Neue Zürcher Zeitung - 03.04.2020

(Tina Meador) #1

INTERNATIONALIFreitag, 3. April 2020 Freitag, 3. April 2020 NTERNATIONAL


«Wie ineinem Feldlazarett, während unentwegt Bomben fallen»


In Spanien mangelt es bei der Bekämpfung von Covid-19 an Ausrüstung wie an Koordination – Stimmen aus Madrider Spitälern


UTE MÜLLER, MADRID

Patienten, die wegen fehlender Betten
in Plastikstühlen ausharren müssen.An-
dere, die nachts auf dem Boden liegen
oder gar sterben, ohne sich von ihrer
Familieverabschieden zukönnen,weil
dieser der Zutritt zum Spital verwehrt
ist. All dies hat MercedesRomero in
den vergangenen beidenWochen erlebt.
Die 49-Jährige arbeitet seit zwölfJahren
in derVerwaltung des Spitals Severo
Ochoaim bevölkerungsreichenVier-
tel Leganés in Madrid.Kaumein Spi-
tal symbolisiert die Dramen, die sich in
diesenTagen in Madrid abspielen, stär-
ker als Severo Ochoa.
Die Krisenregion Madrid hat mit 4175
Toten die höchste Zahl derTodesopfer
in Spanien, wo bisher landesweit über
10 000Menschen demVirus zum Op-
fer gefallen sind und mehr als 110 000
Menschen infiziert sind. «In Leganés
leben sehr viele alte Menschen, darum
waren wir vermutlich die ersten, die
denKollaps der Notaufnahmen erleb-
ten», erz ählt MercedesRomero. Beson-
ders dramatisch wirkt sich dasFehlen
von genügend Schutzausrüstung aus, sie
wird dringend benötigt in einem Spital,in
dem mittlerweile 95 Prozent derPatien-
ten wegen Covid-19 behandelt werden.
Es wird vonTag zuTag schwerer, die
500 Patienten des Krankenhauses, das
eigentlich nur 380 Betten hat, zu versor-
gen, weil immer mehr Pfleger und Ärz-

tinnen sich mit demVirus anstecken.
«Es fehlen insbesondere Masken», klagt
Romero. Auch die luftdichten Schutz-
anzüge böten mit der Zeitkeinen zu-
verlässigen Schutz mehr. Manche Pfle-
gerinnen hätten zeitweise mitRegen-
hüllen aus Plastik made in China ge-
arbeitet, bei denen die Ärmel zu kurz
gewesen seien. Mittlerweile hätten sich
sogar Mitarbeiter in Bereichen wie der
Kinder- oderRöntgenabteilung infiziert,
weil sie ihre Schutzausrüstung den Co-
vid-19-Teams überlassen mussten. So ist
rundein Zehntel der Belegschaft infi-
ziert, das entspricht 200Personen.

Maskenaus 3-D-Druckern
«Unser Pflegerinnen und Pfleger fühlen
sich wie in einem Kriegsfilm, so als be-
handelten sie Kranke in einemFeldlaza-
rett , während unentwegt Bomben auf
sie fallen», resümiertRomero die Stim-
mung. ZumBild des Feldlazarettspasst,
dass seit Mittwoch auch die Sporthalle
von Leganés zurAufnahmestation für
Covid-19-Infizierte umgewandelt wird.
«Unsere Spitäler waren überhaupt
nichtvorbereitet», kritisiertJaime Bor-
rego, ein Urologe, der nur nochCorona-
Patienten behandelt. «Dabei hatten wir
am Beispiel Italien gesehen, was auf uns
zukommt.» Der 55-Jährige geht mit der
Klinikleitunghart ins Gericht. Er habe
den Geschäftsführer gewarnt,doch dieser
habe ihn nicht ernst genommen, so Bor-

rego. Immerhin war die Notaufnahme am
Donnerstag weniger voll als zuvor, dafür
meldete ein Spital unweit des Madrider
Regierungsviertels Moncloa, seine An-
laufstelle sei hoffnungslos überlastet.
Nur zwölf Kilometer vom Severo
Ochoa entfernt,im Spitalvon Móstoles,
einem weiteren Südbezirk von Madrid,
sitzt Sonia Melantuche, eine gelernte
Krankenpflegerin, die vor ein paarJah-
ren auf einen Schreibtischjob innerhalb
des Krankenhauses gewechselt hat. Die
47-Jährige wartet gerade darauf, getestet
zu werden, sie glaubt,sich bei einerKol-
legin angesteckt zu haben. Im Spital von
Móstoles sind bereits 320 der 345 Bet-
ten von Covid-19-Patienten belegt. «Was
uns in diesen schweren Zeiten über die
Runden hilft,ist die Grosszügigkeit vie-
ler Anwohner. Nachbarschaftsverbände
stellen für uns Masken mit 3-D-Dru-
ckern her, einige kleine Betriebe nähen
Schutzkleidung», erzählt Melantuche.
Gleichzeitig wird dieVersorgung der
Patienten in Móstoles tagtäglich schwie-
riger, weil vieleÄrztinnen und Pfleger ins
Madrider Messegelände Ifema beordert
wurden, wo ein provisorisches Kranken-
haus mit 5500 Betten aufgestellt wurde.
Vergleichsweise gut haben es die Co-
vid-19-Infizierten im MadriderVorzeige-
spital Princesa im Nobelviertel Salamanca.
DreiPersonen, unter ihnen einFacharzt,
kümmern sich um je acht Erkrankte – und
das, obwohl in der Klinik, die normaler-
weise 400Patienten Platz bietet, bereits

550 behandelt werden. ÁlvaroDasch-
ner arbeitet im Princesa, der 56-Jährige
ist eigentlich Allergologe, und erspringt
auch bei den Covid-Patienten ein.
Im Gegensatz zu anderen Spitälern
hat man sich im Princesa frühzeitig auf
die Epidemie eingestellt.Seit Beginn der
Krise werden die zwölf Betten des OP-
Saals zum Beatmen genutzt. Zu Álvaro
DaschnersAufgaben gehört, die Ange-
hörigen derPatienten auf demLaufen-
den zu halten,weil keine Besuche erlaubt
sind. «Das Besuchsverbot traumatisiert
die Menschen, manbraucht sehr viel Ein-
fühlungsvermögen», so Daschner.

Chaos undVerwirru ng
«Wir kämpfen im Gesundheitswesen
derzeit an zweiFronten», sagt Marisol
Castro von der Gewerkschaft Comisio-
nes Obreras de Madrid.Wegen des feh-
lenden Materials in den Spitälern und
den Notaufnahmen steige die Zahl der
Infektionen ständig an. Gleichzeitig ver-
schärfe sich die Ärzteknappheit in vie-
len MadriderVierteln, weil dort die Ge-
sundheitszentren,die sogenannten «Cen-
tros de Atención Primaria», wegen der
An stec kungsgefahr dichtgemacht wur-
den.«Viele Leute, auch solche, die nur
einen normalen Schnupfen haben,kom-
men jetzt in die Notaufnahmen der Spi-
täler und verschlimmern die Überlastung
noch weiter», so die Gewerkschafterin
Castro. Dabei gäbe es sogar noch Medi-

ziner, die zurVerfügung stünden,weil sie
in mittlerweile geschlossenen Zentren
arbeiteten, aber nochkeine neueFunk-
tion zugeteilt erhielten.Das ist nicht zu-
letzt ein Problem fehlenderKooperation
zwischen den Kliniken, die alle mit sich
selbst beschäftigt sind.
«Es herrscht unglaublich vielVerwir-
rung», sagt auch Gabriel delPozo, der
Generalsekretär der Ärztegewerkschaft
CESM, der allein in Madrid 5000 Medi-
ziner angehören. DelPozo ist ebenfalls
Hausarzt, befindet sich aber derzeit in
seiner MadriderWohnung, weil er vom
Virus infiziert wurde. DelPozo sagt, als
die Krise ausbrach, seien die Einkäufe
von Schutzmaterial auf das Ministerium
übertragen worden. Bis dahin kauften
die 18 Regionen in Eigenregie ein. «Bis
die Protokolle im Ministerium standen,
verfloss wertvolle Zeit, daherhaben
wir noch immer nicht genügend Mate-
rial», sagt delPozo. Viele Regionen seien
unterdessen dazu übergegangen,Aus-
rüstung wieder selber zu bestellen. Das
habe zu unnötigerKonkurrenz geführt.
Worunter alle in gleichem Masse lei-
den,sind diefehlenden Mittel im Staats-
budget.Die Gewerkschaften vertreten die
Position,dass sich das Gesundheitssystem
von derFinanzkrise 2008 und den darauf-
folgenden Einsparungen nie erholt habe.
In derTat liegen die Gesundheitsausga-
ben in Spanien zehn Prozent unter dem
EU-Durchschnitt. Bei den Gewerkschaf-
ten glaubt man, dass sich das nunräche.

Ein Versagen auf ganzer Linie


Der Uno-Sicherheitsrat hat es nicht geschafft, die Corona-Krise auf die Agenda zu setzen


FABIAN URECH

Ist die Corona-Krise nur ein böser
Traum? Oder eine weltpolitische Mar-
ginalie?Wer sich das März-Programm
des Uno-Sicherheitsratsanschaut, wähnt
sich in einerParallelwelt.
Syrien, die Friedensmission in
Kongo-Kinshasa, die Menschenrechts-
lage in Kolumbien, Terrorismus in
Afrika:Das Themenspektrum, mit dem
sich derRat zuletzt beschäftigte, war
breit. Dochetwas fehlte auf der Agenda:
Die Coronavirus-Pandemie, die Uno-
Generalsekretär Antonio Guterres als
«grösste Krise seit dem ZweitenWelt-
krieg» bezeichnet, ist im wichtigsten
Gremium derVereinten Nationen bis
heutekein Thema.
Keine Sitzung, keine Erklärung,
schon garkeine Resolution – derRat
schweigt. Inmitten des globalen Sturms
scheint das wichtigste Entscheidungs-
gremium für internationale Sicherheits-
fragen wie vomRadar verschwunden.

AbsurdeBegründungen
Anfang Monat hatte China, das im
März denVorsitz über den Sicherheits-
rat innehatte, an einer Pressekonferenz
verlauten lassen, das Coronavirus falle
nicht unter den «geopolitischen Gel-
tungsbereich», mit dem sich das Gre-
mium beschäftige. «Die Mitglieder des
Sicherheitsrats», fügte ein Sprecher an,
«sehenkeinen Grund zurPanik».
Später scheiterte die Planung eines
Treffens zur Krise an derForderung der
amerikanischenRegierung, in einer all-
fälligen Erklärung explizit auf den chine-
sischenUrsprungdes Virus hinzuweisen.
Präsident DonaldTrump sprach jüngst
immer wieder vom «China-Virus», was
in Peking Empörung auslöste. Letztmals
versuchte das nichtpermanente Sicher-
hei tsratsmitglied Estland letzteWoche
ein Sondertreffen zu erwirken. China
lehnte ab – genauso wieRussland.
In Moskau scheint das Interesse
an einemAustausch zur Krise ähn-
lichgering wie inPeking undWashing-
ton. Nachdem der Sicherheitsrat Mitte
März entschied, künftig virtuell zu ta-
gen,lehnte die russischeRegierungdie
virtuelle Stimmabgabe während fast
zweierWochenab – und verhinderte
so jeglichen formellen Beschluss. Wäh-
rend sich Staats- undRegierungschefs
im Rahmen der G-7, der G-20 und der

EU in den letzten dreiWochen offen-
bar problemlos virtuell austauschen
konnten, führte im Sicherheitsrat ein
penibler Streit um Abstimmungsmoda-
litäten zum totalen Stillstand. Als «völ-
lig chaotisch» bezeichnet Richard Go-
wan, Uno-Experte der International
Crisis Group, im Gespräch mit der
NZZ dasVerhalten des Sicherheitsrats.
«Statt Einheit hat das Gremium Spal-
tung demonstriert.»
Das Nichtstun desRats sticht umso
mehr hervor, als der Uno-Generalse-
kretär Guterres in den letztenWochen
zigmal unterstrich, wie wichtig eine glo-
baleKooperation in der gegenwärti-
gen Situation wäre. Erst am Dienstag
hat er die ungenügende internationale
Zusammenarbeit zum wiederholten
Mal kritisiert. «Ich fordere die Staats-
undRegierungschefs derWelt auf, zu-
sammenzukommen und dringendeine
koordinierte Antwort auf diese glo-
bale Krise zu geben», sagte derPortu-
giese. EineWirkung zeigte sein jüngster
Appell bisher nicht.
Stark ist auch derKontrast zurReak-
tion des Sicherheitsrats auf die Ebola-
Krise inWestafrika vor sechsJahren.
Im September 2014 – beim Stand von
knapp 6000 bestätigten Erkrankungen


  • e rklärte das Gremium in einerReso-
    lu tion denAusbruch zu einer «Bedro-
    hung des internationalenFriedens und
    der Sicherheit» – ein Novum in der Ge-
    schichtederUno. Zudem wurde ein
    Uno-Sonderbeauftragter ernannt sowie
    eineSondermission ins Leben gerufen.
    Viele Länder bestimmten daraufhin na-
    tionaleKoordinatoren zur besseren Ab-
    stimmung ihrer Hilfsmassnahmen.
    Von solchemTun scheint der Sicher-
    heitsrat heute weit entfernt. Eine Über-
    raschung sei dies nicht, sagt Richard
    Gowan. DerRat funktioniere seit lan-
    gem mehr schlecht alsrecht. Gerade
    dasVerhältnis zwischen China und


den USA habe sich in den letztenJah-
ren merklich abgekühlt und verhin-
dere eine bessere Kooperation. «Die
Corona-K rise zeigt nun sehr deutlich
auf, was schon lange im Argen liegt.»

Braucht es einneues Gremium?
Gowan geht dennoch davon aus, dass
derRat irgendwann nicht mehr darum
herumkommen wird, sich zu der Krise
zu äussern. Ein Schulterschluss der
Ratsmitglieder wäre in der jetzigen Si-
tuation aus seiner Sicht insbesondere
symbolisch bedeutsam. «Aus derVer-
gangenheit wissen wir, dass das einen
grossen Einfluss darauf haben kann, wie
wir ein Problem einschätzen», sagt der
Uno-Experte. «Für den globalen Kampf
gegen Coronabedeutete dies eine nicht
zu unterschätzende Energiezufuhr.»
Letztlich geht es für den Sicher-
heitsrat aber auch darum, seine ohne-
hin arg ramponierte Glaubwürdigkeit
nichtweiterzu schädigen. Denn wer
sich bei einer Krise wie der gegenwär-
tigen blind stellt, setzt seine Legitimität
für lange Zeitaufs Spiel.
Bereits heute stellen verschiedene
Experten dieFrage in denRaum, ob
es angesichts derLähmung im Sicher-
heitsrat nicht angezeigt wäre, für die
weltweite Abstimmung der Corona-
Krisen-Massnahmen vorübergehend
ein neues internationales Gremium
zu etablieren.Das Mandat derWelt-
gesundheitsorganisation ist hierfür zu
eingeschränkt; zudem kämpft auch sie
mit Kritik und hat politisch zu wenig
Gewicht. Gowan hält die Idee zumin-
dest für prüfenswert. Er erinnert an die
Finanzkrise von 2009: Damals habe die
Gründung der G-20 mitgeholfen, Inter-
ventionen international besser zu ver-
zahnen.«Vielleicht müssen wir in die-
ser aussergewöhnlichen Situation etwas
Neues denken.»

Generalversammlungversucht einzuspringen


urf.· Über130 Uno-Mitgliedsländer,
unter ihnen die Schweiz und Deutsch-
land, haben der Uno-Generalversamm-
lung eineResolution vorgelegt, die zu
einem solidarischen undkoordinierten
Handeln derWeltgemeinschaft gegen
die Corona-Krise aufruft. Die Uno solle
eineFührungsrolle in der Bekämpfung

der Pandemie einnehmen. DerVorstoss
ist auch alsReaktion auf den Stillstand
im Uno-Sicherheitsrat zu verstehen.
Resolutionen der Generalversamm-
lung haben imVergleich zu solchen des
Sicherheitsrats aber nur empfehlen-
den Charakter und sind völkerrechtlich
nicht bindend.

«to go» überWasser zu halten. Augen-
scheinlich aber oft mit begrenztem Erfolg.
Insgesamt wirkt die Grossstadt in die-
sen Tagen wie inWatte verpackt. Kein
Kl ackern der Schritte aufder Strasse,
gedämpfte Stimmen, Flugzeuge sind nur
noch vereinzelt am Himmel zu hören,
undPolizei-,Feuerwehr- und Sanitäts-

fahrzeuge scheinen nicht mehr so pene-
trant zu heulen.Das täuscht allerdings,
denn siekommen auf den ziemlich lee-
ren Strassen besser durch als früher.
Das kann helfen, Leben zurett en, weil
Kranke schneller zu den Notfallstationen
gelangen. Ganz im Sinne Andrew Cuo-
mos, des heimlichen Stars dieser Krise.

Ein Patient wird zur Notaufnahme desWyckoff Heights Medical Center in NewYorks Stadtteil Brooklyn gebracht. JUS TIN LANE / EPA

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