Neue Zürcher Zeitung - 03.04.2020

(Tina Meador) #1

Freitag, 3. April 2020 SCHWEIZ 11


EinMedizinethiker und ein Notfallarzt entscheiden,


wer in Zeiten von Corona behandelt wird SEITE 12


EinBieler Unternehmen fliegt Gestrandete


zum Rabattpreis in die Schweiz zurückSEITE 13


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Die grosse Angst


vor dem sonnigen Wochenen de


Ausflugsgebiete beschwören die Bevölkerung, zu Hause zu bleiben – weitere Beschränkun g der Freiheit droht


DANIEL GERNY, ERICHASCHWANDEN


Osterglocken,Tulpen und Forsythien
blühen im ganzenLand und strahlen
Frühlingsstimmung aus. PrächtigesWet-
ter ist für diekommendenTageange-
sagt, mit stahlblauem Himmel undTem-
peraturen von über 20 Grad. Bodenfrost
und Schnee sind bald endgültig passé.
«Sonnig und warm» lautet kurz und be-
stechend die Prognose für die nächsten
zehnTage – perfekterkönnten dieAus-
sichten nicht sein.
Nur: Zur Devise «Bleib zu Hause»
passen solcheVorhersagen ganz schlecht.
Nach drei Wochen Home-Office schwin-
det die Lust amDasein als Couch-Potato.
Die ausserordentlicheLage erscheint
«bei Sonne wieder in freundlicherem
Licht», konstatiert Stefan Blättler, Präsi-
dent derKonferenz der kantonalenPoli-
zeikommandanten (KKPKS). Eindring-
lich fordert er zur Einhaltung der gel-
tendenRegeln auf – «und zwar auchbei
schönstemWetter». Am Mittwoch warn-
ten schon die Bundesräte GuyParmelin
und KarinKeller-Sutter stellvertretend
fürden Gesamtbundesrat: «Je besser wir
unsalle an dieVorschriften halten, desto
schneller geht es.»


Leute bewegensich wiedermehr


LautDanielKoch vom Bundesamt für
Gesundheit (BAG) wird dieLage nach
demWochenende erneut beurteilt, und
allenfalls werden neue Massnahmen be-
raten. In bildhafter Erinnerung ist das
Wochenende vom14. März: Obwohl der
Bundesrat zuvor mit der landesweiten
Schliessung der Schulen klargemacht
hatte, wie ernst dieLage ist, vergnüg-
ten sich in denTagen darauf draussen
ganze Scharen auf Picknickplätzen und
in Gartenrestaurants. 24 Stunden später
sah sich dieLandesregierung gezwun-
gen, dasLand endgültig insWachkoma
zu versetzen.
Die Sorgen sind nicht unbegründet:
So zeigt das Mobilitäts-Monitoring des
Statistischen Amts des Kantons Zürich,
dass sich die Leute wieder mehr bewe-
gen als noch vor wenigenTagen. Zwi-
schen dem 13.März (als der Bundesrat
die Schulen schloss) und dem 29. März
war die täglich zurückgelegte Distanz in
allen Alterskategorien stetig und stark
gesunken – auf unter fünf Kilometer.
Doch seither legen die Leute wieder
etwas grössereDistanzen zurück. Die
Zunahmebewegt sich zwar auf tiefem
Niveau. DieTendenz umfasst aber alle
Altersklassen und städtische Gebiete
ebenso wie ländliche. Die Studie basiert
auf den Bewegungsdaten von rund 250 0
Personen, die mittels einer App ihren Be-
wegungsverlauf tracken lassen. Die Ent-
wicklung ist unproblematisch, solange die
Leute getrennt unterwegs sind – so wie es
derzeit meist zum gewohnten Bild gehört.
In den ersten zweiWochen nach dem
Lockdown waren Behördenvertreter
in der ganzen Schweiz des Lobes voll
für dieKonsequenz und die Gelassen-
heit, mit denen die Bevölkerung die ein-
schneidendenRegeln befolgte. Im Kan-
tonBasel-Stadt beispielsweise musste
diePolizei nur gerade 60 Bussen wegen
Verstosses gegen dasVersammlungsver-
bot aussprechen – die meisten in den ers-
ten beidenWochen.
Kein Wunder: DieVorschriften waren
neu und dieTemperaturen tief. Das Wet-
ter trug so zur Entspannung bei – oder
wie ein geflügeltesWort unter Ord-
nungshütern lautet: «Der bestePolizist
istPolizistRegennass.»Jetzt sieht es
anders aus: Im Hinblick auf das bessere
Wetter hatte die Sicherheitsdirektion der
StadtBern mit der Kantonspolizei schon


vergangeneWoche mehrPatrouillen ver-
einbart. Am Donnerstag kündigte auch
KKPKS-Präsident Blättler «eine erheb-
licheVerstärkung» derPolizeipräsenz im
ganzenLand an.
Andernorts geht man noch forscher
zur Sache: Ab sofort soll diePolizei im
Kanton Aargau öffentliche Plätze und
Parkanlagen perVideo überwachen.
Das hat derRegierungsrat kurz vor dem
Wochenende per Sonderverordnung be-
schlossen. Mit den zurVerfügung stehen-
den beschränkten polizeilichen Kräften
sei eine angemesseneKontrolle nicht
umzusetzen, schreibt dieRegierung. Der
Polizei müssten daher virtuellePatrouil-
len mitVideoüberwachung in Echtzeit
ermöglicht werden.
Auch die Sperrung von Hotspots, wo
sich in normalen Zeiten viele Menschen
treffen, wird bei Gemeindebehörden
immer beliebter. Zahlreiche Ortschaf-
ten haben in den letzten zweiWochen
Plätze undParkanlagen geschlossen, täg-
lichkommenneue hinzu.Teilweise wer-
den ganze Gebiete zu No-go-Arealen er-
klärt, so etwa das Seebecken in der Stadt
Zürich.Weil sich zu viele Menschen am
selbenOrt bewegten, sperrt nun auch die
Stadt Luzern im Hinblick aufsWochen-
ende mehrere Gebiete rund um den See,
die bis vor kurzem eigentliche Flanier-
meilen waren.
Doch diese Massnahme löst die Pro-
bleme nur teilweise. In St. Gallen wandte
sich die Stadtpolizei am Donnerstag nach
diversenRegelverstössen vom letzten
Wochenende aufFacebook eindringlich
an die Bevölkerung: Sie ruft dazu auf,
bekannte und beliebte Naherholungs-
gebiete, Orte und Plätze «nicht aufzu-
su chen». Der Kanton Schwyz stellt an
üblicherweise gut besuchten Orten und
auf Plätzen Plakate auf. Die Botschaft
auch hier: Haltet bloss dasVersamm-
lungsverbot trotzschönemWetter ein.
Auch abseits der städtischen Zentren
und der Agglomerationen wächst die
Angst vor dem grossen Oster-Backlash.
So zum Beispiel auf der Rigi. Als einer
von wenigenAusflugsbergen ist die Rigi
während der Corona-Krise weiterhin mit
dem öffentlichenVerkehr zu erreichen.
Dies, weil die Rigi-Bahnen nicht aus-

schliesslich demTourismus dienen, son-
dern auch ganzjährig bewohnte Gebiete
erschliessen.Mit einem starkreduzierten
Fahrplan stellen sie denVersorgungsauf-
trag sicher.
In den vergangenenWochen sei der
Ansturm auf das beliebteWandergebiet
ausgeblieben, stelltFrédéricFüssenich,
der CEO der Rigi-Bahnen, zwar fest:
«Die Zahl derPassagiere ist unter der
Woche und amWochenende fast gleich
gross. So hatten wir am vergangenen
schönen Samstag nur rund 20Frequen-
zen mehr als anWerktagen.» Doch der
Bahnchef, der sein Amt erst Mitte März
angetreten hat, weiss, dass der wahreTest
erst an den beidenkommendenWochen-
enden bevorsteht.
DieVerantwortlichen haben deshalb
ein Alarmdispositiv aufgezogen.Wenn
am kommenden Samstag viel mehr
Leute als üblich auf demPerron stünden,
werde zusätzlichesBahnpersonal aufge-
boten. So wird sichergestellt, dass die
Ausflügler unter Einhaltung derBAG-
Vorschriften transportiert werden.«Wir
können niemanden wegweisen, denn wir
haben eineTr ansportpflicht», erklärtFüs-
senich. Sollte es tatsächlich zu viele un-
disziplinierteAusflügler geben, will die
Bahn nötigenfalls dieKonsequenzen zie-
hen – und denBetrieb vollständig einstel-
len. «Dies wäre jedoch für die Bewoh-
ner von Rigi Kaltbad gravierend», er-
klärtFüssenich: «Sie wären weitgehend
von der Umwelt abgeschnitten.»

Das Tessin warnt vorReisen
Die KantoneTessin und Graubünden
befürchten gar eineregelrechte Inva-
sion vonTagesausflüglern und Zweit-
wohnungsbesitzern. Statt ihre Regio-
nen wie üblich mitTr aum-Fotomotiven
anzupreisen, halten die beiden von der
Corona-Pandemie besondersstark be-
troffenen Kantone den Unterländern
nun die Pistole an die Brust:Beinahe ulti-
mativ fordern sie dazu auf, über Ostern
zu Hause zu bleiben und aufkeinenFall
die stark geforderten Gesundheitsinfra-
strukturen zusätzlich zu belasten.
Inzwischen wird dieseAufforderung
sogar überRadio SRF verbreitet. Zu

mehr als überdeutlichen Appellen fehlt
dieKompetenz – anders als im nörd-
lichen Nachbarland. Dort haben die bei-
den BundesländerSchleswig-Holstein
und Mecklenburg-Vorpommern ihre
Grenzen fürTouristenkomplett gesperrt
und innerdeutscheTr ennlinien geschaf-
fen: So müssen beispielsweise Berliner,
die auf der InselRügen eineFerien-
wohnung oder ein Boot besitzen, der
Insel fernbleiben.
So weit will Alex Höchli,Talammann
desFremdenverkehrsortes Engelberg,
nicht gehen, doch auch er blickt den
kommendenWochenenden mitBangen
entgegen:«Wir setzen auf dieVernunft
und die Solidarität unserer Gäste»,
sagt er. «Engelberghat 4500 Einwoh-
ner und verfügt über rund 10 00 Über-
nachtungsmöglichkeiten. Allein die-
sesVerhältnis zeigt, wie schnell unsere
Gesundheitseinrichtungen im Ernstfall
überfordert wären.»
Um die Belastung möglichst tief zu
halten, hat die Einwohnergemeinde
Engelberg in einer Mail sämtliche
Ferienhausbesitzer dazu aufgefordert,
jetzt zu Hause zu bleiben.«Eshandelt
sich nicht um eineAusladung, son-
dern um einen Appell an unseresonst
immer gerne gesehenen Gäste», betont
Höchli. DerAufruf ist mit der Interes-
sengemeinschaft derFerienwohnungs-
besitzer abgesprochen.
Auchin der Westschweiz bereitet
man sich auf den Oster-Ansturm vor,
wenn es dort auch den umgekehrtem
Ansatz gibt. Statt die Bevölkerung von
Ausflugszielen fernzuhalten, setzt der
KantonWaadt neue Anreize für ein ab-
wechslungsreicheres Wochenende zu
Hause: Kurzerhand hat er beschlossen,
Gartenprodukte wieder besserzugäng-
lich zu machen. Seit Mitte März müssen
Gartencenter grundsätzlich geschlossen
bleiben – mitten in der Hochsaison ein
Ärger für sämtliche Hobbygärtner. Nun
dürfen sie in derWaadt Erde, Setzlinge
und Co. wenigstens perTelefon oder on-
line bestellen und vor Ort persönlich ab-
holen, ganz nach der Devise:Wenn uns
Corona schon denAusflug verpfuscht, so
soll es wenigstens auf «Balkonien» frohe
Ostern geben.

Im Hinblick auf dasWochenendewerden immer mehr öffentliche Plätze gesperrt (hier dieFritschiwiese in Zürich). ANNICK RAMP / NZZ

Das laufende


Schuljahr


gilt als vollwertig
Trotz Fernunterricht soll en
Schulabschlüsse st attfinden

(sda)·In allen Kantonen gilt das Schul-
jahr 2019/2020 als vollwertiges Schul-
jahr. Die Erziehungsdirektorenkonfe-
renz (EDK) hat festgelegt,dass dies
unabhängig vom derzeit laufenden
Fernunterricht oder von allfälligen wei-
teren Beschlüssen durch den Bundes-
rat gelten soll. Die Schulzeit werde da-
her nicht verlängert und die kantonal
festgelegten Schulkalender bleiben gül-
tig, teilte die EDK am Donnerstag mit.
DieFerien werden zudem nicht für den
Unterricht genutzt.
Für alle Klassen werden Zeugnisse
ausgestellt. Diese sollen mit demVe r-
merk «kein Präsenzunterricht während
der ZeitderCoronapandemie» ergänzt
werden.Für die Übertritte von der Pri-
marschule in die Sekundarstufe und von
der Sekundarstufe in weiterführende
Schulen ab dem 10. Schuljahr werden
die Kantone bis Ende April angepasste
Bestimmungen erlassen.
Die EDK verabschiedete wegen der
vom Bundesrat Mitte März und vorläu-
fig bis19. April verfügten Schulschlies-
sungen Massnahmen für schweizweite
Lösungen für alle Schulstufen. «Die
Kantone haben mit Beschluss vom


  1. April 2020 verschiedene Grundsätze
    und Massnahmen für die einzelnen Bil-
    dungsbereiche verabschiedet», schrieb
    die EDK dazu. Die Massnahmen wür-
    den per sofort gelten und in den Zu-
    ständigkeitsbereichen der Kantone
    umgesetzt.
    Laut EDK istsichergestellt, dass
    Absolventinnen und Absolventen von
    Schulen ab dem 10. Schuljahr – dar-
    unter Gymnasien – im Herbst 2020
    einen weiterführenden Studiengang
    aufnehmen oder eine Stelle antreten
    können. Die Schülerinnen und Schü-
    ler der Abschlussjahrgänge der Gym-
    nasien, derFachmittelschulen, der Be-
    rufsmaturitätslehrgänge sowie die Stu-
    dierenden derPasserelle «Berufsmatu-
    rität, Fachmaturität – Universitäre
    Hochschule» würden ihre Abschluss-
    zeugnisserechtzeitig erhalten, schrieb
    die EDK weiter.
    Auf welcher Grundlage die Zeug-
    nisse erstellt würden, werde spätestens
    Anfang Mai entschieden. In welcher
    Form also die Maturaprüfungen statt-
    finden, hängt nach Angaben der EDK
    stark vom weiterenPandemieverlauf ab.
    Die Qualifikationsverfahren in der Be-
    rufsbildung werden laut EDK gemein-
    sam mit dem Bund und den Sozialpart-
    nern geklärt.


VeraLast
Leiterin Financial
Accounting
zum selbstbestimmten
Leben

«Ichwill auchspäter
meinLebenselbstin
die Handnehmen.»
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