Die Welt - 04.04.2020

(Barry) #1

D


ie Wohnung ist unver-
letzlich. So steht es im
Artikel 13 Absatz 1 des
Grundgesetzes für die
Bundesrepublik
Deutschland. Der Ge-
setzgeber hatte eigent-
lich Verletzungen von außen im Sinn, als er
den Schutz der Wohnung in die Verfassung
aufnahm. Niemand soll ohne richterlichen
Beschluss oder Gefahr im Verzuge in die
Wohnung eindringen dürfen. Mit den Aus-
gangsbeschränkungen der Bundesregierung
wegen der Covid-19-Pandemiehat sich die
Situation nun gedreht. Wir sollen unsere
Wohnungen nicht mehr verlassen.

VON MARCUS WOELLER

Gar nicht so schlimm, oder? Man kommt
den Coronaviren nicht so nahe. Und schließ-
lich hat man ja in den vergangenen Jahren
und Monaten viel Zeit darauf verwendet, die
Wohnung nach den neuesten Trends einzu-
richten. Ein schwedischer Möbeldiscounter
hatte den Boden bereitet. Schon vor knapp
zwanzig Jahren fragte der Ivar-und-Billy-
Produzent „Wohnst du noch oder lebst du
schon?“.
Der in Millionen Haushalte gelieferte Mö-
belkatalog veränderte sich und stellte weni-
ger die Pressspantische, -schränke und -rega-
le vor, als Ideen, wie man sie in der Wohnung
aufstellen und welchen Zier- und Unrat man
dazwischen räumen könnte, wie man aus
nützlichen und unnützen Dingen ein persön-
liches Umfeld gestalten und mit uniformen
Massenprodukten ein individuelles Heim an-
richten könnte.
Der nächste Trend kam aus Dänemark.
Was den Deutschen ihre Gemütlichkeit, ist
den Dänen (und den Norwegern, aus deren
Sprache das Wort eigentlich stammt) Hygge.
Das heißt so viel wie Wohlbefinden. Vor al-
lem ist Hygge aber ein prima Container für
alles was die Lifestyle-PR hineinwerfen will.
Für nicht skandinavische Ohren klingt der
Begriff wie ein Produkt aus dem Ikea-Pro-
spekt oder ein Kunstwort der Konsumgüter-
industrie. Hygge benennt aber keinen knuffi-
gen Klein-SUV, sondern ein Lebensgefühl:
Die einfachen Dinge genießen.
Bei Werbefotografen sieht das meist so
aus: Nackte Beine liegen auf einer Couch (in
vielen Jahren des Wohlbefindens abgegriffe-
nes Veloursleder oder königsblauer Baum-
wollsamt), die Füße stecken in dicken Woll-
socken (handgestrickt aus dem Flaumhaar
ökologisch aufgezogener Alpakas), auf dem
originellen Beistelltischchen (von einem fin-
nischen oder italienischen Autorendesigner)
dampft der Tee (Finest Tippy Golden Flowe-
ry Orange Pekoe Darjeeling, fair gehandelt).
Im Hintergrund sind die Möbel sorgsamst
arrangiert, extravagante Künstlerkeramik
ruht auf Lochspitzendeckchen aus der Aus-
steuertruhe der Erbtante, Bücher reihen sich
nicht in Bibliotheksausmaßen, sondern wer-
den vor sattfarbigen Textiltapeten vereinzelt
ausgestellt wie die übrigen Preziosen (von
den Kindern gemalte Kopffüßer in angelaufe-
nen Silberrahmen, Stillleben von selbst im
Herbarium gepressten Blumen, Mitbringsel
von der letzten Individualreise nach Myan-
mar). Sieht es nicht bei uns allen so aus?
Irgendwie schon, irgendwie nicht. Jeden-
falls, wenn man sich an die letzte Videokon-
ferenz mit den Kollegen in ihren Homeof-
fices erinnert. Gut, mancher sitzt im Pyjama
vor der Bücherwand, andere senden subtile-
re Botschaften über geschickt platzierte Foli-
anten. Aber viel mehr wird von den Wohnun-
gen nicht preisgegeben. Meist nackter Putz.
Selten mal ein Bild an der Wand. Ein Fenster
zum Hof. Viel Behelfsregale. Aktenordner.
Immerhin ein paar tragen ihre hyggeligsten
Wollpullover.
Vielleicht ist der Bildwinkel der Laptopka-
meras das Problem. Aber niemand scheint
beim lässigen Konferieren von daheim in ei-
ner Sitzlandschaft zu versinken. Wo sind die
geschmackvoll kuratierten Wandborde? Wo
werfen kostbare Deckenlampen verrückte
Schatten an die Wand? In der Viko sieht alles
aus wie von nackten LED-Birnen ausgeleuch-
tet. Und Marie Kondo ist auch schon länger
nicht mehr dagewesen.
Die Ordnungsgeisha aus Tokio lehrt häus-
liches Aufräumen – systematisch, Zen-
streng und mit einem Hauch fernöstlicher
Esoterik. Sie gibt Kurse und bringt Bücher
heraus, in denen sie uns beibringt, welche
Dinge man wegwerfen kann und wie man
die verbliebenen so aufbewahrt, dass man
sie a) wiederfindet, sich b) an ihrem Dasein
erfreut und c) sogar Glück aus ihnen
schöpft, nur weil man sie sieht.
Mit dem kreativen Hygge-Wohlfühlchaos
hat das wenig zu tun. Und nicht einmal viel
mit der Bundeswehrlogik, T-Shirts und Hem-
den so auf DIN-Format zu falten, dass sie in
den Spind passen. Denn mit Friedrich Schil-
lers„Raum ist in der kleinsten Hütte“ kann
Marie Kondo nichts anfangen. Ihr Dogma ist
Platz schaffen: Zehn Kostüme, sechs Pullo-
ver und zwei Hutschachteln sind in einem
drei Meter breiten Kleiderschrank dann auch
wirklich sehr hübsch unterzubringen.
Trotz Pre-School-Shutdown ungerührt
von der Corona-Krise ließ die Mutter zweier
Töchter im Alter von drei und vier Jahren die
Leser der „New York Times“ vor einigen Ta-
gen aus ihrem Homeoffice wissen: „Es ist ei-
ne herausfordernde und unsichere Zeit, aber
es kann auch eine Gelegenheit sein, ihren

Räumlichkeiten Dankbarkeit zu zeigen und
sie aufzuräumen.“ Würde man ja gern, allein
es fehlt an Zeit und Platz und bequemem Le-
sesessel und dem auch vom Finanzamt ak-
zeptierten häuslichen Arbeitszimmer und,
und, und. Vielleicht fehlt es nur an der nöti-
gen Muße, würde Kondo diagnostizieren.
Vielleicht ist man auch nur zu plötzlich in
die häusliche Isolation gegangen. Wir sind
eben nicht nur ungewollt in die Digitalisie-
rung geschleudert worden, berichtet die
Kommunikationswissenschaftlerin Miriam
Meckel (vor nackter weißer Wand) in einem
Video-Interview, sondern auch völlig unvor-
bereitet ins digitale Homeoffice. Der Traum
von der hygge Wohnkultur wird da binnen
Tagen zum Albtraum.
Die perfekt arrangierte Illusion des gemütli-
chen Heims hält der Belastung durch Wohnen,
Leben, Arbeiten, Kinderbetreuung, Kochen,
AAAufräumen, Putzen einfach nicht mehr stand.ufräumen, Putzen einfach nicht mehr stand.
Die Vorstellung von einem Leben zu Hause
wwwie in der Boutiquehotelsuite ist schnell aus-ie in der Boutiquehotelsuite ist schnell aus-
geträumt, wenn die Putzhilfe in den Corona-
Ferien ist, zwei Homeofficer trotz ihrer Mo-
hair-Plaids kalte Füße am Küchentisch bekom-
men und die Kinder nicht nur ihre 120-teilige
Playmobilpiratenschatztruhe in der Wohnaus-
stellung ausgekippt haben.
Hygge war einmal. Die Ästhetik der offe-
nen Wohnlandschaft, des zwischenwandlo-
sen Lofts ist ebenso passé, angesichts der
Ansteckungsgefahr auch die soziale Vision
der Mehrgenerationen-WG. Der ukrainische
Architekt Sergey Makhnosieht mit der Coro-
na-Epidemie schon das Ende von Hochhäu-
sern und dem sozialen Wohnungsbau kom-
men, neuen Wind dagegen für private Bun-
ker und natürlich das gute alte Eigenheim
mit Gärtchen, durch Mauern gut separiert
von den Nachbarn. Groß müsse es gar nicht

sein – hier flackert noch ein fast vergessener
Trend der letzten Jahre auf, das kühn de-
signte Tiny House.
Glücklich können sich nun mal wieder die
alleinstehenden Bewohner großbürgerlicher
Altbauwohnungen fühlen, deren Gründer-
zeitetagen schon immer für das Zuhause-
Bleiben einluden. Und irgendwo in einem
der vielen Zimmer wird schon noch ein Bie-
dermeier-Sekretär herumstehen, der nur da-
rauf wartet, endlich benutzt zu werden.
AAAuch der Gegenentwurf dieser Wohn-uch der Gegenentwurf dieser Wohn-
ffform, das im vergangenen Jahr groß gefeier-orm, das im vergangenen Jahr groß gefeier-
te und gleichfalls geschmähte Bauhaus-
WWWohnen zeigt nun seine Vorteile. Hier warohnen zeigt nun seine Vorteile. Hier war
das moderne Familienhaus auf Zweckmä-
ßigkeit geplant und seien die Zimmer noch
so tiny. Alle hatten hier Sinn und Form,
nichts bot sich an, mit Nippes dekoriert zu
werden. Schnell konnte irgendwo eine Plat-
te ausgeklappt werden, um den Computer
hinzustellen oder Zwiebeln zu schneiden.
Alles war leicht zu reinigen, funktional und
irgendwie so aseptisch, wie wir es in der
Quarantäne jetzt gern hätten.
Und was kommt jetzt? Für die nächste
Pandemie wird die Lebensart von der Indus-
trie eben angepasst. Weil es beispielsweise
heißt, dass es ein Coronavirus bis zu drei Ta-
gen auf poliertem Edelstahl aushalten kann,
ist Kupfer nun die Haushaltsoberfläche der
Wahl. Das Halbedelmetall ist von Natur aus
antibakteriell und virophob.
„Wir haben gesehen, wie es Viren einfach
auseinanderreißt“, erzählte Bill Keevil, Pro-
fessor für Umweltgesundheitspflege an der
Universität Southampton kürzlich dem
Tech-Magazin „Fast Company“. Und prompt
findet man kupferne Küchen, Türklinken,
Wasserhähne, ganze Badezuber in den „Shop
the Look“-Online-Stores einschlägiger Ar-

chitektur- und Designzeitschriften. Von
Grünspan liest man nichts.
Clever sind dagegen so simple Ideen wie
der Pappschreibtisch des dänischen Start-
ups Stykka. Für alle, die zum Homeoffice
verdonnert wurden, dann aber zu Hause fest-
stellen mussten, dass sie gar keinen Schreib-
platz haben. Den #staythefuckhome-Desk
kann man entweder direkt bestellen oder als
Open-Source-Schnittmuster herunterladen
und aus drei Kartonagen selbst zuschneiden.
Der minimalistische Tisch passt zu jedem
Wohngeschmack (schon auch, weil er nach
dem Ende des Quarantäne problemlos im
Altpapiercontainer entsorgt werden kann).
Und wer im Besitz eines „Wiggle Side Chair“
von Frank Gehry ist, der Designikone aus
mehrfach gewellter Wellpappe, kann beson-
ders stilbewusst an ihm sitzen.
Wobei wir wieder bei Hygge wären. Dem
Wohnideal, dem zurzeit leider die Realität
dazwischengekommen ist. „Hygge ist tot“,
schreibt auch die mit dem Zukunftsforscher
Matthias Horx verheiratete Trendberaterin
Oona Strathern, und beruhigt unsere nicht
nur in Designfragen auf Achtsamkeit bedach-
ten Gemüter sogleich, „lang lebe Hygge.“
Sie schaut aus dem Jahr 2021 zurück, die
Corona-Krise ist überwunden. Sie erinnert
sich daran, wie „wir anfingen, die Kontrolle
üüüber unseren privaten Raum, unser Leben zu-ber unseren privaten Raum, unser Leben zu-
rückzuerobern“, wie wir uns fragen, „warum
wir einmal nach Hause gekommen sind und
alles für selbstverständlich gehalten haben“.
VVVielleicht hat sie (und übrigens auch Marieielleicht hat sie (und übrigens auch Marie
KKKondo) sogar recht und die Angst vor Coronaondo) sogar recht und die Angst vor Corona
macht vor allem die Angst vor Kontrollverlust
aaaus. Und wie schnell man die Kontrolle ver-us. Und wie schnell man die Kontrolle ver-
liert, das sieht man daheim, im Niedergang des
hhhyggeligen Wohntraums nach zwei Wochenyggeligen Wohntraums nach zwei Wochen
Homeoffice. Schön sah es trotzdem mal aus.

Der Hygge-


Albtraum


In der Pandemie wird unsere Wohnung


zum Büro, zum Kindergarten, zur Arrestzelle.


Über das Ende der neuen Wohlfühlkultur


in Zeiten der Quarantäne


GETTY IMAGES

/ TORRIPHOTO

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04.04.20 Samstag, 4. April 2020DWBE-HP


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30 DAS FEUILLETON DIE WELT SAMSTAG,4.APRIL2020


K


ann nicht schlafen. Der Mond? Ich
bin kein Werwolf. Sorgen? Schlaf-
losigkeit ist eher eine Begleiter-
scheinung von Euphorie. Wer Sorgen
hat, kann sehr wohl schlafen, er geht bloß
nicht schlafen. Der Hausarrest? Wenn ich
etwas gewöhnt bin, dann Hausarrest, ich
bin gleichsam der Erfinder der freiwilli-
gen Sozialstörung. Das leere Konto, die
wirtschaftliche Zukunft? Pah.
In den vergangenen vier Jahren hat
meine subjektive Erfahrung der Weltläu-
fffe meine Flexibilität geschult. Im Verlaufe meine Flexibilität geschult. Im Verlauf
von einigen Tagen zu realisieren, dass
man von jemandem, der einem vertraut
war und dem man vertraut hat, sozusa-
gen verarmt worden ist, kann hinsicht-
lich der Erlebnisintensität mit den be-
sten Autounfällen mithalten, und sobald
man sich daran gewöhnt hat, manchmal
nur zum Staunen und Schauen in den Su-
permarkt gehen zu können, bekommt je-
des Hungergefühl eine privatere Note.
Dass sich Menschen ihrer Mittellosigkeit
so sehr schämen, dass sie es nicht fertig-
bringen, um Hilfe zu bitten, habe ich frü-
her nachvollziehen, aber nicht nachfüh-
len können, heute gelingt mir das gut. Ich
habe mich lange gefragt, wie es so weit
kommen konnte, dass sich Menschen
eher zum Antisemitismus bekennen wür-
den als dazu, arm zu sein und darunter
zu leiden, bis in mir der Verdacht auf-
kam, dass Menschen nun einmal ganz
einfach so sind.
Ich habe mich dafür entschieden, die
Zeit bis zu einer radikalen Verbesserung
meiner Alltagsperspektive dadurch zu
üüüberbrücken, dass ich Geld zu verstehenberbrücken, dass ich Geld zu verstehen
lerne. Was es ist, was es kann, was es tut
und was es tun sollte. So in etwa weiß ich
das mittlerweile. Hat man erst einmal
verstanden, dass die meisten großen Pro-
bleme dieser Welt auf unser monetäres
System zurückzuführen sind, was bedeu-
tet, wir könnten sie lösen, ist es nur mehr
ein kleiner Schritt zum Bewusstsein,
dass es nicht die 15 bis 20 Millionen in
Deutschland an oder unter der Armuts-
grenze lebenden Menschen sind, die sich
fffür ihre Bedürftigkeit schämen müssen,ür ihre Bedürftigkeit schämen müssen,
sondern eher die anderen.
WWWenn man in der Finanzphilosophieenn man in der Finanzphilosophie
an diesem Punkt angelangt ist, humpelt
Satan heran und lockt mit der ruhmvol-
len Rolle eines potenziellen Heilsbrin-
gers. Aber ich bin ja nicht Rudi Dutschke,
ich habe eine andere Agenda, mich inter-
essiert Bier. Zeugen zufolge soll Rudi
Dutschke unmittelbar nach dem Attentat
auf ihn, eine Kugel im Kopf, gerufen ha-
ben: „Ich muss zum Friseur, ich muss
zum Friseur!“ Das hätte bei mir in dieser
Situation keine Priorität.
Mich interessiert Bier natürlich nicht,
aaaber der Satz wollte geschrieben werden,ber der Satz wollte geschrieben werden,
und da er gut genug klang, habe ich ihm
geholfen.
Nun bin ich doch kurz eingenickt.
Vielleicht hätte ich sogar durchgeschla-
fffen, aber die anschwellenden Sexualge-en, aber die anschwellenden Sexualge-
räusche in der Studenten-WG nebenan
treiben geradezu einen dicken Keil zwi-
schen den Schlaf und mich. Sei’s drum.
Ich halte Schlafen ohnehin für hochgra-
dig überschätzt und empfinde es als ex-
trem langweilig, vor allem währenddes-
sen. Noch langweiliger ist es nur, sich an-
hören zu müssen, was ein anderer ge-
träumt hat. Bei den meisten Menschen
ist es schon langweilig genug, sich anhö-
ren zu müssen, was sie erlebt haben, wie
sollte da ihre Fantasie die Lage verbes-
sern? Auf Eis wachsen auch keine Erd-
beeren.

TThomas Glavinic ist Schriftsteller
und Hypochonder. Er lebt in Wien.
Zuletzt erschien von ihm bei
Piper die „Gebrauchsanweisung
zur Selbstverteidigung“.

Schlaflos und


sozialgestört


Thomas Glavinic


verarbeitet die
Corona-Krise in einem
Fortsetzungsroman.

Exlusiv in der WELT


DER CORONA-ROMAN
TEIL 15

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