Die Welt - 04.04.2020

(Barry) #1

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04.04.20 Samstag, 4. April 2020DWBE-HP


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DIE WELT SAMSTAG,4.APRIL2020 DIE LITERARISCHE WELT 29


S


ie lebt seit mehr als sechzig
Jahren in London. Ähnlich
wie Joyce und Beckett, zwei
der literarischen Heroen,
mit deren Geistern sie ihr
kleines Haus im Stadtteil
Chelsea teilt, fand auch die
im Dezember 1930 im irischen County Clare
geborene Edna O’Brien ihre Heimat im Exil.
Im offenen Kamin ihres Wohnzimmers
brennt ein Feuer, auf dem Couchtisch steht
ein Tablett mit Tee und Kuchen, aus dem Ne-
benzimmer hört man leise klassische Musik.
O’Brien sitzt auf dem Sofa, eine dunkel ge-
kleidete Frau mit transparenter Haut und
rostrotem Haar. Ihr Gesicht ist mit den Jah-
ren etwas schmaler geworden, aber der Aus-
druck ihrer grünen Augen ist von zeitloser
Intensität. O’Briens neuer Roman „Das Mäd-
chen“ (Aus dem Englischen von Kathrin Ra-
zum. Hoffmann und Campe, 256 S., 23 €) ist
das fulminante Alterswerk einer Autorin, die
wie ihre geisterhaften Idole längst unsterb-
lich scheint.

VON THOMAS DAVID

LITERARISCHE WELT: Als wir vor drei Jah-
ren über „Die kleinen roten Stühle“ spra-
chen, fürchtete ich, es könne sich bei die-
sem Roman um das metaphorische „letzte
Festmahl“ handeln, von dem am Ende Ih-
rer 2012 erschienenen Memoiren die Rede
ist. Es freut mich, dass Sie im Alter von 89
Jahren mit „Das Mädchen“ ein weiteres
Festmahl feiern.
EDNA O’BRIEN: Ich denke oft an Dantes
neun Kreise der Hölle und vermute in etwas
zuversichtlicheren Momenten, dass es ir-
gendwo auch die neun Kreise des Himmels
geben muss. Ich weiß nicht mehr, ob ich zum
Zeitpunkt unseres letzten Treffens schon in
Nigeria gewesen war, wo „Das Mädchen“
spielt, aber irgendwo in mir hatte ich die
Hoffnung oder die Notwendigkeit verspürt,
ein weiteres Buch zu schreiben. Mit zuneh-
mendem Alter nimmt die Energie ab, und es
wird schwieriger, ein Buch zu schreiben. Ich
trage auch jetzt den Keim eines Buchs in mir,
aber ich bin mir nicht sicher, ob ich die Kraft
haben werde, es zu schreiben.

Wie erklären Sie sich die Notwendigkeit,
noch im hohen Alter schreiben zu müssen?
Sie ist organischer Natur. Jenseits aller Am-
bitionen, jenseits der Tücken und Freuden
der Veröffentlichung. Jenseits des Alltägli-
chen und des Weltlichen. Es handelt sich um
eine innere Notwendigkeit, mit der ich gebo-
ren wurde. So weit meine Erinnerung zu-
rückreicht, war Sprache für mich das Dring-
lichste, beinahe Heiligste. Durch Sprache,
durch einen Roman oder ein Gedicht oder
ein Theaterstück, kann ich meine Existenz
rechtfertigen. Egal wie schmerzhaft, und ich
versichere Ihnen, es ist schmerzhaft, einen
Roman wie „Das Mädchen“ zu schreiben:
Beim Schreiben erlebe ich manchmal eine
Ekstase oder doch wenigstens einen Grund
zu leben. Wörter sind zugleich meine Peini-
ger und meine besten Freunde.

Auch Maryam, die von Boko Haram ent-
führte Icherzählerin Ihres Romans, erlebt
Wörter als ihre „einzigen Freunde“ und
bezeichnet ihr Tagebuch zu Beginn ihres
Martyriums als „letzte Verbindung zu mei-
nem Leben“. Obwohl „Das Mädchen“ von
der Verschleppung Hunderter Schülerin-
nen aus dem nigerianischen Chibok im
April 2014 inspiriert ist, scheint der Roman
auch eigene Erfahrungen zu reflektieren.
Eigene Erfahrungen sind ebenso eingeflos-
sen wie all die griechischen Mythen, die ich
gelesen habe. Elektra, Medea. Auch wenn die
eigentliche Erzählung eine andere ist, die In-
tensität oder wenn Sie so wollen der Wahn
ist der gleiche. Ich hatte in einer Zeitung von
einem Mädchen gelesen, das mit ihrem Baby
durch die Wildnis des Sambisa-Walds geirrt

war, und wusste sofort: Das ist die Geschich-
te, die ich schreiben werde. Ich wusste nichts
über Nigeria und jeder sagte mir: „Du kannst
dort nicht hinreisen. Es ist zu gefährlich für
eine Frau in ihren späten Achtzigern.“

Es ist zu gefährlich.
Aber ich musste nach Nigeria reisen, weil ich
ein Thema gefunden hatte, das außerhalb
meiner eigenen Erfahrung lag. Ein Thema,
das nichts mit Irland zu tun hatte, nichts mit

der Liebe. Aber eines, das mein inneres
Selbst in der Geschichte eines anderen Men-
schen zum Schwingen brachte. Ich habe auf
meiner Reise etwa vierzig Notizbücher voll-
geschrieben, und jedes der entführten Mäd-
chen, das mit mir sprach, erzählte seine Ge-
schichte anders oder sprach nur wenig über
den Horror der eigenen Geschichte. Ich
musste alles, was ich in Nigeria sah und hör-
te, in mich aufnehmen, in mir selbst leben
und atmen lassen und in einer einzigen Stim-

me wiedergeben. In einer Medea, einer Elek-
tra. In einer Maryam.

Wie ist es, an einer Geschichte von derart
erschreckender Grausamkeit zu arbeiten?
Es ging so weit, dass ich während der Arbeit
an diesem Buch erkrankte.

Ich habe aus dem Porträt im „New Yorker“
von Ihrer Krebserkrankung erfahren.
Ich war jede Sekunde, egal ob Tag oder
Nacht, egal ob wach oder schlafend bei dem
Buch. Ich vermeide während des Schreibens
stets den Kontakt zu anderen Menschen. Ich
gehe nicht umher und sage: „Oh, ich bin
Schriftstellerin oder Künstlerin.“ Ich habe
nichts von dieser Grandezza und verab-
scheue sie. Ich bin nur tief in mir und denke
nach. Das verlangt nach Witwenstand, nach
Stille, nach Klausur. Und es verlangt nach
den kleinen Momenten der Offenbarung.

Als ich vom „Mädchen“ hörte, fand ich in-
teressant, dass Sie in Zeiten des Brexits
von Afrika erzählen, während sich Autoren
wie Ian McEwan mit der „Kakerlake“ der
unmittelbaren Gegenwart annehmen.
„Die Kakerlake“ ist keines von Ians besten
Büchern. Er hat mir einen wunderbaren
Brief über „Das Mädchen“ geschrieben, wes-
halb er und seine Frau neulich auch zum
Dinner hier waren. Ich hatte immer ge-
glaubt, er habe keine hohe Meinung von mir,
aber sein Brief war voller Überschwang und
Bewunderung. Wenn jemand wie Ian einen
Roman wie „Das Mädchen“ schriebe, würde
er sehr viel Gegenwart einflechten, während
ich eher an einer Allgemeingültigkeit und
Zeitlosigkeit interessiert bin. Als Schriftstel-
ler oder Schriftstellerin ist man das Ergeb-
nis seiner Vorstellungskraft, seiner Erfah-
rung und des Schicksals. Jeder Schriftsteller
ist anders, und mich haben, abgesehen von
Joyce und Beckett, deren Einflüsse unver-
meidlich waren, die russischen Schriftsteller
geprägt. Ich hätte nie „Die Fünfzehnjähri-
gen“ schreiben können, ohne zuvor Tsche-
chows Reiseerzählung „Die Steppe“ gelesen
zu haben, obwohl Tschechow in einem ande-
ren Land spielt und eine gänzlich andere Ge-
schichte erzählt als mein Roman über die
Mädchen aus der irischen Provinz.

Wie Tschechow haben Sie in Ihrem Debüt-
roman von Ihrem eigenen Land erzählt,
während Sie für Ihren aktuellen Afrika-Ro-
man von manchen Kritikern der cultural
appropriation bezichtigt wurden.
Mir wurde „Frechheit“ vorgeworfen, von ei-
nem fremden Land zu erzählen, ja sogar
„Diebstahl“. Darüber war ich sehr verärgert
und bin es noch immer. Aber es gab auch
Stimmen, die den Roman verteidigt und da-
rauf hingewiesen haben, dass Literatur sehr
viel ärmer wäre, wenn Schriftsteller gezwun-
gen wären, innerhalb ihrer nationalen Gren-
zen zu verbleiben. Meine eigene Geschichte
mag anders sein als die des nigerianischen
Mädchens, von dem mein Roman handelt,
aber etwas ist nicht anders, und das sind un-
sere Gefühle. Vergewaltigung, Trennung,
Grausamkeit, das Gefühl, von der eigenen
Sippe verstoßen zu werden, so wie es Mary-
am widerfährt, die das Kind eines Dschiha-
disten zur Welt bringt und nach ihrer Flucht
von der eigenen Familie verbannt wird, diese
menschliche Natur ist auf der ganzen Welt
gleich. Umstände mögen anders sein, das
Territorium, aber die Verletzlichkeit, der
Mut, die Fähigkeit, etwas zu erdulden, der
Kampf oder der Sturz eines Menschen unter-
scheiden sich nicht.

Zeigt die Kritik an „Das Mädchen“, dass
im Klima der Political Correctness auch
die Literatur bisweilen einem Missver-
ständnis unterliegt und auf das Niveau ei-
nes journalistischen Leitartikels redu-
ziert wird?
Die Trivialität und das Fehlen einer rück-

haltlosen Ernsthaftigkeit hat auch in den hö-
heren Rängen der Literatur zugenommen.
Eine Menge an gegenwärtig sehr erfolgrei-
chen Bücher scheint nicht aus den Tiefen
der Seele zu kommen, sondern lediglich die
Gunst der Stunde zu nutzen. Die Tatsache,
dass Flaubert drei Monate brauchte, um ein
paar Wolken zu beschreiben, erscheint vie-
len heute nur noch lächerlich. Die meisten
Leser wollen ein literarisches Äquivalent
zum Fast Food. Aber das ist nicht in meinem
Sinne. Wir wollen schließlich auch nicht,
dass ein Scherenschleifer eine Gehirnopera-
tion durchführt, sondern jemand, der dieser
speziellen Arbeit sein gesamtes Leben ge-
widmet hat.

Ihr Werk hat in den letzten Jahren große
Anerkennung erfahren und wurde mit re-
nommierten Preisen ausgezeichnet.
In Frankreich habe ich den Prix Femina
Spécial für mein Gesamtwerk und in Eng-
land den sehr schönen David Cohen Prize er-
halten.

Ein Preis, mit dem unter anderen V. S. Nai-
paul, Doris Lessing und Seamus Heaney
ausgezeichnet wurden. Angesichts dieser
Ehren kann man sich kaum mehr vorstel-
len, dass Ihre frühen Romane in Irland
zensiert, verbannt und sogar öffentlich
verbrannt wurden.
Ich wurde hart bestraft. Anfangs wurde
mein Werk skandalisiert und verbrannt,
dann habe ich falsche Interviews gegeben,
wwwurde von Journalisten als leichtes Mäd-urde von Journalisten als leichtes Mäd-
chen dargestellt. Damals war ich grausamen
Angriffen ausgesetzt – insbesondere in Ir-
land und England, wo man behauptete, dass
ich mich in meinen Romanen in Terrains
vorwagte, die sich für eine Frau nicht gezie-
men. Aber jeder Schriftsteller ist androgy-
ner Natur, ganz gleich, ob es sich um einen
Mann oder eine Frau handelt. Ich musste
lange leben, um für das, was ich geleistet ha-
be, Anerkennung zu erhalten.

Können Sie „den Wilden“ in sich beschrei-
ben, den Ihr Freund Philip Roth in Ihnen
zu sehen glaubte?
Ja, ich trage eine Grausamkeit oder Brutali-
tät in mir, und Philip hatte das erkannt. Als
junges Mädchen, in der vorsprachlichen Pha-
se, bin ich Zeuge von Schmerz und Gewalt
geworden. Ich weiß, dass ich stellvertretend
für meine Mutter Mordgier verspürte und
mich deswegen zugleich schuldig fühlte. Ich
bin auch ein zärtlicher Mensch. Wenn ich
ausschließlich grausam wäre, hätte ich nie-
mals Schriftstellerin werden können, son-
dern würde mit einer Pistole herumlaufen.
Ich kann keine Unwahrheit ertragen, keine
Heuchelei, keine Lüge. Ich bin niemand, der
die Beherrschung verliert, aber ich bin eine
Richterin. Ich urteile über Menschen, und
bereits das ist grausam. Wenn ich Trivialität,
falschen Glanz oder Lüge entdecke, werde
ich verrückt vor Zorn.

Hat das, wie man Ihren Memoiren entneh-
men kann, mit der komplizierten Bezie-
hung zu Ihrem Vater zu tun?
Es war keine komplizierte Beziehung. Es war
Schrecken und Hass. Etwas, das mich ge-
formt hat. Ich bemitleide meinen Vater und
weiß, dass er vermutlich gewünscht hätte,
niemals solchen Schrecken in mir hervorge-
rufen zu haben. Aber das hat er. Ich kann für
Sie nicht jeden einzelnen Schlag meines Her-
zens analysieren, aber es ist die Kindheit, die
uns formt. Gebe ich meinen Eltern Schuld?
Ja. Bemitleide ich sie? Ja. Bin ich ihnen dank-
bar, dass sie mir Talent geschenkt haben? Ja.
Ich wäre im Leben gern etwas glücklicher ge-
wesen, hätte gern etwas mehr Leichtigkeit
gehabt. Ich würde gern Schach spielen und
schwimmen können und Dinge tun, die Leu-
te eben so tun. Aber ich glaube nicht, dass
sich das Raunen in meinem Herzen jetzt
noch beruhigen wird.

„WÖRTER SIND


ZUGLEICH MEINE


PEINIGER UND


MEINE BESTEN


FREUNDE“


Edna O’Brien war in ihrer Heimat Irland


lange verpönt. Ein Gespräch über die


Grausamkeiten des Lebens, die Untiefen


des Schreibens und ihren Freund Philip Roth


A


n einem Maimorgen im Jahr 1980 be-
trat die Schauspielerin Katherine
O’Dell das Dubliner Büro des Film-
produzenten Boyd O’Neill, hob ein Gewehr
hoch und schoss ihm in den Fuß. Danach
ging sie in das Café „Bewleys“ auf der Graf-
ton Street, aß eine Zimtschnecke, plauderte
mit der Kellnerin und fuhr nach Hause. Un-
gefähr eine Stunde später wurde sie von der
Polizei dort abgeholt und verhört. War sie
verrückt geworden? Warum? Wann hatte das
alles angefangen?

VON EVA SCHÄFERS

Dies ist eines der großen Rätsel des Ro-
mans „Die Schauspielerin“ von Anne En-
right, den Eva Bonné nuancenreich ins Deut-
sche übertragen hat: ein Roman in der Ich-
form, der sich das fein durchwirkte Gewand
einer Autobiografie übergeworfen hat. No-
rah, Katherine O’Dells Tochter, spürt dem
rätselhaften Leben ihrer geliebten Mutter
nach, die in ihrer Blütezeit einmal sehr be-

rühmt gewesen war. Zwischen den eher kur-
zen Momentaufnahmen ihrer eigenen Ge-
genwart blendet sie zurück in die Vergangen-
heit ihrer Mutter, von den irischen Provinz-
bühnen der Kindheit über erste Erfolge in
Dublin bis nach Hollywood mit dem Gla-
mour des Starsystems und der Allmacht des
Studios, das ihr Image diktierte und sie sogar
in eine Ehe mit einem attraktiven, aber ho-
mosexuellen Schauspieler zwang.
Dabei will Norah zwei große Fragen klä-
ren: Warum schoss ihre Mutter Boyd O’Neill
in den Fuß? Und wer ist eigentlich ihr leib-
licher Vater? Das Seltsame ist, dass sie ihre
eigene Detektivarbeit in ein Licht taucht,
das sie uns ziemlich unsympathisch, fast
heimtückisch erscheinen lässt. Sie ver-
gleicht ihr Tun mit einer sich langsam verdi-
ckenden Weinrebe, die sich unbemerkt an
einer Hauswand emporrankt und am Ende
mit ihrer zerstörerischen Gewalt das ganze
Haus zu Fall bringt.
Der bestimmte Artikel im Titel „Die
Schauspielerin“ deutet auf ein herausgeho-

benes Individuum, während das englisch-iri-
sche Original, „Actress“, eher den Prototyp
einer Schauspielerin im Blick zu haben
scheint. Auf dem schwarz-weißen Titelfoto
des Bandes ist ein kleines Mädchen zu sehen,
Frisur und Mäntelchen wie aus den Sechzi-
gerjahren, das von der dunklen Bühnenseite
eine Schauspielerin im hellen Rampenlicht
beobachtet. Mit Theatralik streckt diese ei-
nem unsichtbaren Publikum ihre Arme ent-
gegen. Tatsächlich fragt die gefeierte Akteu-
rin ihre kleine Tochter nach jeder Vorstel-
lung atemlos: Und, wie war ich?
Dabei gewinnen wir dank der seismografi-
schen Beobachtungsgabe dieser begnadeten
Erzählerin intelligente Einblicke in diese
sich immer völlig verausgabende Schauspie-
lerin und in die Profession überhaupt. Die
Erschöpfung nach ihrer Leistung auf der
Bühne, die ebenfalls charismatische Darstel-
lung ihrer öffentlichen Person und der lange
Weg zurück zu der fast unbekannten, priva-
ten Katherine. Irgendwann hat sie zu dieser
realen Welt nicht mehr zurückgefunden. Für

die private Katherine interessiert sich aber
auch fast niemand. Außer der hingebungs-
vollen Tochter, aus deren Sicht wir auch all
die zwiespältigen Männer erleben, die sich
zu berauschten Partys in Katherines Küche
im Dubliner Haus zusammenscharen, darun-
ter auch Boyd O’Neill, ein abweisender Ego-
zentriker mit manipulativen Tendenzen.
Dabei ist die große Begabung dieser Er-
zählerin und damit natürlich ihrer Schöpfe-
rin Anne Enright, zwiespältige Gefühle zwi-
schen Anziehung und Ablehnung zu erfor-
schen und sie oft mit einem Bild oder Ver-
gleich wie in einem Schraubstock zusam-
menzuzwingen. Und mit einem prosaisch-
poetischen Bild zeigt uns Anne Enright, wie
sich der Gesichtskreis Norahs verengt hat:
Die Sonne hinter ihrem Küchenfenster
bringt die Scheibe zum Glühen wie eine
„silbrige Membran aus Staub und Dreck, so-
dass man vor lauter Dreck und Schmutz
nicht mehr nach draußen sehen konnte“. No-
rahs Blick ist ab einem bestimmten Moment
nur noch nach innen gerichtet.

Doch können wir dem Wahrheitsgehalt
ihrer feinsinnigen, oft aber ziemlich ruppig
daherkommenden Schilderung überhaupt
trauen? An einer Stelle behauptet sie forsch,
es sei ja nun ziemlich klar, dass sie keinen
VVVaterkomplex habe. Die Beziehung zur Mut-aterkomplex habe. Die Beziehung zur Mut-
ter sei ihr genug. Doch die Suche nach ihrem
VVVater durchzieht das ganze Buch – und im-ater durchzieht das ganze Buch – und im-
mer wieder lässt die Autorin Enright subtil
durchschimmern, dass wir ihrer klugen Er-
zählerin nicht immer trauen können. Das ist
erzähltechnisch raffiniert, doch Gott sei
Dank bleibt dieser Roman in solchen meta-
fffiktionalen Schleifen nicht stecken. Denniktionalen Schleifen nicht stecken. Denn
die großen Fragen nach Schuld, Verantwor-
tung und Vaterschaft treiben die Handlung
voran wie in einem Western: Warum schoss
Katherine O’Dell dem Produzenten Boyd
O’Neill in den Fuß? Und warum eigentlich
nur in den Fuß?

Anne Enright: Die Schauspielerin.
Aus dem Englischen von Eva Bonné.
Penguin, 304 S., 22 €.

Das ewige Spiel von Anziehung und Ablehnung


Von Dublin bis Hollywood: Anne Enright spürt den düsteren Geheimnissen einer charismatischen Frau nach


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