Neue Zürcher Zeitung - 03.04.2020

(Tina Meador) #1

12 SCHWEIZ Freitag, 3. April 2020


Entscheiden über Leben und Tod


Wer erhält bei knappen Ressourcen noch eine lebensrettende Behandlung? Ein Medizinethiker und ein Notfallarzt berichten


KATHRIN ALDER


Das Coronavirus bringt weltweit die Ge-
sundheitssysteme an den Anschlag. In
Italien oder Spanien erhalten längst nicht
mehr allePatientinnen undPatienten
die Behandlung, die sie nötig hätten. Die
Schweiz ist von solchen Zuständen bisher
verschont geblieben.Für denFall, dass
es in den Spitälern zu Engpässenkommt,
habenWissenschafter und Intensivmedi-
ziner gemeinsame Richtlinien für heikle
Triage-Entscheide auf Intensivstationen
veröffentlicht. Gefragt sind nun plötzlich
die klinischen Ethikerinnen und Ethi-
ker, die anden grösseren Spitälern in der
Schweiz tätig sind.Was können sie in die-
sen Tagen leisten? Und was nicht? Ein
Medizinethiker und ein Leiter eines Not-
fallzentrums erzählen.


«Grundsätzlich sieht mein Alltag derzeit
nicht sehr anders aus als sonst. Natürlich
ist er etwas surreal – wie wohl für die
meisten von uns. Die Spitallandschaft ist
verwaist, es hat kaum noch Angehörige
und Besucher, das Fachpersonal trägt
Gesichtsmasken.
Meine Hauptaufgaben als klinischer
Ethiker unterscheiden sich wegen der
Corona-Krise nicht von meiner sonsti-
gen Arbeit. Dilemma-Situationen sind
für uns alltäglich.Wir helfen dem medi-
zinischenFachpersonal,sogenannteWer-
tekonflikte aufzulösen, schwierige Ent-
scheide zu fällen und später zu ana-
lysieren. Unter normalen Umständen
stehtbei solchen Entscheidenimmer die
Selbstbestimmung derPatienten im Zen-
trum. DiesenWert halten wir in unserer
Gesellschaft hoch.Ärztinnen und Ärzte,
Pflegerinnen und Pfleger wollen immer
das Beste für den einzelnenPatienten.So
sind sie es gewohnt, so verlangt es auch
die medizinische Ethik – solange ge-
nügendRessourcen da sind.
Nun haben wir plötzlich dieseAus-
nahmesituation.Es geht jetzt nicht mehr
primär um die Gesundheit jedes Einzel-
nen, sondern um die Gesundheit der Be-
völkerung. Das Paradigma hat sich also
geändert.Wir Ethiker verbringen nun
sehr viel Zeit damit, diesenParadigmen-
wechsel zu erklären. Plötzlichkommen
neueWerte wie Solidarität undVolks-
gesundheit dazu. Die Gleichung neu zu
berechnen, ist für die Ärzte und das Ge-
sundheitspersonal manchmal schwie-


rig. Wir können sie dabei unterstützen.
Natürlich helfen auch die Richtlinien der
SAMW. Vor allem dann, wenn es schnell
gehen muss – Leben oderTod. Sie erset-
zen sozusagen die Gruppendiskussion,
die wir in ruhigeren Zeiten vor schwie-
rigen Entscheiden führen.Für die Ärzte
sind solcheEntscheide ja nichts Neues,
sie sind sich gewohnt, in einerTriage zu
denken.Aber sie entscheiden nie alleine,
auch wenn am Ende natürlich der lei-
tende Arzt oder die leitende Ärztin die
Verantwortung trägt.
Der Bevölkerung wiederum signalisie-
ren die Richtlinien, dass überWerte wie
Gerechtigkeit undFairness nachgedacht
wurde, dass bei Knappheitim Spital nie-
mand diskriminiert wird.Religion, Ge-
schlecht,Zugehörigkeit und dasAlter als
nackte Zahl spielenkeine Rolle. Es geht
auch umTransparenz, darum, dasskeine
willkürlichen Einzelentscheide getroffen
werden. Die Entscheide müssen begrün-
det werdenkönnen.Das ist für mich als
Ethiker sehr wichtig.
Natürlich herrschen nun Zeiten, in
denensich jeder seiner eigenenGesund-
hei t und seiner eigenen Sterblichkeit be-
wusst wird. Die Bilder aus Italien ma-
chen deutlich, dass ein Gesundheits-
wesen Grenzen hat. Doch möchte ich
klarstellen: Im Moment sind vor allem
die medizinischenFachpersonen gefragt,
nichtwir Ethiker.Wir treffen im Gesund-
heitswesen nicht die Entscheidungen.
Wir können die Unsicherheiten nicht
ganz auflösen. Wir können auch nicht
zurÄrztin oder demArzt sagen:Das hast
du richtig gemacht, jetzt kannst du heute
Nachtgut schlafen.
Et was bildlicher gesprochen:Wir sind
nicht die Schiedsrichter, die Fouls pfeifen
oder Karten verteilen.Wir sind Mitspie-
ler, die man einwechseln kann,wenn man
sich aufWerte undWertekonflikte fokus-
sieren will. Im Moment sprechen wir
mehrüberWerte alssonst , und Werte-
konflikte werden mehrreflektiert.Daher
spielen wir in den derzeitigen 90 Minuten
auch etwas aktiver mit.»

«Vor Corona war mein Alltag bestimmt
von Lehre, Forschung und Organisation,
aberauchvonderNotfallversorgung.Hier
im Notfallzentrum behandeln wir bis zu
160 Patienten proTag. Im Moment aber
liegt unserFokus auf den Corona-Patien-

ten.Wann kommen sie?Wie viele werden
es sein? Habe ich genug (gesundes)Per-
sonal, um einen Ansturm zu bewältigen?
Wir funktionieren in einem völlig
anderen Modus, mussten in kurzer Zeit
auf ein Krisensystem umstellen.Jetzt
können wir Covid-19-Patienten zu jeder
Tages- und Nachtzeit behandeln. Dafür
mussten zunächstRessourcen geschaf-
fen und gesichert werden. UnsereAuf-
gabe ist es, uns auf dieWelle vorzube-
reiten. Im Prinzip ist sie ja schon da, die
Frage ist nur, ob dazu noch eine Sturm-
flut kommen wird.
Trotz aller Kritik: In der Schweiz
haben wir vieles richtig gemacht.Wir
haben eines der besten Gesundheits-
systeme derWelt. Obwohl viele kleinere
Spitäler schliessen mussten, haben wir
eine gute Abdeckung, auchdie Dichte
und Qualität der Hausärzte ist hoch.
Ich bin stolz auf meine Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter, die mit viel Einsatz
undAltruismus arbeiten.Sie haben sozu-
sagen ein Bein in dieTür gestellt, bevor
sie zugegangen ist.Das alles stimmt mich
zuversichtlich, dass wir diese Krise in ab-
sehbarer Zeit meistern und die Sterbe-
rate weiter tief haltenkönnen.
Natürlich bereiten wir uns auch auf
schwierige Entscheidevor. Doch Kader-
ärzte im Notfall und in der Intensivpflege
sind es gewohnt, mit Leben undTod um-

zugehen.Wir entscheiden, ob eineThe-
rapie noch sinnvoll ist oder obPallia-
tive Care die bessere Lösung wäre, etwa
bei Patienten, die eine Hirnblutung oder
einen schweren Verkehrsunfall erlit-
ten haben. Neu sein wird vielleicht die
höhere Taktfrequenz, mit der wir schwie-
rige Entscheidungen treffen müssen.
Ich bin sehrfroh, dass wir im Spital
einen Ethiker haben.Er hilft uns, schwie-
rige Entscheide zu analysieren und zu
diskutieren. Die Ethiker halten uns oft
die Fackel imDunkeln.Deshalb finde ich
auch dieSAMW-Richtlinien sehr wichtig.
Das Letzte, was wirin einer Krisensitua-
tion wollen, ist, dass ein Einzelner ohne
Richtlinien entscheiden muss. In anderen
Ländern ist es zu solchen Entscheiden ge-
kommen.Aber den dortigenKollegen ist
gewissermassen die Handgranate in den
Händen explodiert,sie hatten kaum Zeit,
sich vorzubereiten. Solche Situationen
traumatisieren zutiefst und müssen ver-
hindert werden.Wir hatten etwas mehr
Zeit undkonnten uns besser vorbereiten.
Ich bin überzeugt, wir schaffen es, dass
wir niemandemeine Behandlung verwei-
gern müssen.Mit denSAMW-Richtlinien
können wir einen solchen Entscheid aber
gerecht und transparent fällen – und ihn
begründen.
Es wird eine Zeit nach der Corona-
Krise geben.Dann werden wir über die

Bücher gehen.Was haben wir richtig ge-
macht, was falsch?Wie haben wirkom-
muniziert?Können wir mit den Ent-
scheiden leben, die wir gefällt haben?
Auch bei derAufarbeitung solcherFra-
gen spielen für uns die Ethiker eine wich-
tige Rolle.
Im Moment bereiten mir neben den
Corona-Erkrankten die anderen Patien-
ten Sorgen. Ich habe Angst, dass sie
zu kurzkommen.Wir behandeln der-
zeit weniger alltägliche Notfälle, da-
bei gibt es weiterhin Menschen mit
Herz-Lungen-Problemen, chronischen
Schmerzen oder Depressionen.Viele
verkneifen sich den Besuch im Spital,
weil sie dasSystem nicht überlasten wol-
len oder weil sie sich voreiner Anste-
ckung fürchten.Was aber passiert, wenn
sich die Flut zurückzieht?Wenn wir am
Meer stehen, dann sehen wir Dinge am
St rand liegen, die wir vorher nicht ge-
sehen haben – auch viel Unschönes.
Es ist absolut entscheidend, dass wir
das Virus in den Griff bekommen.Wir
dürfen darob aber die übrigenPatienten
nicht vergessen. Und später müssen wir
uns um das Gesundheitspersonal küm-
mern, das an derFront gekämpft hat.
Erst wenn wir das alles schaffen,kön-
nen wir sagen, wir hätten die Krise gut
gemeistert.Darin zeigt sich die Stärke
einesSystems.»

Die Spitäler sind für schwierige Entscheiderund umCovid-19 gerüstet – dabei helfen auch Ethiker. ALESSANDRO CRINARI / KEYSTONE

RouvenPorz
Professor für
Medizinethik am
PD InselspitalBern

Aristomenis
Exadaktylos
Professor und Direktor
des universitären
Notfallzentrums am
PD InselspitalBern

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