Die Welt - 04.04.2020

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ie Kirschblüte hatte gera-

de begonnen, Tokio rosa

zu färben. Auf meiner üb-

lichen Runde durch einen

weitläufigen Park begeg-

ne ich sonst nur ein paar Joggern, Se-

nioren und Müttern mit kleinen Kin-

dern. Nicht so am langen Wochenende

vom 20. bis 22. März zum Auftakt der

Frühlingsferien.

VON SONJA BLASCHKE

AUS TOKIO

Schon nach wenigen Schritten sah

ich Dutzende von Leuteneng zusam-

menstehen, Trinkbecher in der Hand,

bei der Kirschblütenschau, Hanami.

Derweil tönte es aus Lautsprechern:

„„„Wegen der Ausbreitung des Coronavi-Wegen der Ausbreitung des Coronavi-

rus bitten wir Sie, das Essen und Trin-

ken zu unterlassen.“ Es waren weniger

Gruppen als sonst, aber immer noch

bestürzend viele. Das Fernsehen zeigte

ähnliche Bilder aus anderen Parks, mit

Trinkenden direkt neben Plakaten mit

Bitten, Hanami-Partys zu unterlassen.

Ein Bekannter schickte mir belustigt

ein Foto aus einer Kneipe, die mit „Co-

rona-Preisen“ von 567 Yen warb, rund

fffünf Euro. Die Aussprache der Zahlenünf Euro. Die Aussprache der Zahlen

„go-ro(ku)-na(na)“ klingt ähnlich wie

Corona. Eine Freundin berichtete von

Massen junger Leute in den trendigen

Shoppingvierteln von Shibuya und Ha-

rajuku.

WWWährend in Europa die Infektionenährend in Europa die Infektionen

und Todesfälle massiv stiegen, Grenz-

kontrollen und Ausgangssperren ein-

geführt wurden, fühlte sich das Leben

in Japan wie auf einem anderen Plane-

ten an. Coronavirus – damit infizieren

sich nur andere, so schien es. Und das

sollte die so gepriesene „jishuku-mu-

do“ sein, die Stimmung der freiwilligen

Selbstbeschränkung in Krisenzeiten?

So viel zum Mythos der folgsamen und

obrigkeitshörigen Japaner. In der Co-

ronavirus-Krise zeigt sich, dass die ja-

panische Gesellschaft komplexer ist,

als oft angenommen. Der klare Bruch

mit Appellen im sonst so regeltreuen

Japan überraschte umso mehr, als Ja-

pan schon früh auf die Pandemie rea-

gierte, ab 2. März Schulen schloss, Un-

ternehmen zu flexibleren Arbeitswei-

sen aufrief und Großveranstaltungen

beschränkte. Warnungen von Experten

gab es damals nicht, aber Premiermi-

nister Shinzo Abekonnte so von innen-

politischen Skandalen ablenken. Schul-

behörden wie Familien traf seine An-

kündigung eiskalt – vier Tage, bevor

die Schulen schließen mussten. Es

fffolgten Panikkäufe von Toilettenpa-olgten Panikkäufe von Toilettenpa-

pier, wie überall auf der Welt.

Die Menschen seien „erschöpft“ von

der Selbstbeschränkung („jishuku-tsu-

kare“), erklärte mir eine Freundin den

kollektiven Kirschblütentaumel, der

nun womöglich ähnliche Auswirkungen

auf die Statistik hat wie der Karneval in

Deutschland. Lange blieben die Fallzah-

len in Japan niedrig. Weil Japan so spar-

sam testete? Weil es die Ausrichtung

der Olympischen Spiele nicht gefähr-

den wollte? Um keine Panik zu schüren?

Zuerst fehlte es an Testkits, später hieß

es, man wolle nicht das Gesundheits-

system mit leichten Fällen überfordern.

Eine Verschwörung kann ich mir nicht

vorstellen, wohl aber eine gewisse

Stimmung, vorerst lieber weniger als

mehr zu testen. Bis heute nutzt Japan

seine Testkapazitäten nicht voll aus.

Ein Arzt sagte Ende März im Fernse-

hen, er glaube, dass das Bewusstsein bei

seinen Kollegen lange niedrig war, bei

bestimmten Symptomen an Covid-19 zu

denken. Als ich am 3. Februar plötzlich

hohes Fieber bekam, als Japan noch

weit unter 100 Fälle aufwies, fragte

mich die Ärztin allerdings schnell nach

AAAuslandsreisen oder Kontakten zu Chi-uslandsreisen oder Kontakten zu Chi-

nesen. Erst ein zweiter Influenzatest

am fünften Tag Fieber war positiv.

„Gut, dass wir ein klares Ergebnis ha-

ben“, sagte sie erleichtert. Vier Tage

Fieber sind Bedingung für einen Coro-

navirus-Test in Japan. Japan hat wohl

von frühen Warnschüssen profitiert,

wie die Nähe zu China und ein Infekti-

onscluster auf der Insel Hokkaido am

berühmten Sapporo-Schneefestival,

dessen Besuch ich grippebedingt absa-

gen musste – im Nachhinein vielleicht

zum Glück. Außerdem wollte Japfan

wohl die Blamage im Umgang mit der

„Diamond Princess“ in Yokohama wett-

machen. Über 700 Personen infizierten

sich auf dem Kreuzfahrtschiff mit gut

3 000 Gästen und Angestellten an Bord.

Hilfreich waren wohl auch kulturelle

Eigenheiten: Im Alltag hält man mehr

Distanz als in Europa, Küsschen und

Umarmungen sind weder unter Freun-

den noch in der Familie üblich. Masken-

tragen zählt zur Erkältungs- und Influ-

enzasaison schon bei leichten Sympto-

men zum guten Ton. Ärzte empfehlen

nzasaison schon bei leichten Sympto-

en zum guten Ton. Ärzte empfehlen

nzasaison schon bei leichten Sympto-

sie bei Heuschnupfen. Die relativ sorg-

lose Stimmung schlug erst um, als zwei

Dinge zusammenkamen. Am 24. März

wwwurden die Olympischen Spiele in To-urden die Olympischen Spiele in To-

kio für dieses Jahr abgesagt. Und am 25.

März meldete Tokio 40 Neuinfektionen

an einem Tag – deutlich mehr als zuvor.

Dass ich nicht die Einzige war, die

sich über das Timing wunderte, zeigte

der Blick in die sozialen Medien. Die

Reaktion demonstrierte ebenso, dass

der Abe-Regierung nach einer Reihe

von Skandalen so einiges unterstellt

wird. Seit diesem Doppelschlag hat sich

der öffentliche Ton deutlich geändert.

Die Gouverneurin von Tokio, Yuriko

Koike, schaltete über Nacht vom Behar-

ren auf Olympia in den Krisenmodus

um. Die Warnungen einer Expertenrun-

de wenige Tage zuvor waren dagegen

noch auf taube Ohren gestoßen. Es half

nicht, dass sie sich nicht zu klaren Aus-

sagen durchringen konnten. „Wenn Sie

glauben, dass Sie eine Veranstaltung si-

cher abhalten können, dann tun Sie das,

sonst unterlassen Sie das besser“, sag-

ten sie schwammig.

Japaner versuchen stets die Grup-

penmeinung zu erspüren. Verantwor-

tung zu übernehmen wird tunlichst ver-

mieden. Man kann den Experten nur

begrenzt einen Vorwurf machen. Denn

die Politik, die durch Wahlen vom Volk

beauftragt wurde, Entscheidungen zu

treffen, drückt sich seit Wochen vor

klaren Ansagen, wie etwa ein Verbot

von Treffen ab einer bestimmten Perso-

nenzahl. „Wir brauchen einen Lock-

down“, sagte dagegen ein TV-Modera-

tor überraschend direkt. Er und seine

Gäste waren sich angesichts der Hana-

mi-Bilder einig: Appelle funktionieren

nicht. Die Regierung müsse sich endlich

klar äußern. Denn sonst würde die Last

der Verantwortung an einfache Beamte

oder private Veranstalter weiterge-

reicht. Eines der Resultate davon: Als

die olympische Flamme am 21. März in

Nordjapan ankam, zog dies 50.000 Per-

sonen an. „Wir haben nicht mit so vie-

len Leuten gerechnet“, sagten die Ver-

anstalter. Für das letzte Märzwochen-

ende erließ Koike eine Ausgangssperre

fffür Tokio in Form einer starken Bitte,ür Tokio in Form einer starken Bitte,

zu Hause zu bleiben. Außerdem appel-

lierte sie – Schulter an Schulter mit

Journalisten stehend – an junge Leute,

auf Karaoke und Livemusik zu verzich-

ten. Mit Beispielen junger Verstorbener

aus anderen Ländern versucht das

Fernsehen dieser Tage, jungen Japanern

klarzumachen, dass sie die Pandemie

sehr wohl betrifft. Allerdings schaut

diese Altersgruppe kaum fern oder liest

Zeitungen. Nur so ist wohl zu erklären,

dass Studenten noch Mitte März von

AAAbschlussfahrten in stark von Covid-19bschlussfahrten in stark von Covid-

betroffene Länder wie Frankreich und

Spanien zurückkamen. Mehrere von ih-

nen hatten sich infiziert und sorgten

landesweit für neue Cluster. Zu ihrer

VVVerteidigung: Kritisches, eigenständi-erteidigung: Kritisches, eigenständi-

ges Denken und Weltoffenheit werden

vom japanischen Erziehungssystem

nicht gefördert. Koike bat außerdem

mittlere und ältere Altersgruppen,

nicht mehr in Bars und Nachtclubs zu

gehen. Was sie damit eigentlich meinte,

wwwurde mir erst klar, als ich nachmittagsurde mir erst klar, als ich nachmittags

im Privatfernsehen und später in den

Hauptnachrichten des öffentlich-recht-

lichen Senders NHK Berichte über die

Folgen für Hostessenclubs sah. Dort

animieren hübsche, aufgestylte Frauen

Männer zum Konsum alkoholischer Ge-

tränke, mitunter verbunden mit Strei-

cheleinheiten und mehr. Vom Arbeiter

bis zum Minister – viele Japaner besu-

chen solche Clubs regelmäßig, oft auf

Firmenkosten zur Bewirtung von Kun-

den. Nun macht ihnen die Statistik ei-

nen Strich durch die Rechnung: Bis zu

einem Drittel der täglichen Neuinfek-

tionen führen Experten auf das abend-

liche Ausgehen zurück. Knapp 60 Pro-

zent der Fälle in Tokio entfielen auf

Personen unter 50. Bis Mittwoch mel-

dete Japan 2441 Infektionen und 67 To-

desfälle. Landesweit verzeichnete Ja-

pan am Mittwoch mit 237 Neuinfektio-

nen die höchste Zahl an einem Tag seit

Beginn der Pandemie. Am Montag hatte

ein Mitglied des Expertenpanels zu Co-

vid-19 der Regierung den Notstand na-

hegelegt. Am Mittwoch verzichtete Pre-

mierminister Abe erneut darauf. Statt-

dessen sollen nun zwei Masken pro

Haushalt verteilt werden.

DPA

GETTY IMAGES

/ CHRISTOPHER JUE

GETTY IMAGES

/ TOMOHIRO OHSUMI

EIN DRITTEL DER

NEUINFEKTIONEN

GEHT AUF

BAR-BESUCHE

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TTTödlicher Leichtsinn im Kirschblütentaumelödlicher Leichtsinn im Kirschblütentaumel

Als in Europa die Menschen das Haus nicht mehr verließen, drängelten sich die Japaner noch in Parks und Bars. Bericht aus einem arglosen Land

In Japan ging der Alltag trotz

steigender Totenzahlen in vielen

anderen Ländern der Welt

scheinbar unbeschwert weiter –

zwar mit Maske,

aber in Massen

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04.04.20 Samstag, 4. April 2020DWBE-HP

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DIE WELT SAMSTAG,4.APRIL2020 POLITIK 7

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