Frankfurter Allgemeine Zeitung - 06.04.2020

(WallPaper) #1

SEITE 32·MONTAG,6.APRIL 2020 ·NR.82 Sport FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Als derWahlgangzuEndewar und die
Stimmenausgezählt,gabdie National
Football League(NFL) eine gutgelaunte
Depesche an die amerikanischenMedien
heraus. Die American-Football-Profis
hattenbei ihrerUrabstimmungden neu-
en Tarifvertrag akzeptiert und damit den
Grundstein für eine neuePhase im Ge-
schäftsbetrieb der umsatzstärksten Liga
der Welt gesorgt.Das Papierwerdedie
Liga„umformen“und gleichzeitigwegen
seiner ungewöhnlich langenLaufzeit
„fürdie nächstenelf Jahre Arbeitsfrie-
den stiften“.
Der Grund für die frohe Botschaft: Die
Verhandlungsführer derNFL hattenviel
gewonnen,aber dafür nurwenige Zuge-
ständnissegemacht.Von derkommen-
den Saisonanwirdein um zwei auf vier-
zehnTeams aufgestocktesPlay-off-Sche-
ma möglich,genauso wie die Ausdeh-
nung der Saison aufsiebzehn Spiele für
jedeMannschaft .ImGegenzug wirdes
höhereMinimalbezügefür Spieler am un-

terenEnde der Gehaltsskalageben und
einenleichten Anstieg beimVerteilungs-
schlüsselder Gesamteinnahmen. Der
Topf für den Anteil der Profis, ausdem
sich solcheDingewie die Salarycap für
alle 32Teamserrechnen,soll demnächst
auf48Prozentsteigen.
Wasdie Mitteilung nicht verriet, war
die wichtigsteTriebfederdafür, weshalb
die Ligaden neuenVertrag bereitsein
JahrvorTermin unterDachund Fach
bringenwollte: Fürdie anstehendenVer-
handlungen um einenneuenFernsehver-
trag,mitdem man die Lizenzeinnahmen
aufschwindelerregende25Milliarden
Dollar (23,13Milliarden Euro)hochtrei-
benwill,war Stabilität bezogenauf den
entscheidendenKostenfaktorvonessen-
tiellerBedeutung.
Der Friedenkönntetrügerischsein.
Nicht nur zeigte dasVotumvon1019 zu
959, dassnur eine hauchdünne Mehrheit
hinter derVereinbarungund der eigenen
Gewerkschaftsführung steht.Zur Mitte

der Wocheentdeckten die Anwältevon
EricReid, einem der lautstärkstenWider-
sacher,einenkuri osenUnterschied zwi-
schen derFassung, über die die Spieler ab-
gestimmt hatten, und der,die alsverbindli-

cheVersion auf derWebsiteder National
Football League Players Association
(NFLPA) präsentiertwurde. Die Differenz
maggerin gsein und nichtgenügen, um
das 400 Seiten langeAbkommen mit Hilfe
formaljuristischer Einwände zu kippen.

Sie bestärk te jedochden Verdachtall je-
ner,die derAuffassungsind, dassDeMau-
rice Smith, seit 2009 der Geschäftsführer
der Arbeitnehmerorganisation,kein hart-
näckiger undkampfbereiter Gewerkschaft-
ler ist, sondernein Mann,der tr otzaller
Rhetorikein eigenes Spiel spielt, bei dem
die Interessen der LigaamEnde immerge-
winnen.Denn mehreresubstantielleFra-
genkamen wiedereinmal in denVerhand-
lungengar nicht erst auf.Sobleibt die Lauf-
zeit derVerträge vonNFL-Profis mit ihren
Teams imUnterschiedzu anderen ameri-
kanischen Ligen auchweiterhin nichtga-
rantiert.Und das in einerSportart, die die
Gesundheit ihrer Aktivensoverschleißt
wie keine andere. Ein Geist, der sich eben-
falls in einer allzu bescheidenen Altersabsi-
cherung für die zahllosen frühinvaliden
ehemaligen Spieler manifestiert.
Smithkämpft spätestens seit 2016 um
seineReputation, als er esvermied,die Ge-
werkschaftinder Auseinandersetzung
zwischen der Ligaund ColinKaepernick

in Stellung zu bringen. Der Quarterback,
der damals nochbei den SanFrancisco
49ersunterVertrag stand,warmit seinen
stummen ProtestaktionengegenPolizei-
brutalität zur Symbolfigur eines neuen,
selbstbewussten Typs vonProfi geworden.
Er hat jedoch trotzseiner unumstrittenen
Qualitätenseither vonkeinem der 32
Klubs ein Jobangeboterhalten. So sah er
sichgezwungen,ganz allein und ohne jede
Solidarität der Gewerkschaftgegen diese
Form der verkapptenAussperrung juris-
tischvorzugehen. SeinKampfendete in ei-
nemVergleich, über dessen DetailsStill-
schweigenvereinbartwurde.
Traditionellwaren amerikanischeFoot-
ball-ProfisimVergleichzuden streikberei-
tenProtagonisteninanderen Sportarten
schon immer ehervergleichsweise illoyal.
Legendär:die Spieler,die in den achtziger
Jahren alsStreik brecher ihrenKollegen in
den Rücken fielen.Vorzehn Jahren ließen
sichdie Profis unter dem Druckder Liga
einen erhebliches Quantum ihres Einnah-

meanteils wiederwegnehmen: Der sank
von59auf 47 Prozent und ließ sichauf ei-
nenVerlustvon zehn Milliarden Dollar
hochrechnen. Entsprechend stieg der
Marktwertder Klubs. Der für den sechsma-
ligen Super-Bowl-GewinnerNewEngland
Patriotsetwa liegt Schätzungenvon In-
sidernzufolgebei 4,1 Milliarden Dollar.
Die Vergleichszahlvon2010: 1,3 Milliar-
den Dollar (3,79 Milliarden Euro). Eine
Wertsteigerung, vonder Patriots-Profis
nicht profitieren. DiePositionvonReid
undseinen Anwälten isteindeutig: Siever-
lang en, dassdie Urabstimmung über den
neuen Tarifvertrag für ungültig erklärt
wirdund alle Spieler nocheinmal befragt
werden. FürSmithgeht es bei dieserinter-
nen Auseinandersetzung um mehr als nur
darum, sein Gesicht zuwahren.Fürihn
steht der Job auf dem Spiel. EinPosten,
der hervorragend dotiertist.Erverdient
2,3 Millionen Dollar bruttoimJahr (2,12
Millionen Euro). Dreimal so viel wie das
mittlereGehalt eines NFL-Profis.

Einer der
stärksten
Widersacher: Eric
Reid will, dass
die Spieler noch
einmal befragt
werden.
Foto AP

W


ie wirdderFußball der Zu-
kunftaussehen? Der junge
AutorAlfred Behrens hat
ihn skizziert, in seinem
Buch„Die Fernsehliga. Spielberichte
vomFußballgeschäftder Zukunft“. Die
Profi-Ligen sind darinFernseh-Ligenge-
wichen, derenPartien nachausgeklügel-
tenDrehbüchernvonRegiestars wieWim
Wendersinszeniertwerden. Die Klubsge-
hörenFirmen, diePersonal und Imageih-
rerTeams („sexy“, „rauh“)vonAgentu-
renplanen lassen und damit Produktein-
führungen begleiten. Dank der Produk-
tionsmittel einer englischen Brauerei will
der HSVPower PlayHamburgendlich
wieder aus der ZweitenFernseh-Ligaauf-
steigen–letztes Jahr ist man als Dritter
der Schlusstabelle mit insgesamt
58 319 609 eingeschalteten TV-Geräten
um nur 9235 Einschaltungen an derRück-
kehr in die Erstklassigkeit gescheitert.
Dochder Startindie neue Saison hat die
Planungen der Marketingabteilung bisher
erfüllt. Am fünftenSpieltag trifft der HSV
alsTabellenführer auf den 1. FC Hitachi
Kaiserslautern. Am Beispiel dieser brisan-
tenPartie erklärtdie neue Sendereihe
„Hinter derKamera“ den Zuschauern,
wie der moderne Fußball funktioniert.
Wirdrucken den entsprechendenAuszug
aus „DieFernsehliga“, leichtgekürztund
in Groß- und Kleinschreibung überführt,
mit Genehmigung desAutors.

GutenAbend, meine Damen und Her-
ren. Unterdem Titel„Fußball–Hinter
der Kamera“ beginnt dasVierte Deutsche
Fernsehen heute eine neue Sendereihe,
in der wir in lockererFolgeeinen Blick
hinter dieKulissen der Showproduktion
werfen wollen. DasVierte DeutscheFern-
sehenwardabei, als der HSVPower Play
Hamburgund der 1. FC HitachiKaisers-
lauternvor 14TagenimVolksparkstudio
ihr großes Spiel abdrehten.
Mittwoch, 12 Uhr 24. Bis zur Mittags-
pausewollen dieTeams nochSequenz 15
fertigmachen, die letzten drei Minuten
vorder Halbzeit, an denen sie jetzt schon
länger als eineStunde arbeiten. Während
die beiden Dramaturgenund die beiden
Trainer mit den Akteuren erneut das
Drehbuchdurchsprechen und zum elften
oder zwölftenMal den Spielablauf pro-
ben, erörtern die Regisseurenocheinmal
Einzelheiten der Sequenz mit denKame-
raleuten.
12 Uhr 39.Nachweiteren 15 Minuten
Vorbereitungwollen MikeMeissner und
Ulf Lehmann die endgültigeFassungvon
Sequenz 15versuchen.
„Sequenz 15, Einstellung 151, die sieb-
te!“
Hier auf dem Mischpult, meine Damen
und Herren, laufen auf drei Monitoren
die Bilder derKameras 1,3und 4auf, die
aus verschiedenenPerspektiven zeigen,
wie Hitachi-TorwartMetzler den Ab-
schlag ausführt, mit dem Sequenz 15 be-
ginnen soll. MikeMeissner und Ulf Leh-
mann entscheiden sichfür die hinter dem
Torvon Metzler postierte Kamera 1, die
denKeeper am schönstenvor die Linse
bekommen hat.Aufder Höhe der Mittel-
liniekommt der Ball auf den Halbrechten
Wehmüller,Kamera2–hier haben wir
sie kur zimBild –zeigt in der Halbtotale
die Situation im Mittelfeld, engeMann-
deckung, keiner steht frei.
Kamera3bieteteine halbnahe Einstel-
lung des Halbrechten an, derversucht ein
kur zes Dribbling, scheitertaber an dem
aufmerksamenNachtweyh, der allerdings
Schwierigkeiten zeigt, den Ballunter Kon-
trolle zu bringen.Wehmüller setzt nach,
auf dem Monitor sehen Sie das Bildange-
botvon Kamera 5, die jetztganz kurz in
der Supergroßaufnahme sein Gesicht
zeigt, an dem endlichdeutlichabzulesen
ist–Wehmüller gilt nichtgerade als einer
der talentiertesten Großaufnahmen-Ak-
teureinder TV-Liga–,wie verbissen, mit
wie viel Ehrgeiz und Einsatz der Mann
aus dem Betzenberg-Studio sichhier in
Szene setzt, um seinenFehler wiedergut-
zumachen. Dasgelingt, er bringt sicher-
neut in Ballbesitz und spielt ab zu Drago-
mir Jelic.
„Abbrechen, abbrechen!“–Das is tdie
StimmevonMikeMeissner,meine Da-
men und Herren. Er gibt den Spielern
über die LautsprecheranlageAnweisun-
gen, sichschon auf einFreistoß-Foul in
der drittnächstenEinstellungvorzuberei-

ten. Diese und die beiden nächstenShots
will man sichimRegieraum aus den ers-
tensechsFassungen zusammenbauen.
Die Spieler legen eine Zigarettenpause
ein, auf dem Mischpult laufen jetzt die Bil-
der vonTake3auf. Dragomir Jelickommt
nachoben in denRegieraum und sieht zu,
wie Kamera8bei diesem langenTravel-
ling jeder seiner Bewegungenfolgte,förm-
lichanihm kleben blieb,während er sich
im Slalom zwischen zwei HSVlerndurch-
wand, die immer wieder angriffen. Ulf
Lehmann schlägtvor, hier eineÜberblen-
dung zuversuchen.
Aufden Monitoren des Mischpults –
hier haben wir sie erneut im Bild, liebe
Fußballfreunde–werden jetzt Schuss-Ge-
genschuss-Großaufnahmen sichtbar,die
abwechselnd den Angreifer Jelic und sei-
nen jeweiligen Gegenspieler zeigen, An-
sätze zuKörpertäuschungen,Reaktionen
darauf, Bewegungen, Gegenbewegungen,
Dribblingàlacarte.Diese beiden Infor-
mationen,dielangeFahraufnahmeund
die Schuss-Gegenschuss-Bilder legen
Meissner und Lehmann jetzt in einer raffi-
niertenÜberblendung übereinander,wo-
bei sie zwischendurch zusätzlichnoch
eine dritteInformation einmischen, eine
SupergroßaufnahmevonKamera5.Hier
istsie, sie zeigtganz deutlich, wie eng Je-
lic bei diesenKunststücken den Ball am
Fuß führ t. So kommt die absoluteBallbe-
herrschung, die Artistik dieses Supertech-
nikersvoll zur Geltung.
Die beidennächstenEinstellungen neh-
men Lehmann und Meissner ausTake 2

und ausTake 4. In der zweitenFassung
hat Jelic sichambestendurchgesetzt,
PowerPlay-LiberoBernd Hübschmuss
eingreifen, um zuverhindern, dassder
Mann aus Dubrovnik ungestört zu einem
Schussaus der zweitenReihe ansetzen
kann. Aber damitsteht dieAbwehr des
HSVPowerPlayHamburggefährlichof-
fen. Dragomir Jelic hat drei Leuteauf sich
gezogen. Der Hitachi-Linksaußen Horst
Sanderssieht dieLückeund startet–hier
schneidetdie Cutterin jetzt auf die vierte
Fassung, in der er viel mehrTempodrauf
hat –nachinnen, dakommt dasZuspiel
vonJelic. Sandersgehtauf und davon, vor-
bei anZellermeyer, jetzt brennt es lichter-
loh vordem HamburgerStrafraum,Peter
Selinger zieht dieNotbremse.
Ja, Sie sehen es selbst, meine Damen
und Herren, dieses Foul stimmt noch
nicht, da mussnocheinmal neu angesetzt
werden, dergelegteSandersbringt ein-
fach nicht genug Schmerzein in diese
Großaufnahme seines Gesichts.Nun, das
istkein Problem für zwei so ausgebuffte
Regisseurewie MikeMeissner und Ulf
Lehmann. Sie machen hier einfacheinen
Schnitt und mischen ein schmerzverzerr-
tesGesichtvomBildgeber ein. Dieses Ge-
sicht gehörteinem Stuntman. Hier
kommt diefertigeMontage. Hätten Sie es
gemerkt, liebe Fußballfreunde? Raff i-
niertgemacht, nichtwahr?
Als nächstesist jetzt derFreistoßabzu-
drehen. Er soll alsganz spektakuläres
„Wembley-Tor“ kommen, also erst gegen
die Unterkanteder Lattegehen,vonda

auf bzw.kurzhinter die Linie und zurück
ins Feld springen. Derartigkomplizierte
Einstellungenkann man natürlichnicht
im Studio produzieren, daskönnteTage
dauern. Sowaswirdals fertigesVorpro-
dukt inForm vonsendereifen MAZ-Bän-
dernbeiSpezialfirmengekauft,vonde-
nen die „Günter Netzer-Agentur für
Traumpässe–Freistöße –Eckbälle“wohl
die renommiertesteist.
Freistoßalso für den1.FCHitachiKai-
serslautern, Entfernung zumToretwa20
Meter.Die Spielerwerfen ihreZigar etten
auf die Aschenbahn, die denStudiorasen
einr ahmt, und machen sich zur Aufnah-
me fertig. Kamera3zeig timWeichzeich-
ner,ineinergesofteten Einstellung,bei
der vorm Objektiv eine Glasscheibe mit
feinenRillen liegt,ganz groß denFrei-
stoßspezialisten LotharWehmüller,der
sichden Ball zurechtlegt.Rechtsvonihm
sehen Sie DragomirJelic ,der sich in aller
Ruhe die Schnürsenkel bindet.Wehmül-
ler läuft an, er läuftamBall vorbei, Jelic
springt plötzlichauf und setzt das Leder
einen knappen Meter über denKasten.
Das macht nichts, da wirdjetzt einfach
geschnitten,vonJelic bleibt nur derkur-
ze AnlaufimBand drin. Hier sehen Sie
es,die Cutterin schneidetauf den Ball
und klebt dasNetzer-Band an. Das ist
Maßarbeit!
In derWiederholung, die zeigen soll,
ob der Schiedsrichterrechthattemit sei-
ner Tor-Entscheidung, machen Meissner
und Lehmann sichdie Vorteile des neuen
Plexi-Strafraums zunutze. Sie mischen

einekurzeEinstellung ein, in der ein Ball
dicht hinter derTorlinie aufspringt und
dabeivoneiner der beidenUnterflurka-
meras aufgenommen wird. Damit istkein
Zweifel mehr möglich,Tor!
1:1, vonder Dramaturgie her istdas zu
diesemZeitpunkt,kur zvor demHalbzeit-
pfiff, eine außerordentlichgut gescriptete
Überraschung. In der nächstenEinstel-
lung, für diegerade die Klappegefallen
ist, führen Opote und Heun den Anstoß
aus. Sandersgeht dazwischen, erkämpft
sichden Ball, jetztkommen sie, die Japa-
ner aus der Pfalz, sehen Sie nur,wie sie
jetztfighten, jetztwollen sie es wissen,
nun haben sie Blutgeleckt.Sandersgibt
ab zu Jelic, der schlägt einen mustergülti-
genlangenPass nachvornauf denrech-
tenFlügel,wo Außenstürmer Schöpkebe-
reits gestartetist,der Ballkommt direkt
in den Lauf. Diese schwierigePassage
klapptdiesmal, beim fünftenVersuch,
ganz großartig. Schöpkeüberspielt den
ersten kraftlosenPowerPlayer, den zwei-
ten, Zellermeyerkanngerade nochzur
Ecke klären. Damit istwieder eine Ein-
stellung imKasten.
Dienächs te wird aus Take 2, 4und 5zu-
sammengestückelt.Daist die Cutterin
schonfertig,so flink geht das, hier dasfer-
tigeMAZ-Band, schauen wir es uns an,
meine Damen und Herren. Der Eckball
senkt sichweich herein, dieTorkamera
schwenkt nachoben in die tiefstehende
Sonne, aus der das Leder auf den blonden
SchopfvonLothar Wehmüllerkommt.
Um den herum blitzen lauter erstklassige

Solarisationseffekte auf. Andersals die
Kamera hatTorwartVogt keinen Schutz-
filter vorden Augen, er istgeblendetund
machtlos, wie eine überreifeFruchtlan-
detder Ball hinter ihm imNetz. 1:2, die
Unterflurkameras zeigenTommyVogt ge-
schlagen auf dem Boden.
Damit istSequenz 15 so gut wiefertig.
DieRegisseureschlagen den Akteuren
vor, ein kleines Live-Spielchen zu ma-
chen, während man imRegieraum die ers-
te Halbzeit mit ein paar letzten Schnitten
sendefertig macht.Angehängtwerden an
das 1:2 müssen nochder Mittelanstoß
und der direkt darauffolgende Halbzeit-
pfif fdes Schiedsrichters, die beide bereits
am Montag abgedreht wurden. Während
die zweiteCutterin, die wir hier im Bild
haben, auf dem BandvonTake4noch die
Einstellung sucht, in der diePowerPlay-
ersauf demWegindie Kabinen dieVer-
wirrung des Favoritenschauspielern,
dem nachdiesen beidenkaltblütigenKon-
tern das blankeEntsetzen ins Gesichtge-
schriebensteht, schwenkt unsereKamera
jetzt wieder aufsSpielfeld.
Unddazeigen die Gesichter der Spie-
ler beiderTeams, Sie sehen es so gut wie
ich, liebeFußballfreunde, eitelFreude.
Sie spielen das alte, freie Spiel, bei abge-
schaltetenKameras. Das hält sie immer
wieder bei Laune, das beugt Arbeitskon-
flikten und psychischenStörungenvor.
Deshalb gibt jeder erfahreneRegisseur
seinen Akteuren so oftwie möglichGele-
genheit, sichauszutoben, um damit die
frustrierendeAufsplitterung der Spielar-
beit in non-chronologische einzelnekur-
ze Aufnahme-Takessoweit wie möglich
auszugleichen.
So, zum Schlussnochein Schwenk aufs
Bildmischpult. Dakommen wirgerade
richtig, meine Damen und Herren. Über-
glücklichgehen die GelbenTeufelvom
Betzenberg–an die alten Klubfarben erin-
nertnur nochdas Rotder nieversinken-
den Sonne Nipponsvorn auf denTrikots
–indie Kabinen. Sie sehen es: An diesem
bereits gesternaufgenommenen Glück
stimmt jede Miene, jede kleinste Geste.
Diese Bilder drückenetwas aus, sie sagen:
„Die Siegesserie des hochfavorisierten
HSV,der in den erstenvier Produktionen
nochkeine Niederlagehat hinnehmen
müssen und der mit einem knappenVor-
sprungvon32 000 eingeschaltetenGerä-
tenander Spitze derTabellesteht, ist
ernsthaftinGefahr!“
So hält man seineZuschauer bei der
Stange, meine Damen und Herren. Im
zweiten Durchgang wirdder HSVnatür-
lich noch4:2 gewinnen, aber mit sensatio-
nellen Zwischenergebnissen wie diesem
1:2 verhindertman, dassdas Publikum in
der Halbzeit abwandertauf einen ande-
renKanal. Das sind die großartigen
Tricks,die sichdie Dramaturgender Fern-
sehliga immer wiederfür uns einfallen las-
sen, liebeFußballfreunde, undvondiesen
Tricks haben wir Ihnenheuteeinigeweni-
ge gezeigt.Wir hoffen, es hat Ihnen Spaß
gemacht!Undganzbesondersfreuenwür-
den wir uns natürlich,wenn Sie das nächs-
te Mal wieder mit dabeiwärenbei „Fuß-
ball –hinter derKamera!“

„DieFernsehliga“, dasist keine Moment-
aufnahmedesFrühjahrs2020,indem
der deutsche Profifußball seine Chance
aufsÜberlebeninder Corona-Krise in
derReduktion auf einreinesTV-Produkt
sieht. Das Buch, eine Collagevon schein-
bar dokumentarischen und journalisti-
schenTexten, erschien 1974,kurzvorder
WM in Deutschland. Behrens, heute75,
wurde später Professor an derFilmuni-
versität Babelsbergund mehrfachpreisge-
krönterAutorvonmehr als siebzig Hör-
spielen (darunter„You’ll neverwalk alo-
ne–EuropäischeStadionsounds“, eine
dreistündige„Originalton-Kantate“) so-
wie 15 Dokumentarfilmen (darunter das
für den Grimme-Preis nominierte „Spiel
ohne Ball“, gewidmet seinemBruder
Arno, der ihnals kleinenJungen unter
dem Ledermantel insStadionvonAltona
93 schmuggelte). Schon 2006, als die WM
nachDeutschland zurückkehrte, sah er
seine Satirein vieler Hinsichtvon der
Realität eingeholt–etwabei den digital
zugespitzten KunststückchenRonal-
dinhos in einem aufsehenerregenden
„Nike“-Werbespot, dieauchdie „Günter
Netzer-Agentur fürTraumpässe–Freistö-
ße–Eckbälle“nicht besser hinbekom-
men hätte. DasFazitvonBehrens: „Ich
bin selbstüberrascht, wieviel davon
wahrgeworden ist“. (cei.)

Die Fernsehliga

DasMilliarden-Spiel


Die NFLverabschiedeteinen neuenTarifvertrag–dochdie Profis profitieren amwenigstenvom boomenden Geschäft/ VonJürgenKalwa,NewYork


Wenn dieWahrheitnicht aufdem Platz,sondern im TV-Studio liegt:


DerAutor AlfredBehrens hat im Jahr1974 aufgeschrieben,


wie dasFußballgeschäftder Zukunftaussehenkönnte. EineSatire,


die in vieler Hinsichtvonder Realitäteingeholt wurde.

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