Die Welt - 04.04.2020

(Barry) #1

N


och die monströseste Mu-
sik verbreitet eine frohe
Botschaft: So schlimm,
wie sie es in Töne setzt,
besingt und gestisch un-
termalt, wird es nicht
kommen. Zu apokalyp-
tisch galoppierenden Gitarren brüllt der Sän-
ger Marcus Bischoff, dass die Himmel bren-
nen und die Welten sterben. Aber er sei da:
„This is the very end, still I am cho-
sen to protect and defend“. Er sei
der Auserwählte, der Beschützer,
der Verteidiger der Menschheit.

VON MICHAEL PILZ

Marcus Bischoff singt bei Heaven
Shall Burn aus Saalfeld, einer Band,
die weltweit als deutscher Kulturex-
port gefeiert wird, nicht ganz so
groß wie Rammstein, aber fast. Ihr
neuntes, zweiteiliges Album heißt
„Of Truth and Sacrifice“, die 19 Stüc-
ke handeln davon auch im Wesentli-
chen: Was ist wahr, und was gilt es
dafür zu opfern? Wahr ist, dass die
WWWelt schon besser war und dass es soelt schon besser war und dass es so
nicht ewig weitergeht, wenn sich die
Menschheit nicht besinnt.
Im Heavy Metal muss man die fan-
tastischsten Metaphern in den Alltag
üüübersetzen – sofern die Musik und ih-bersetzen – sofern die Musik und ih-
re Lyrik überhaupt verstanden wer-
den möchten wie bei Heaven Shall
Burn. Sie wollen keine übertriebenen
Ängste schüren, wenn sie an den Krieg
erinnern, keine Unruhen heraufbe-
schwören, wenn sie zur Vergeltung
und zum Widerstand aufrufen und
nicht missverstanden werden, wenn
sie sich als Adler unter Geiern sehen.
Sie wollen das in Verruf geratene Gute,
sie wollen die Guten sein. „Wir haben
eine Band für unsere Haltung“, sagt ihr
erster Gitarrist Maik Weichert, der die
Band von 24 Jahren in Thüringen ge-
gründet hat und seither schreibt, was
Marcus Bischoff singt.
Mit ihrem kämpferischen Album mel-
den sich fünf Musiker zurück aus ihrem
bürgerlichen Dasein als Verfassungs-
rechtsreferendar, Robotiker, Musik-
schullehrer, Physiotherapeut und Kran-
kenpfleger – während Thüringen bei-
nahe seinen bürgerlichen linken Landes-
vater durch eine perfide Strategie der
rechten, antibürgerlichen AfD verloren
hätte, angeführt von einem aktenkundi-
gen Faschisten. „Die Partei hat die Radi-
kalisierung in ihrer DNA. Wer weiß, wer
nach Björn Höcke kommt und der Verfas-
sung mehr als das Asylrecht abspricht“,
sagt der Gitarrist. „Konservative, die
grundsätzliche Werte über Bord werfen,
wenn es darauf ankommt, sind keine Kon-
servativen. Sie sind reaktionär.“
Maik Weichert sagt auch, dass beim
Festival im Wacken, wo man seine Band
zum festen Bühnenpersonal zählt, mehr
Konservative vor der Bühne stünden als
bei ähnlich großen Festivals. Konservativ
im Herzen. Dass Heaven Shall Burn in Wac-
ken auftreten, ihre Konzertreisen bis nach
Amerika ausdehnen, ihre Alben gut verkau-
fen und trotz allem noch ihren Berufen nach-
gehen, die andere Musikanten längst gekün-
digt hätten, ist ein alltäglicher Ausdruck ih-
rer Haltung. Krankenpfleger ist man kaum
wegen des Geldes. Weichert spricht von der
sozialen Armut und den geistigen Grenzen
reiner Rockmusikerexistenzen, über Band-
zombies und fahrendes Gesindel. Er gönnt
sich den Luxus ewigen Studierens, in Fä-
chern wie Sammlungsbezogene Wissens-
und Kulturgeschichte und zurzeit eben Ver-
fassungsrecht mit einem Referendariat im
Thüringer Landtag. „Da fliegen einem die
Themen zu, die einen wütend machen und

wieder zu neuen Liedern führen. Wenn ich in
der Bibliothek sitze, freue ich mich auf die
Musik. Wenn ich Musik mache, freue ich
mich auf meine Bücher.“
Sie machen Musik, wenn sie es möchten,
nicht wenn sie es müssen. Je erfolgreicher sie
wwwurden, desto ausgeglichener wurde auch dieurden, desto ausgeglichener wurde auch die
Balance zwischen Leben und Kunst. Sie spie-
len bei Rock am Ring und Rock im Park und
haben für den Rest des Jahres frei. „Frei-

haben
heißt, zur Arbeit gehen“, sagt Maik Weichert.
„Spießbürgerlich, deutsch.“ Und dann erzählt
er, wie der Heavy Metal mit dem Untergang
der DDR nach Thüringen kam, naturgemäß
etwas verspätet, dafür aber umso ungestörter
als in dichter überwachten Städten, wo es kei-
ne Dorfgasthöfe gab, an denen auch Konzerte
ohne Spielgenehmigung möglich waren. Kel-
lerpunkbands aus der ganzen DDR reisten in
den vergessenen Süden, Metalbands traten in
selbstbemalten Monster-T-Shirts auf.
Weichert war zwölf, als in Berlin die Mau-
er aufging und das Land verschwand. Ein
Wende- oder Zonenkind, das sich das Penta-
gramm von Morbid Angel in sein Zimmer
hängte und damit die Eltern überforderte,
die damals gerade von der „Bild“-Zeitung

ausführlich über den okkulten „Satansmord
von Sondershausen“ unterrichtet wurden.
Das Slaytanic-Sweatshirt des amtlichen Slay-
er-Fanklubs mit der Wehrmachtsmütze auf
dem Totenschädel trug er auch. Andere sei-
nes Alters wurden wirklich Neonazis. „Viele
meiner Freunde waren nach den Ferien keine
Metaller mehr, sie waren Faschos und boten
mir ihre Metalplatten günstig zum Verkauf

an.“ Die Koexistenz der jugendlichen Subkul-
turen war nicht friedlich, aber sie wirkt, an-
ders als in den geordneten Milieus westlich
geprägter Großstädte, bis heute nach. Manch
ehemaligem Freund begegnet Weichert wei-
terhin, als Nachbar im Thor-Steinar-Style, als
Dachdecker oder als Vater in der Schule.
Heavy Metal mag in seinen Spielarten, von
Doom bis Thrash, von Speed bis Metalcore
oder Melodic Death Metal, wo sich Heaven
Shall Burn verorten, ein globales Medium
sein. Lokal gedacht wird von den Musikern
seit alters her. Im Ruhrgebiet hielten die Berg-
und Gastarbeiterkinder in den Achtzigerjah-
ren die Malocherehre hoch.In Thüringen sind
HSB die große Heimatband. „Ich habe einmal
meine Heimat verloren. Die DDR. Sie war
nicht schön, aber Heimat“, sagt Maik Wei-

chert. „Es war der Verlust der Sorglosigkeit.
Meine Eltern wussten nicht mehr, was aus ih-
nen wird. Sie wussten auch nicht, was aus mir
wird. Ob ich mit meiner Musik, mit meinem
Metal, völlig durchdrehe und Fascho werde.“
WWWeichert ist im Neubauviertel aufgewachsen,eichert ist im Neubauviertel aufgewachsen,
in der Platte, wie man heute sagt, in Blanken-
hain am Porzellanwerk. Heute lebt er als Kul-
turschaffender und

Student standesgemäß in Wei-
mar: „Ich bin immer froh, wenn ich in mein
kleines Weimar zurückkehre. Ich kann schon
verstehen, was Goethe in seinem Nest, wie er
es genannt hat, mochte. All die großen Geister
waren je gerade dort, weil nichts los war und
sie in Ruhe ihr Ding machen konnten.“
Überall in Thüringen stößt man auf Spu-
ren der Band. In Saalfeld, wo sie in sämtli-
chen Einträgen des Internets zu Hause sind,
steht das Kulturzentrum am Schlossberg,
früher ein besetztes Haus und damit auch die
Festung gegen die gewalttätigen regionalen
Rechten. Auf der Intensivstation im Kran-
kenhaus von Saalfeld arbeitet der Sänger
Marcus Bischoff. In Bad Kösen, kurz hinter
der Landesgrenze, unterhält die Band ihr
Studio im Sozialgebäude eines Kalkwerks.
Alexander Dietz, der zweite Gitarrist, be-

treibt seine Musikschule in Rennstedt.
„Green Republic“ heißt ihr Imbiss für vegane
Hamburger in Erfurt, „Under Pressure“ ihre
Druckerei für fair gehandelte Heaven-Shall-
Burn-T-Shirts in Gera. Trikotsponsor für den
früher glorreichen und heute tapferen Dritt-
ligisten FC Carl Zeiss Jena waren sie, ge-
meinsam mit den radikalen Tierschützern
von Sea Shepherd. „Mein grünes Herz in
dunklen Zeiten“heißt der Film zum
neuen Album, darin sieht man sie ge-
meinsam oder einzeln in ihrer natürli-
chen Umgebung, zwischen Freibad Un-
terwellenborn und Jugendzentrum
Gorndorf.
Christian Bass, ihr Schlagzeuger,
stammt aus dem Ruhrgebiet. Der Quo-
tenwessi, wie sie sagen. Bass sagt: „In-
teressiert mich wenig.“ Weichert sagt:
„Im Westen spielt der Osten keine Rol-
le – bis wieder ein Wessi kommt, dem
Ossi blühende Landschaften ver-
spricht und leichte Lösungen anbietet
und dafür gewählt wird wie heute
Björn Höcke und die AfD.“
VVVor allem aber ärgert Weichert sichor allem aber ärgert Weichert sich
üüüber die ostdeutschen Kollegen, dieber die ostdeutschen Kollegen, die
sich öffentlich zurückhielten, um ihre
womöglich mit völkischen Gedanken
spielenden Kunden nicht durch welt-
offene Positionen zu verschrecken.
Blieben, sagt er, Feine Sahne Fischfilet
in Mecklenburg-Vorpommern und
Kraftklub in Sachsen, linke Punks und
eine linke Popband, die im Hip-Hop
wwwurzelt. Und sie selbst mit ihrem lin-urzelt. Und sie selbst mit ihrem lin-
ken Metalcore, die es in Kauf nehmen,
wenn manche eher konservative Zu-
schauer und Zuhörer die Augenbrau-
en heben, wenn sie auf der Bühne ste-
hen und sich zwischen ihren Stücken
eindeutig politisch äußern. „Viel-
leicht wäre unsere Kundschaft ohne
solchen Ansagen allein in Thüringen
noch einmal um ein Viertel größer.
AAAber auch das ist ein Ausdruck unse-ber auch das ist ein Ausdruck unse-
rer Freiheit. Ich bekäme meinen
KKKühlschrank auch durch meine Ar-ühlschrank auch durch meine Ar-
beit am Verfassungsrecht gefüllt“,
sagt Weichert. „Es ist auch für mich
wichtig, in einer solchen Band zu
spielen“, sagt ihr Westschlagzeuger
Christian Bass.
Nach ihrem wütenden Album
„Veto“ von 2013 und ihrem naturse-
ligen Album „Wanderer“ von 2016
kehrt mit „Truth and Sacrifice“der
rechtschaffene Zorn zurück. In
einem Stück wie „Tirpitz“ über das
gewaltige, aber versenkte deutsche
Schlachtschiff und die Hybris des
heroischen Faschismus und in
einem Stück wie „Stateless“ über
einen Heimatlosen ohne Himmel.
Marcus Bischoff singt auf Englisch,
aber schon 2010 hieß es am Ende
von „The Lie You Bleed For“: „Und
damit du es verstehst: Du folgst
den falschen Führern!“ In „Expa-
triate“, 2020, hält Maik Weichert
nach den Flüchen seines Sängers eine An-
sprache auf Hochdeutsch: „Eure Führer, eure
Farben, all eure geliebten Staaten und alles,
was euch heilig ist, sind nichts als Treibgut in
den ewigen Gezeiten von Aufstieg, Herr-
schaft, Niedergang!“ Man kann „Expatriate“,
den Titel ihres längsten aktuellen Stücks, als
Anleitung zum Auswandern verstehen, aber
auch Abrechnung des Ausgebürgerten mit
seiner fremd gewordenen Heimat.
Weichert sagt: „Dafür ist Stefan Heym als
Amerikaner nach dem Krieg nicht aus Ame-
rika geflohen, dafür ist Wolf Biermann 1976
von der DDR nicht ausgebürgert worden, da-
mit wir heute als Künstler unsere Fressen
halten.“ Als Alternative für Thüringen als
Heavy Heimat. Auch im Humanismus darf
der Himmel leer und rot und Metal die Musik
der Mitte sein.

Heavy Heimat:
Maik Weichert von
Heaven Shall Burn
beim Rockfestival
„Full Metal
Mountain“

ALTERNATIVE


FÜR


THÜRINGEN


Seit einem


Vierteljahrhundertierteljahrhundert
spielen

Heaven Shall Burn


aus Saalfeld


ggegen rechts.egen rechts.


Eine Begegnungine Begegnung


mit ihrem


PPICTURE ALLIANCE / DPAICTURE ALLIANCE / DPA

//HENRIK JOSEF BOERGERHENRIK JOSEF BOERGER

Gitarristen und


Gründer, dem


Verfassungsrechtlererfassungsrechtler


Maik Weichertaik Weichert


31


04.04.20 Samstag, 4. April 2020DWBE-HP


  • Belichterfreigabe: ----Zeit:Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: ---Zeit:---Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe:
    Belichter: Farbe:Belichter: Farbe:Belichter:


DWBE-HP

DW_DirDW_DirDW_Dir/DW/DW/DW/DW/DWBE-HP/DWBE-HP
04.04.2004.04.2004.04.20/1/1/1/1/Kul2sa/Kul2sa KFISCHE2 5% 25% 50% 75% 95%

DIE WELT SAMSTAG,4.APRIL2020 DAS FEUILLETON 31


E


in Bach, man vergisst das ja schnell,
wenn man nicht mehr raus darf, hört
sich übrigens ganz schön silbrig an.
Gemächlich tänzelt er funkelnd durch eine
anmutige Landschaft. Hin und wieder vorbei
an schönen Schäferinnen und Hirten, die auf
ihrer Flöte mit den Vögeln um die Wette tiri-
lieren. Nature writing, das demnächst ehe-
malige große Ding der Gegenwartsliteratur,
ist natürlich keine Erfindung der Gegenwart.
Schon gar keine der Literatur.

VON ELMAR KREKELER

Justin Heinrich Knecht konnte das auch
schon. Vor 250 Jahren war das. Knecht darf
man nicht kennen. Geboren in Biberach an
der Riß 1752, Musikdirektor in Biberach, Kir-
chenmusikreformator, Musiktheoretiker,
Orgelpädagoge, Komponist von Singspielen,
Kantaten und mehreren Sinfonien in Biber-
ach. Gestorben 1817 in Biberach. In Biberach
ist Knecht weltberühmt. Die zentrale Schüt-
zenfesthymne stammt von ihm. Und ohne
„Wie können wir, Vater der Menschen, dir
danken“, sein Weihnachtslied für das
„Christkindle ralassa“ (so heißt Biberachs
Heiligabendfest auf dem Marktplatz), er-
scheint kein Jesuskind an der Riß.
Den Bach singen lassen hat Knecht mit
seinem Orchester von der Löblichen Musik-
gesellschaft im Jahr 1785. „Zur Ergötzung der

Ohren und der Rührung der Herzen“. In fünf
Sätzen einer Sinfonie, die „Le Portrait musi-
cal de la Nature“ überschrieben ist. Und in
der auch die Schäferin und die Vögel vor-
kommen. Und das Gewitter, das aufzieht,
rumrumpelt, abzieht. Und eine Menschenge-
meinschaft beseelt dem Schöpfer danken
lässt, dass sie ihr Ausgeliefertsein an die Na-
tur überleben durften. Könnte man in Zeiten
von Corona also auch zeichenhaft hören,
dieses Naturmusikschauspiel aus vermeint-
lich bukolischen Zeiten.
Das Programm der fünf Sätze kennt je-
der, der jenen kennt, der wiederum Knecht
kannte. Ludwig van Beethoven besaß
Knechts Orgelschule, teilte sich – für seine
Kurfürstensonaten und die Klaviertrios op.
1 – mit Knecht einen Verleger in Speyer.
Und es wäre schon ein fabelhafter Zufall,
wenn Knechts Naturporträt nicht als Blau-
pause für Beethovens Landliebesinfonie,
die „Pastorale“ gedient hätte. Brückenstü-
cke beide. Knecht steht noch mit einem
Bein am Ufer des Barock, Beethoven schon
mit einem am andern Ufer der Romantik.
Die Berliner Akademie für alte Musik hat
sie jetzt gemeinsam eingespielt. Vergleiche
der beiden Sinfonien mit den fast identi-
schen Satzprogrammen sollte man unter-
lassen. Die Berliner Originalklängler tun
das auch nicht. Gehen Knechts herrliches
Naturschauspiel mit der gleichen Grandez-

za an wie das 20 Jahre jüngere von Beetho-
ven, lassen beides in den feinsten, elektri-
sierendsten Farben leuchten.
Justin Heinrich Knecht teilt mit Beetho-
ven mehr als nur den Bauplan seiner Sinfo-
nie. Stammt aus einer Musikerfamilie, wurde
früh als Talent entdeckt, unterrichtet vom
Vater. Christoph Martin Wieland, das Biber-
acher Großgenie, hat ihn unter seine Fittiche
genommen. Zwölf Jahre war Knecht alt, da
durfte er für Wielands Bühne Singspiele
komponieren. Er verfolgte, unterstützte das
Ausbildungsprogramm des Knaben. Bis der
1771 mit 19 Jahren Musikdirektor von Biber-
ach wurde, in der – wie in vielen deutschen
Klein- und Mittelstädten – bürgerliches und
adliges Musizieren sich gegenseitig befruch-
teten, das öffentliche Konzertwesen und die
Aufklärung aufblühte.
Lehrer an der Lateinschule war Knecht,
fffür Kirchenmusik verantwortlich, für dasür Kirchenmusik verantwortlich, für das
musikalische Theater, Opern komponierte
er (eine „Entführung aus dem Serail“ vier
Jahre nach Mozart auf den gleichen Text,
„Die Äolsharfe“, ein Vierstünder, geschrie-
ben für Stuttgarts Hoftheater 1807/08, ur-
aufgeführt 200 Jahre später in Biberach),
Sinfonien, vor allem viel geistliche Musik.
Das meiste ist verschollen. Überlebt hat er
vor allem mit seinem Gesangbuch für Würt-
temberg und seiner Orgelschule. Er reichte


  • als tatsächlich einflussreicher Musiktheo-


retiker – den Geist Bachs an die Romantik
weiter. Kein Klein- eher ein Mittelmeister.
Sammelte auf, was die musikalischen Zeit-
läufte an Biberach vorbeispülten (Haydn
mochte er besonders). Und lenkte es – um
im Bach-Bild zu bleiben – auf eigene Fluss-
läufe und nicht selten höhere Ebenen um.
Wieland hat immer wieder versucht, ihn aus
seiner württembergischen Selbstquarantä-
ne zu holen. In Stuttgart kam Knecht als
Mittfünfziger an. Da war es wohl zu spät.
Kaum zwei Jahre dauerte das gegenseitige
Fremdeln zwischen dem Biberacher, der
„gar keine Hofmanier“ hatte, und seinem
Orchester, seiner Landeshauptstadt, da war
Knecht wieder daheim an der Riß. „Lieber
will ich in Biberach bei meinem Bierle sit-
zen, als eine solche Hofluft athmen, die
mich vom freien Menschen zum unfreien
Menschen machte.“
Geradeheraus war er, heißt es in den Ne-
krologen, und aufrichtig und deutsch und
ohne Eigendünkel. „Sein Genius neigte sich
prädominierend zum Großen, Erhabenen,
Ernsten und rein Gemüthlichen“.
Man würde wahrscheinlich gern an der Riß
ein Bierle auf ihn trinken. Das darf man aber
gerade nicht. Holt man sich halt seine Natur
ins Haus. Und hört seine Psalmkantaten.
„Dixit dominus“ zum Beispiel. Zur höheren
Ehre Gottes, wenn wir unser Ausgeliefert-
sein an die Natur überlebt haben.

Bierle


bevorzugt


Urvater der


„Pastorale“:


Ein Porträt von


Justin Heinrich Knecht


WWWeltberühmt in Württemberg: Justineltberühmt in Württemberg: Justin
Heinrich Knecht (1752 bis 1817)

GEMEINFREI WIKIPEDIA

© WELTN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exclusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung DIE WELT -2020-04-04-ab-22 462c47513220aa19bf38d77bdad2ca0a

https://myldl.biz

UPLOADED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws
Free download pdf