Neue Zürcher Zeitung - 03.04.2020

(Tina Meador) #1

28 FEUILLETON Freitag, 3. April 2020


Quarantäne muss eine Hölle der Achtsamkeit sein


Aber Kant hilft auch hier. Wir können nun den kategorischen Imperativ in den eigenen vier Wänden an uns selbst erproben


PAUL JANDL


Das Leben muss ja weitergehen, also
geht auch der Mann vongegenüber zur
gleichen Zeit wie immer aus dem Haus.
Er hat seine grossePapptafel dabei,auf
derWörter wie «Behörden», «Unrecht»
und «Willkür» stehen.Wie sonst auch
wird der Mann unter irgendeiner
S-Bahn-Brücke seine Geschichte des
Unrechts hinausschreien. Wenn er
abends wieder zurückkommt, dreht
er mit seiner Empörung in unserer
Strasse noch einmal eine Ehrenrunde.
Manchmal nimmt er seine Arbeit auch
mit in dieWohnung. Dann kommt die
Polizei.
Das Coronavirus ist dem Mann auf
nicht unsouveräne Weise egal. Es stört
ihn kaum, dass jetztkeine Leute mehr
auf der Strasse sind, denen er seine
Geschichte erzählen kann. Seine Ge-
schichte handelt davon, dass auf ihn
nichtRücksicht genommen wird.Vom
Staat, vonden Behörden.Dass sich die
Welt weitergedreht hat und dass es jetzt
um Rücksicht in anderen Dimensionen
geht, macht die Existenz des Mannes
auf paradoxeWeise tragisch. Und in der
Stadt ist er jetzt noch mehr allein.
Als man von der Corona-Krise
zwar schon gehört hatte, sie aber noch
nicht wirklich ausgebrochen war, gab
es Augenblicke der Selbstzivilisierung
und auf einmal mehr Platz. Der Drang


zum Drängeln hatte nachgelassen.
Es war eine ArtTagtraum vom guten
menschlichen Umgang. ImTram kam es
zu Zwiegesprächen zwischen Obdach-
losen und ganz normalenFahrgästen.
Ich war dabei, als ein dezent verwahr-
loster Mensch eineFrau aus dem hie-
sigen Szenebezirk fragte, ob sie nicht
ein paar Münzen hätte. Nein, habe
sie nicht. Aber etwas zu essen. Süss
oder salzig? Der Mann hat sich gour-
methaft langsam entschieden, und als
er dann fertig gegessen hatte, fragte
er noch: «DieDame ist nicht zufällig
auchRaucherin?» DieseFormen spon-
tan-zivilen Umgangs sind auch schon
wieder vorbei. Die Menschen sehen
sich kaum noch.

Die verstaatlichte Rücksicht
Kants schöner kategorischer Impera-
tiv, der ja darauf zielt, dass wir auf frei-
willige Art freundlich miteinander um-
gehen, ist den Händen der Bürger ent-
wunden. DieRücksicht ist jetzt ver-
staatlicht, und niemand fragt uns in der
gegenwärtigenLage nach unseren priva-
ten Moralentscheidunge n.Die staatliche
Entscheidung, dass wir zu Hause blei-
ben sollen, um einander nicht zu scha-
den, ist kategorisch, und das ist auch gut
so. Mankennt ja die Menschen, und die
Polizei kennt sie auch.Sie fährtmit ihren
Autos durch die Stadt, um sie auseinan-

derzutreiben.ImPolizeibericht steht am
nächstenTag, wie viele Menschenaus-
einandergetrieben werden mussten.Die
Zahlen sinken.Wir können das nach-
lesen, wenn wir in unserenWohnungen
sitzen und dazu verdammt sind, Kant
an uns selbst zu üben.Was könnte jetzt
eine Maxime sein,von der wir wollen
können, «dass sie allgemeines Gesetz
werde»? Mehr Gemüse? Live-Streams
machen? Denandern beimJoggen nicht
ins Gesichtkeuchen?
Die andern sind ja auch noch da.
Vor allem die Nachbarn. Man hört sie
hinterden Wänden scharren und scha-
ben. Sie schauen sich dieWiederholun-
gen von «Bares fürRares» an. Neben
mir wohnt eineFrau, die schon vor der
Corona-Krise gehustet hat. Bis jetzt
hustet sie noch nicht mehr als vorher,
im Gegenteil: Sie hüstelt. Den anderen
Nachbarn hört man eigentlich selten,
nur einmal im Monat dreht er, aus wel-
chen Gründen auch immer, ganz laut
HeavyMetal auf. In derNacht zwischen
eins und drei. «Er lässt wieder die Sau
raus», murmle ich dann für gewöhnlich
im Halbschlaf, aber seit der Corona-
Kris e hat er seine private Musiksau
noch nicht herausgelassen.Aus Rück-
sicht?Was Rücksicht betrifft, war der
Mann bisher eherkein Profi,aber die
Profis gibt es auch.
«Achtsamkeit» heisst dasTherapeu-
tenwort, das eigens erfunden wurde,

um so etwasBanales wie menschliche
Rücksicht in eine ArtWellness des Mit-
gefühls aufzuwerten. Der Gipfel die-
ser Wellness ist das Mitgefühl mit sich
selbst. Man sieht dieJünger derAcht-
samkeit durch die Bioläden schlurfen
und auf entschleunigte Art das Obst be-
tasten.Wo immer sie auch sind,erku n-
digen sie sich nach Zutaten.

Zur Notmit dem Regenschirm
Ich muss gestehen, dass mich eine ent-
scheidende Nebenwirkung der Qua-
rantäne nicht unfroh macht: Die Eso-
teriker haben jetzt alle Zeit derWelt,
das breite Nichts transzendenter Erfah-
rung in den eigenen vierWänden aus-
zukosten. Quarantäne muss eine Hölle
der Achtsamkeit sein. Man hat Zeit,
sich die Zutaten veganer Brotaufstri-
che hundertmal vorzulesen. Und man
hat wochenlang Zeit, in sich hineinzu-
horchen. Ich glaube, wenn die Corona-
Krise vorbei ist, wird es weniger Eso-
terik geben.
Ausserhalb unserer Quarantänen
muss jetztRücksicht herrschen. Es ist
ein Mindestabstand einzuhalten. Schon
unter normalen Umständen ist der
Mensch dem Menschen bekanntlich ein
Wolf, und wie dann erst in Krisenzeiten!
Ich habe in meiner Stadt einen alten
Mann gesehen, der sich den Mindest-
abstand mit seinem Schirm erkämpft

hat. Er hat sich Schneisen durch eine
ohnehin schüttere Zahl an Mitbürgern
geschlagen. Es war eine paramilitäri-
sche Aktion medizinischerVernunft.
Der Kampf der Alten mit ihren eigenen
Waffen: Regenschirmen.
Das Böse, es schläft nicht, und man
er kennt es imAugenblick daran, dass
es sich freier bewegt als wir selbst. Der
Bürgermeister des österreichischen
Dorfes Grossmürbisch hat seine Bür-
ger dazu aufgerufen, jedesAuto anzu-
zeigen, das nichtaus der näheren Um-
gebung stammt. So sind die Grossmür-
bischer vielleicht dagegen gefeit, von
kl einmürbischenViren angesteckt zu
werden, und wenn doch einer krank
wird, dann weiss man, woher das
kommt.Von derRücksichtslosigkeit.
Von derRücksichtslosigkeit, die selber
wie einVirus ist.
Sie vergrössert vielleicht den rück-
sichtslosen Kleinmürbischer und macht
ihn zur Gefahr. Das Virus kennt auch
keine Grenzen.Damit dieLage wieder
besser wird, werden wir in der nächsten
Zeit auch weiterhin zw ischenVorsicht
und Rücksicht leben.
Die Schlechten unter uns tun jetzt
aber Dinge mit voller Absicht. In Ame-
rika zum Beispiel hat eineFrau ganz
absichtlich in dieRegale eines Super-
markts gehustet. Waren imWert von
mehreren zehntausend Dollar mussten
daraufhin vernichtet werden.

Freiheit ist auch nur ein anderes Wort für Käfig


Die dritte Staffel der Science-Fiction-Wester n-Serie «Westworld»fragt nach dem feinen Unterschied zwischen Mensch und Maschine


TOBIAS SEDLMAIER


Ein Kranz aus Vorschusslorbeeren
kann schwerdrücken. Als die Serie
«Westworld» 2016 auf dem amerika-
nischenFernsehsender HBO startete,
dämmerte am Horizont allmählich,
aber sicher das Ende von «Game of
Thrones», dem bis dato grössten Erfolg
des Senders. Passend, dass der poten-
zielleThronfolger bereits in den Start-
löchern stand, ambitioniert, im Edel-
Look und prominent besetzt mit Evan
RachelWood, Thandie Newton, Ed
Harris und Anthony Hopkins. Doch
«Westworld» istkein Westeros.
Ähnlich wie «Bates Motel» oder
«Sleepy Hollow» basiert das Science-
Fiction-Western-Crossover auf einem
Kinofilm, Michael Crichtons «West-
world» von1973. Die Serie dehnt die
überschaubare Genre-Idee eines mit
Androiden,sogenannten Hosts, bevöl-
kerten Themenparks, der ausserKon-
trolle gerät, auf ein ganzes Universum
aus. Das heisst, dass nicht nur weitläu-
figes «world building» mit Charakter-
ver tiefung und spektakulärer Ortsbe-
schau betrieben wird – auch die philo-
sophische Grundierung ist universaler
gefärbt.


Wer hält die Fäden?


Was macht das Menschliche des
Menschen aus? Beseelt ihn so etwas
wie ein freier Wille? Oder unter-
scheidet sich sein Verhalten kaum
wesentlich von einem programmier-
ten Computercode? Die erste Staf-
fel von«Westworld» war straff, kon-
zentriert, meisterlich erzählt. Hopkins
glänzte alsParkgründer Dr. Robert
Ford in einerRolle, in der er sich spä-
testens seit der des Hannibal Lecter
am wohlsten fühlt: als hochintelligen-
ter, kaltblütigerChevalier, der im Hin-
tergrund die Strippen zieht.
Zumindest so lange, bis in der zwei-
ten Staffel klar wurde, dass niemand
richtig dieFäden in der Hand hält.Statt-
dessenregierten Chaos, Kontrollver-
lust und Gottkomplexe, sowohl in den
verschiedenen Bereichen desThemen-
parks als auch im Drehbuch selbst. So
manches allzu Messianische erinnerte
an den gescheiterten Grössenwahn der
«Matrix»-Sequels, ihrerseits noch immer


die Mainstream-Messlatte bei derDar-
stellung virtuellerWelten.
Hopkins geisterte als Erinnerung
herum, Harris als Mann in Schwarz war
nur einrächender, enttäuschter Schat-
ten.Ein paar schockierende Wendungen
konnten die gähnendenLängen,etwa in
der Shogun-Welt,nicht wettmachen.Am
Ende war die feine Linie zwischen Men-
schen und maschinenhaften Hostsvöllig
verwischt.Das rasante Spiel der beiden
Macher undAutorenJonathan Nolan
und LisaJoy mit den Identitäten ihrer
Figuren hatte sich so erschöpft,dass man
nur hoffenkonnte, sie würden mit der
dritten Staffel eine neueKonsolidierung
erreichen.
Staffel 3 setzt drei Monate nach dem
finalen Gemetzel in Staffel 2 ein, nun

sehen wir zum ersten Mal die «wahre»
Welt ausserhalb desParks, die man
daran erkenne, «dass sie durch nichts zu
ersetzen ist», wie Dolores (EvanRachel
Wood) sagt. Ihr Ziel nach demAusbruch
aus Westworld istRache an den Men-
schen, für all die Schläge, Morde, Ver-
gewaltigungen, die diese Hosts wie ihr
angetan haben. Die Farmerstochter-
tracht hat sie längst gegen Leder ge-
tauscht, mit ihren verhärteten Gesichts-
zügen wirkt Dolores wie eine Mischung
aus der Maschinenfrau Maria in «Metro-
polis» und derTerminatrix aus«Termi-
nator 3».
Einen unerwarteten Verbündeten
findet sie im Ex-Soldaten undBauarbei-
ter C aleb Nichols, der sich mit Gelegen-
heitsverbrechen per App Geld dazuver-

dient, vom gesetzeskonformenAufstieg
jedoch nur träumen kann.Der alles kon-
trollierende Algorithmus hat ihm längst
seinenPlatzin der Gesellschaft zugewie-
sen, einWink an «Black Mirror». Aaron
Paul spielt dieses traumatisierteWrack
mit der gleichenrauen,geerdeten Inten-
sit ät wieJesse Pinkman, so als sei dieser
direktaus dem «BreakingBad»-Filmauf
dem «CaminoReal» in das futuristische
Neu-Los-Angeles von«Westworld» wei-
tergefahren.

Ein (Alb-)Traum aus Glas
Das Set-Design der Serie ist zwar nicht
ausgesprochen originell, aber den-
noch in seiner Detailfreude atemberau-
bend. Architektur und Objekte fun-

keln maximal glattpoliert und offen: ein
(Alb-)Traum aus Glas und Oberfläche,
die filmischeRealisierung des Essays
«Transparenzgesellschaft» von Byung-
Chul Han. Es ist eineWelt, die futu-
ristisch aussehen soll, dabei lediglich
unsere mit Apple- undTesla-Produkten
vollgestopfte Gegenwart weiterdenkt.
Und in der, oft dezent im Hintergrund,
von «BladeRunner» bis (tatsächlich!)
«Game ofThrones» sehr vieles herbei-
zitiert wird.

Roboter tötennicht
Bereits nach der Hälfte der achtFol-
gen lässt sich konstatieren, dass die
dritte Staffel von«Westworld» wieder
ebenso phantastische Momente bereit-
häl t, wie sieBallast mitschleppt. Man-
che Handlungsstränge, etwa der, in dem

Maeve sich durch das faschistische Ita-
lien schlägt, führen kaum zu neuen Er-
kenntnissen. Andere zerfasern oder er-
halten zu wenigRaum, wie der mit dem
zweiten neuen Star, Vincent Cassel, der
als undurchsichtiger Algorithmenchef
mehr grau als Eminenz ist.
Ihrem Prinzip, das komplexeVer-
hältnis des Menschen zu seiner tech-
nischen Fortentwicklung immer wei-
ter zu drehen, bleibt die Serie jedoch
treu. «Robots don’t kill people, people
kill people», heisst es an einer Stelle.
«Westworld» setzt mit derTechnikkritik
am richtigen Punkt an: dem Menschen
selbst und seinen vielfältigen Unzuläng-
lichkeiten.Wir sind es, die den Code pro-
grammieren, und wir entscheiden letzt-
lich auch, ob Freiheit im Maschinozän
nur ein anderes Wort für Käfig ist.

«Westworld», Staf fel 3: Seit 30. März eine
Folge wöchentlich bei Sky Show.

Mensch (AaronPaul) und Maschine in der Arbeitspause vereint. PD

Was macht
das Menschliche
des Menschen aus?
Beseelt ihn so etwas
wie ein freierWille?
Free download pdf