Neue Zürcher Zeitung - 03.04.2020

(Tina Meador) #1

Freitag, 3. April 2020 WIRTSCHAFT 19


Eine kurze Geschichte der Kurzarbeit


Die vorübergehende Verringerung der Arbeitszeit gilt als Patentrezept geg en Entlassungen – nicht immer funktioniert die Massnahme


THOMAS FUSTER


Für die meistenAmerikaner ist dasWort
ziemlich schwerauszusprechen.Doch
eine passende Übersetzung für «Kurz-
arbeit» gibt es nicht. Alsobedientman
sich auch in den USA – ähnlich wie
bei anderen Germanismen wie Scha-
denfreude, Wanderlust oder Zeitgeist



  • des deutschen Lehnwortes und ist zu
    Radebrechen verurteilt, wenn man über
    Unterschiede zwischen dem amerikani-
    schen und dem europäischen Arbeits-
    markt diskutiert.
    Grosse Unterschiede gibt es durch-
    aus. In den USA gilt das Prinzip «hire
    and fire». In Krisen werden die Leute oft
    im Nu auf die Strasse gestellt, imAuf-
    schwung dafür wieder in grosser Zahl
    neu eingestellt. DieFolgen solchen Ge-
    barens zeigten sich am Donnerstag, als
    bekannt wurde, dass in den USA allein
    in den letzten zwei Märzwochen rund
    10 Mio. Menschen erstmals einen An-
    trag auf Arbeitslosenhilfe stellten. Ähn-
    lich riesige Sprünge gab es zuletzt in der
    Grossen Depression der1930erJahre.
    Auch inLändern wie Deutschland
    oder der Schweiz wird die Zahl der
    Arbeitslosen bald deutlich steigen. Doch
    die Zunahme dürfte in kurzerFrist ge-
    ringer ausfallen als in den USA. Denn
    anders als in der angelsächsischenWirt-
    schaftsweltsetzt man hierzulande in
    Krisen meistreflexartig auf das Instru-
    ment derKurzarbeit. Dessen vorrangi-
    ges Ziel besteht darin, in einerRezes-
    sion eineWelle von Entlassungen zu
    verhindern.
    Das Prinzip vonKurzarbeit ist ein-
    fach:Firmen erhalten inkonjunkturell
    schwierigen Zeiten eine Alternative zu
    Entlassungen. Die Mitarbeiter verrin-
    gern vorübergehend ihreArbeitszeit
    und werden über die Arbeitslosenkasse
    für den Einkommensverlust entschädigt.
    DieJobs und dieWirtschaftsstruktur
    werden bis zum Ende der Krise ge-
    wissermassen eingefroren.Das schützt
    die Arbeitnehmer vor Stellenstreichun-
    gen und die Arbeitgeber vor denKosten
    derPersonalfluktuation.


Wurzelnin Deutschland


Es istkein Zufall, dass dieKurzarbeit
vor allem inLändern anzutreffen ist,
wo die betrieblicheAus- undWeiterbil-
dung eine grosse Bedeutung hat.Wer
viel Geld und Zeit in dasWissen seiner
Mitarbeiter steckt, verzichtet ungern auf
die Erträge dieserInvestitionen und ist
daher eher bereit, die Angestellten über
eine längereDurststrecke hinweg zu be-
schäftigen. Die Schweiz mit ihrem dua-
len Bildungssystem steht exemplarisch
für diese Beobachtung.


«DieKurzarbeit passt eherzuVolks-
wirtschaften mit einem rheinischen
Kapitalismus», sagtTobias Straumann,
Professor für Geschichte der Neuzeit
an der Universität Zürich.Das rhei-
nische Modell ist – in Abgrenzung zur
angelsächsischen Wirtschaftsordnung


  • stärkerkorporatistisch geprägt und
    aufKonsens bedacht. Es will möglichst
    breite Bevölkerungsteile an derWert-
    schöpfung teilhaben lassen.«Wohlstand
    für alle» – wie schon Ludwig Erhard
    postuliert hat. Die historische Spuren-
    suche führt bei derKurzarbeit denn
    auch in den deutschsprachigenRaum.
    Das 1910 im DeutschenReich erlas-
    sene Kali-Gesetz gilt als der erste Er-
    lass, der eine solche Abfederungsmass-
    nahme vorsah. Weil es damals Produk-
    tionsquoten im Kalibergbau und in der
    Düngemittelindustrie gab, mussten ei-
    nigeWerke zeitweise stillgelegt werden.
    Für die finanzielle Überbrückung dieser
    Stilllegungen bezahlte der Staat eine so-
    genannteKurzarbeiterfürsorge.
    In der Schweiz kames erst1924 zu
    Ähnlichem. Damals wurde das erste
    Arbeitslosenversicherungsgesetz ver-
    abschiedet. «In diesem Gesetz wurde
    erstmals auch dieKurzarbeit erwähnt»,
    sagtJean-PierreTabin, Professor für


Sozialpolitik an derFachhochschule für
Sozialarbeit und GesundheitinLau-
sanne undKoautor eines Buches über
die Geschichte der Arbeitslosenver-
sicherung in der Schweiz. Mit der heuti-
genRegelung habe das damalige Gesetz
aberwenig zu tun. DieVersicherung war
noch freiwillig, und die Prämien wurden
ausschliesslich von den Arbeitnehmern
und dem Staat finanziert, ohne jede Be-
teiligung der Arbeitgeber.
Dass das Gesetz kurz nach dem Ers-
tenWeltkrieg lanciert wurde, hatte gute
Gründe. Solitt inden frühen1920erJah-
ren nicht nur die städtische Arbeiter-
schaft unter Armut, die ganze Schweiz
wurde von einer heftigen Krise erfasst.
DieRegierungbetrat wirtschaftspoliti-
sches Neuland und unterstützte betrof-
fene Sektoren, etwa die Stickerei-, die
Uhren- und die Hotelbranche. Denn ab-
gesehen von der Armenfürsorge gab es
damals für Direktbetroffene kaum ein
soziales Netz. Dies änderte sich unter
dem Eindruck der Kriegsfolgen und des
Landesstreiks von 1918 sukzessive.
War die Schweiz im internationalen
Vergleich ein sozialpolitischer Nachzüg-
ler? Straumann hält diese Einschätzung
für irreführend. Man müsse sich stets die
föderalistische Struktur desLandes vor

Augen halten. Es habe in der Schweiz
auch in frühenJahren diverse private
und genossenschaftliche Initiativen ge-
geben; eine wichtigeRolle spielten da-
bei gemeinnützige Organisationen. «Es
tat sich sozialpolitisch einiges. Aber die
Engagements waren sehr dezentral und
historisch schwieriger zu erfassen.»
Von 1924 bis zum Obligatorium der
Arbeitslosenversicherung, das1976 vom
Parlament beschlossen und1982 in ein
Bundesgesetz gegossen wurde, verging
jedoch viel Zeit. Abzubauen galt es da-
bei nicht nur die Diskriminierung der
Frauen, die vor allem in der Krise der
1930erJahre oftKurzarbeit leisten muss-
ten, für ihre Lohneinbussen aber nicht
entschädigt wurden,weil ausschliess-
lich der Lohn des Mannes als massgeb-
liche Grösse galt. ImJahr1951 wurden
auch dieRegeln für den Nachweis von
Kurzarbeit gelockert. «Letztlich kam es
erst1982 zu einer klaren gesetzlichen
Unterscheidungzwischen Arbeitslosig-
keit und Kurzarbeit. Zuvor wurden
die zwei Dinge oft vermischt», sagtTa -
bin.Das Obligatorium war eineReak-
tion auf die Erdölkrise der1970erJahre,
bei derenAusbruch erst einFünftel der
Erwerbstätigen gegen Arbeitslosigkeit
versichert war. Ferner setzte sich in der

Politik die Einsicht durch, dass das Pro-
blem der Arbeitslosigkeit nicht länger–
wie zuvor oft derFall – über dieRück-
sendung von Saisonniers oderJahresauf-
enthaltern «exportiert» werdenkonnte.
Eine solcheAuslagerung geriet auch im
Ausland zusehends in die Kritik.

Erfolgje nach Krise
So etabliert die Kurzarbeitsentschä-
digung in den vergangenenJahrzehn-
ten geworden ist, unumstritten ist das
Instrumentkeineswegs. Bisweilen wird
eingewendet, Entlassungen würden mit
Kurzarbeit nicht verhindert, sondern
nur hinausgezögert, nämlich auf dieZeit
nachBeendigungder Unterstützung.
Ein zweiter Kritikpunkt zielt auf die so-
genannten Mitnahmeeffekte. Demnach
werdenKurzarbeitsentschädigungen oft
dazu eingesetzt,Arbeitsplätze zu erhal-
ten, die auch ohne staatliche Hilfe wei-
terbestanden hätten.
Ob die Kritik begründet ist, lässt sich
nur fallweise beantworten. Im Nachzug
zurFinanzkrise desJahres 2008 scheint
das Instrument durchaus funktioniert
zu haben. Zu diesem Schlusskommt
jedenfalls eine Studie derKonjunktur-
forschungsstelleKOF.Laut denAuto-
ren hat dieKurzarbeit zwischen 2009
und 20 15 dazu beigetragen,Entlassun-
gen nachhaltig zu verhindern.Auchkos-
tenmässig habe sich der Einsatz gelohnt,
daAusgaben für Arbeitslosengelder ein-
gespart worden seien.
Zu einem weniger rühmlichen Ergeb-
nis gelangt eine ebenfalls von derKOF
durchgeführte Studie zurRezession der
Jahre 20 01 bis 2003.Damals habe die
Kurzarbeit nicht zum erhofften «Hor-
ten» von Arbeitsplätzen geführt.Viel-
mehr habe diegrosseMehrzahl derFir-
men mitKurzarbeit die Beschäftigung
gleichwohl abgebaut.Auch in derRezes-
sion von1981 bis1983 – und erstrecht in
jener zwischen1991 und1993 –konnten
dieForscherkeinen signifikanten Bei-
trag derKurzarbeit zur Stabilisierung
der Beschäftigung beobachten.
Wie die Bilanz nach der Corona-
Krise ausfallen wird, weiss heute noch
niemand. «Die Kurzarbeitsentschädi-
gung wird aber sicher extrem teuer», sagt
Straumann.Früher sei in den Unterneh-
men jeweils nur einTeil der Belegschaft
inKurzarbeit geschickt worden, wäh-
rend die anderen voll arbeiteten. Heute
würden viele Betriebe sämtliche Ange-
stellten in dieKurzarbeit abschieben.
Zwei Quartale langkönne man die Stel-
len wohl noch behalten, meint derWirt-
schaftshistoriker, länger aber kaum.Ent-
sprechend wichtig sei es, die vom Bun-
desrat verhängten Massnahmen mög-
lichst bald wieder lockern zukönnen.

Kurzarbeit soll vor Erwerbslosigkeit schützen. Im Bild:Arbeitslose stehen 1936 im Zürcher Arbeitsamt Schlange.PHOTOPRESS-ARCHIV / KEYSTONE

10 Millionen neue Arbeitslose in zwei Wochen


In den USA lässt die Corona-Krise die Zahl der Anträge auf staatlicheUnterstützungsleistungen explodieren


MARTIN LANZ,WASHINGTON


Rund 90%deramerikanischen Bevöl-
kerung sind derzeit aufgefordert, zu
Hause zu bleiben.Vor diesem Hinter-
grund breitet sich die Schockstarre der
US-Wirtschaft aus.Das Arbeitsminis-
terium hat am Donnerstag die zweite
Woche inFolge einen Riesenansturm
auf Arbeitslosenhilfe vermeldet.Für die
am 28.März zu Ende gegangeneWoche
wurden 6,65 Mio. Erstanträge auf Hilfe-
leistungenregistriert. In derWoche zuvor
waren es 3,3Mio. gewesen. Eine derartige
Entwicklung hat es noch nie gegeben. Im
Durchschnitt derJahre 20 00 –20 19 sind
etwa 345 000 Erstanträgeauf Arbeits-
losenhilfe proWoche eingegangen.
Nachdem innertWochen 10 Millio-
nen Amerikaner arbeitslos geworden
sind, dürfte derRekordder Arbeitslosig-
keit aus den Zeiten derFinanzkrise be-
reits wackeln. ImFebruar 2020, vorAus-
bruchder Corona-Krise,galten offi-
ziell5,8 Mio. Amerikaner als arbeitslos
(3,5%). Diese Zahl dürfte inzwischen


gegen 16 Mio. streben (10%).Damit
würde die Höchstzahl von15,4 Millio-
nen (10%) im Oktober 2009 übertrof-
fen. Die höchste Arbeitslosenquote seit
dem ZweitenWeltkrieg überhaupt geht
auf die Monate November und Dezem-
ber1982 zurück, als einWert von 10,8%
gemessen wurden. Dieoffizielle Arbeits-
losenzahl und -quote wird in denkom-
menden 10Tagen erhoben. Die ausführ-
liche Statistik dazu wird aber erst am


  1. Mai veröffentlicht.
    Am meisten Gesuche auf Arbeits-
    losenhilfe wurden vergangeneWoche
    in den Gliedstaaten Kalifornien,Penn-
    sylvania, NewYork und Michigan ver-
    zeichnet.Wie schon für dieWoche zuvor
    ist zu bezweifeln, dass die Arbeitsämter
    alle eingegangenen Gesuche zeitgerecht
    registrieren und behandelnkonnten.
    Ein Grund für den Ansturm auf die
    Arbeitslosenhilfe ist der Corona-be-
    dingt starkeAusbau der Leistungen. Be-
    troffene werden von den Behörden der-
    zeitregelrecht dazu aufgerufen, einen
    Antrag zu stellen. In normalen Zeiten


ist das US-System der Arbeitslosen-
versicherung vergleichsweise knause-
rig. Und nur wer entlassen worden ist,
sich aktiv um eine Stelle bemüht und
unmittelbar verfügbar ist, hat Anspruch
auf die Leistungen.Die landesweit im
Durchschnitt ausbezahlte wöchentliche
Arbeitslosenhilfe erreichte imFebruar
387 $, bei einer maximalen Bezugsdauer
von 26Wochen. Sie deckt damit etwa die
Hälfte des bisherigen Lohnes. Durch
denAusbau der Leistungen wegen der
Corona-Krise erhält nun jeder An-
spruchsberechtigte zusätzlichzu den
normalen Leistungen pauschal 600 $ pro
Woche während 4 Monaten.Das wird
Washington über 250 Mrd. $kosten und
istTeil des vor einerWoche in Kraft ge-
setzten 2-Bio.-$-Hilfspakets des Bundes.
Wirtschaftsprofessor Arindrajit
Dube von der University of Massachu-
setts Amherst schätzt, dass damit rund
85% der bisherigen Löhne ersetzt wer-
den. Er glaubt auch, dass dank der star-
ken Lockerung der Qualifikationskrite-
rien rund dreiViertel allerArbeits-

losen in den Genuss der Leistungen der
Arbeitslosenversicherungkommen wer-
den.Typischerweise bezieht nur einer
von vier Arbeitslosen Arbeitslosenhilfe.
Corona-bedingt haben mindestens
vorübergehend auch Selbständige, un-
abhängigeAuftragnehmer und freie Mit-
arbeiter vonFahr- und Lieferdiensten
Anspruch auf Arbeitslosenhilfe.Durch
die Maschenkönnten allenfalls Studien-
abgänger fallen, wenn diese im Sommer
und Herbst neu auf den Arbeitsmarkt
stossen. Es ist davon auszugehen, dass bei
einem längeren Andauern der Corona-
Krise die Arbeitslosenhilfe auch für diese
Gruppe geöffnet wird.Ausserdem dürf-
ten sich die Arbeitslosenversicherungs-
fonds der Gliedstaaten, welche für die
Auszahlung der Standardleistungen zu-
ständig sind, bei einer längeren Krise
rasch erschöpfen. Laut derTax Foun-
dation sind bereits jetzt die Hälfte der
Gliedstaatenfonds nicht solvent genug,
um eineRezession zu meistern.Washing-
ton wirdalso früher oder späteraufgeru-
fen sein, dieseFonds wiederaufzufüllen.

Der Erdölpreis


spie lt verrückt


Preiszuwächse von bis zu 30 Prozent

cri.· Am Erdölmarkt scheint nichts mehr
normal zu sein. Am Donnerstag ist die
Notierung für einFass der Sorte WTI an
denTerminmärkten um bis zu 30 Prozent
auf bis zu 27 Dollar gestiegen. Zunächst
hatte China angekündigt, seine strategi-
schen Erdölreservenaufzustocken. Einen
richtigen Sprung gab es etwas später, als
US-Präsident DonaldTr ump sagte, Saudi-
arabien undRussland würden ihreFörder-
mengen erheblich kürzen. Seine Bemer-
kungen lösten sofort Skepsis aus, sogar
innerhalb der amerikanischenRegierung.
Vertreter der beiden grösstenFörderlän-
der hinter den USA dementierten umge-
hend. So war beiTr ump wohl wieder ein-
mal derWunschVater des Gedankens.
Aber er hat ihn zu einem günstigen Zeit-
punkt geäussert. Denn die Marktteilneh-
mer wissen, dass der Erdölmarkt über-
versorgt ist, und haben sichentsprechend
positioniert.Dabraucht es nicht viel, um
eine gewaltige Gegenbewegung auszu-
lösen.Zum Beispiel einenTweetvon
einem gewissen HerrnTr ump.
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