere genozidale
Politik Hitlers in Osteuropa.
Davon will Simms nichts wissen, er ord-
net die Politik Hitlers wie folgt ein: „Für
seine Haltung zur slawischen Bevölkerung
dienten ihm weder die deutschen noch an-
dere kontinentaleuropäische Kolonialer-
fahrungen in Afrika als Vorbild, sondern
Britisch-Indien, das Mandatssystem und
die angloamerikanische Auslöschung der
nordamerikanischen Indianer.“ Tatsäch-
lich schwankte Hitler immer wieder zwi-
schen der britischen Lösung, die darin be-
stand, in Indien die örtlichen Fürstentü-
mer als Vasallenstaaten weitgehend intakt
zu lassen, und der amerikanischen: Mal sah
er die Slawen als Inder, mal als Indianer.
Kurz und gut: Diese Hitler-Biografie hat
das Zeug, nicht nur unser Bild auf die Ver-
gangenheit und frühere Geschichtsdebat-
ten zu ändern, sondern den Kontext gegen-
wärtiger Diskussionen nachhaltig zu beein-
flussen. Jetzt, da sich Europa anschickt,
eine geopolitische Rolle zu beanspruchen
und auf deutsche Führung wartet, während
Kleinbritannien zu einem Winkel der Ang-
losphäre zusammenschrumpft, ist die Lek-
türe erst recht spannend.

Brendan Simms: Hitler. Eine globale Bio-
graphie.DVA, 1056 S., 44 €.

Er ist


wieder da


Braucht die Welt noch eine Hitler-Biografie?


Brendan Simms schafft das Unmögliche


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