Neue Zürcher Zeitung - 03.04.2020

(Tina Meador) #1

10 MEINUNG & DEBATTE Freitag, 3. April 2020


Die falsche Medizin


gege n die Corona-Krise


Covid-19ist eineSteilvorlage für die Gegner offener Grenzen. Nationales Horten, ein gesteigerter


Selbstversorgungsgradund das verordnete Zurückholen der Industrieproduktion sollengegen


die Globalisierungschützen. Dochdas sindnicht die richtigen Wege.Von Gerald Hosp


Es ist ein kleines Geheimnis, das ich hier verrate:
Ich bin jetzt ein virtueller Schweizer. Mein üblicher
Arbeitsort ist Zürich, seit dreiWochen telefoniere,
recherchiere, schreibe ich aber von Österreich aus,
gerade über der schweizerisch-österreichischen
Grenze, wo meineFamilie wohnt.Telefonate wer-
den über dasKommunikationssystem des Unter-
nehmens geführt, so dass beim Gegenüber die
Schweizer Geschäftsnummer aufscheint, und Rech-
nungen werden per Online-Banking beglichen.
Über Nacht wurde ich zum virtuellen Grenz-
gänger, eingesperrt im Home-Office. Was vor kur-
zem noch undenkbar war, prägt jetzt den Alltag:
Die österreichischeRegierung warnt vorReisen
in die Schweiz.Auch bei der früheren Tätigkeit als
Korrespondent imAusland war dieFernarbeit über
die Grenze hinwegRoutine. Es ist jedoch etwas
anderes, hierzu gezwungen zu werden.


Das Böse aus der Ferne


Was sich im Kleinen zeigt, gilt auch für das Grosse:
Das neuartige Coronavirus hat eine globale Krise
ausgelöst, in der wir uns mit neuen Grenzen und
einer alten Diskussion über die Globalisierung wie-
derfinden. DiePandemie liefert eine Steilvorlage
für die Gegner offener Grenzen.
Volkswirtschaften und die Volksgesundheit
werden in dieser Sicht durch Infektionskrankhei-
ten von aussen und durch ökonomische Abhän-
gigkeiten bedroht. Im Mittelpunkt der Kritik ste-
hen die internationalenWertschöpfungsketten, die
eine feinmaschige globaleVerflechtung mit sich ge-
bracht haben.Dadurch erhöhen sich dieKomplexi-
täten undAnfälligkeiten moderner Gesellschaften.
Seuchen ausfernen Ländern sind nichts Neues:
So schlängelte sich im14. Jahrhundert diePest
über die Seidenstrasse aus China und Indien nach
Europa.Was damals aber Jahre oderJahrzehnte be-
nötigte, geschieht heute inWochen und Monaten.
Während zur Zeit derPest lange nicht klar war, um
was für eine Krankheit es sich handelt und wie sie
übertragen wird, entschlüsselten chinesischeWis-
senschafter bei Sars-CoV-2 das Genom desVirus
nach einigenWochen,damiteine weltweite Suche
nach einem Impfstoff lanciert werdenkonnte.Auch
das bedeutet Globalisierung.
Man kam kaum nach mit dem Staunen, wie in
der vergangenen Zeit Grenzen selbst innerhalb
der EU hochgezogen wurden. Die vierFreiheiten
des Binnenmarktes, über die sonst mitreligiöser
Inbrunst gewacht wird, wurden angesichts des ge-
fürchteten Coronavirus schnell über Bord gewor-
fen. Es zeigte sich, dass in einer Krise primär auf
den Nationalstaat zurückgegriffen wird.
Diese Entwicklung ist nicht per se schlecht. Der
Nationalstaat hat die organisatorischen und politi-
schen Mittel, die supranationalen oder internatio-
nalen Organisationen fehlen, um schnell zureagie-
ren. Zudem funktioniert politischeRechenschafts-
pflicht inForm vonWahlen auf nationalstaatlicher
Ebene.Die Krise führt jedoch dazu, dass falsche
Schlüsse gezogen werden, wie bei staatlichen
Hamsterkäufenvon medizinischen Hilfsmitteln
und Gütern oder Lebensmitteln. DerAufschrei in
der Schweiz war zuRecht gross, als bekanntwurde,
dass Deutschland dieAusfuhr von Schutzmasken
blockiert hatte. Auch andere EU-Staaten setzten
zuerst auf solche Massnahmenund wandten diese
selbst gegen andere Mitgliedsstaaten an.
Die Situation in der EU und auch gegenüber der
Schweiz beruhigte sich. Gegenüber anderen Staaten
hat Brüssel jedoch eine Bewilligungspflicht für die
Ausfuhr von medizinischer Schutzausrüstung einge-
führt.Bern hat in diesem Punkt nachgezogen. So laut
die Proteste gegen Deutschland waren, so leise war
es in der Schweiz,als eigeneHürden aufgebaut wur-
den.Die ausreichendeVersorgung mit Schutzmasken
oder Beatmungsgeräten ist jedoch nicht primär ein
Problem der Handelspolitik,sondern eines der zu ge-
rin gen Produktion und derVorsorge. Exportverbote
setzen international verkehrte Anreize.
Sorge muss auch bereiten, wennLänder wie
Russland,Kasachstan oderVietnamRestriktionen
für dieAusfuhr von Agrargütern erwägen oder be-
reits umgesetzt haben. Macht dies Schule, dürfte
sich die Entwicklung in denJahren 2008 bis 2011
wiederholen, als die Exportverbote mancherLän-


der die damalige Lebensmittelkrise weltweit ver-
schärft und den Preisen fürReis, Weizen oder Mais
noch mehr Schub verpasst haben.
Paradoxerweise zeigt die Corona-Krise dieVor-
züge der internationalen Arbeitsteilung auf. An
einem virtuellenTreffen der Handelsminister der
G-20-Länder meinteRobert Lighthizer, der US-
Handelsbeauftragte, dass die Abhängigkeit bei bil-
ligen Medizinalgütern von anderenLändern (ge-
meint ist China) eine strategischeVerwundbarkeit
darstelle. Die USA strebten deshalb die Diversifi-
kation der Lieferketten und auch dieRückholung
von Industrieproduktion ins eigeneLand an. So
weit, so bekannt.
Gleichzeitig hatten sich die USA wegen ihres
Handelsstreits mit China bei Beatmungsgeräten
abhängiger von Lieferungen aus der EU gemacht.
Washington senkte aus Notwendigkeit in der Krise
die Zölle für einige medizinische Güter aus China.
Lighthizer gelobte auch, Lieferketten in der Krise
nicht zu torpedieren.Und um dieKosten derPande-
mie-Bekämpfung für dieWirtschaft zu dämpfen,er-
wägen die USA eine Stundung bei der Zahlung von
Zöllen– ausser bei einigen, die Präsident Donald
Trump für seine Handelskriege eingeführt hat.

Schaulaufen von Lobbys


Tatsächlich haben auf Effizienz getrimmte Liefer-
kett en (Stichwort:Just-in-time-Produktion) und die
geografischeKonzentration der Produktion für ei-
nige Medikamente oder medizinischeRohstoffe
zu einer grösseren Anfälligkeit geführt. Eine ver-
mehrteLagerhaltung sollte mehr Sicherheit bei
der Versorgung notwendiger Güter und für den
Produktionsprozess gewährleisten. DieFrage wird
nach der akuten Krise sein, wer dazu bereit ist, die
Kosten dafür zu tragen. Sinnvoll ist auch eine geo-
grafische Diversifikation von Lieferketten. Doch
das bedeutet nicht, dass die gesamte Produktion zu-
rückgeholt werden sollte. Heute dürftenUnterneh-
men in Europa heilfroh sein, wenn in China lang-
sam die Produktion wieder hochgefahren wird.
Geografische Diversifikation bedeutet in derRe-
gel mehr Globalisierung.
Der Versuch, sich bei wichtigen Gütern von
internationalen Lieferketten unabhängig zu ma-
chen,ist häufig ein Schaulaufen von Lobbys. So ver-
wundert es nicht, wenn SchweizerBauernvertreter
davon sprechen, dass wegen solcher Krisen die ein-
heimische Nahrungsmittelproduktion gestärkt wer-
den müsse. Letztlich nimmt der Einfluss des Staa-
tes aufdieWirtschaft zu, wenn die Selbstversorgung

und damit auch der Protektionismus gesteigert wer-
den soll.Grosse Staaten dürften sich mehrAutarkie
leistenkönnen, für exportorientierteLänder wie
die Schweiz ist dies sicher nicht zielführend.
Ob und wie sehr die Corona-Krise dieWelt
grundlegend verändern wird, ist noch offen. Sie
dürfte aber auf alleFälle Entwicklungen verstärken,
die bereits im Gang sind. So stagniert derAusbau
derWertschöpfungsketten seitJahren.Mit dem wirt-
schaftlichenAufstieg der Schwellenländer steigen
mit der Zeit auch diedort bezahlten Löhne. Damit
lohntsich vermehrt dieRückholung kapitalintensi-
ver Produktionsstrassen in die Industrieländer.
In einem weiteren Punkt dürfte die Corona-Krise
die Globalisierung fördern, aber auch angreifbarer
machen.Während derWelthandel mit Gütern wo-
möglich einen Zenit erreicht hat,verw eisen Han-
delsökonomen stets auf den grenzüberschreitenden
Fluss von Dienstleistungen als die nächste Etappe
der globalenWirtschaft. Gezwungenermassen unter-
ziehtsich derzeitein beträchtlicherTeil der Bevöl-
kerung in vielenLändern derWelt einem grossen
Experiment: dem Arbeiten von zu Hause.
Von derTelearbeit im Home-Office innerhalb
einesLandes ist es nur mehr ein kleiner Schritt zur
Telemigration zwischenLändern. Der Begriff be-
schreibt, dass Arbeitskräfte aus demAusland nur
virtuell einwandern.Dies ist nicht neu,die Corona-
Krisekönnte aber zu einem Innovationsschub bei
grenzüberschreitenden Dienstleistungen führen.
Gleichzeitig lässt sich auch sehen, dass Berufe, die
derzeit im Home-Office ausgeübt werdenkönnen,
tendenziell leichter ausgelagert werdenkönnen als
Dienstleistungen, die an den Ort und den mensch-
lichenKontakt gebunden sind. Dieskönnte grosse
Auswirkungen haben: Der Ökonom RichardBald-
win ist davon überzeugt, dass die Digitalisierung ver-
mehrt auch bei Besserverdienenden, die bisher vor
ausländischerKonkurrenz geschützt waren,Antiglo-
balisierungsgefühle freisetzen wird.Dadurch dürfte
die Diskussion um den Zielkonflikt zwischen einer
höheren globalenWohlfahrt und dem Schutzbedürf-
nis von Globalisierungsverlierern zunehmen.
Zu einer Krise der Globalisierung würde die glo-
bale Corona-Krise aber erst werden, sollten sichAut-
arkie, Protektionismus und ökonomischer Nationa-
lismus durchsetzen. Sie sind die falsche Medizin,
denn dadurch werdenLänder gegenüber Katastro-
phen im In- undAusland langfristig nur anfälliger.
Aufgabe derPolitik wird es sein, dies zu beachten
und das Immunsystem der Globalisierung so zu stär-
ken,dassWohlstandsversprechen und Schutzbedürf-
nisse besser unter einen Hut gebracht werdenkön-
nen. Das sollte die Lehre aus der Corona-Krise sein.

Aufgabe der Politik wird es


sein, das Immunsystem der


Globalisierung so zu stärken,


dassWohlstandsversprechen


und Schutzbedürfnisse


besser unter einen Hut


gebracht werden können.

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